Vom Schatten zur Stärke

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Essay
Published On:

January 14, 2014

Featuring:
Bettina Alberti
Prof. Dr. Barbara von Meibom
Sabina Bode
Categories of Inquiry:
Tags
Issue:
Ausgabe 01 / 2014
|
January 2014
Das neue Interesse an Politik
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

In den letzten Jahren ist in Deutschland endlich ein neues Kapitel in der Bearbeitung der dunklen Vergangenheit des zweiten Weltkrieges aufgeschlagen worden. Mit ihrem Buch Die vergessene Generation lenkte Sabine Bode die Aufmerksamkeit auf das unbeachtete Leiden der Kriegskinder. Weitere Veröffentlichungen folgten. Das Buch von Bettina Alberti Seelische Trümmer: Geboren in den 50er und 60er Jahren. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas und das jüngste Buch von Barbara v. Meibom Deutschlands Chance. Mit dem Schatten versöhnen stehen für diese neue Phase.
Wie kein anderes Land haben sich Menschen in Deutschland mit ihrer Kriegsschuld auseinandergesetzt, mutig die schrecklichen Taten benannt, in vielen Filmen über den Holocaust in aufwühlenden, herzzerbrechenden Bildern berichtet und in denkwürdigen Ausstellungen wie beispielsweise „Die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht“ dokumentiert. In dieser Phase der Bearbeitung wurden viele Workshops und Retreats durchgeführt, in denen Deutsche die kollektive Schuld angenommen und ihre bittende Hand Menschen jüdischen Glaubens zur Versöhnung entgegengestreckt haben. Eindrückliche Gedenkstätten wurden errichtet, um an die Gedemütigten und Ermordeten zu erinnern, auf dass sich diese furchtbare Geschichte nie mehr wiederholen möge. Am eindrücklichsten ist für mich das Holocaust Mahnmal im Herzen von Berlin, in der Nähe des Brandenburger Tors und in Sichtweite des Reichstagsgebäudes. Welches Land leistet sich in seiner Hauptstadt und dazu noch im Regierungsbezirk ein Mahnmal, das an eine Kriegsschuld erinnert? In anderen Hauptstädten der Welt stehen häufig an dieser Stelle Denkmäler in Erinnerung an die Heldentaten gefallener Soldaten.

Eine neue Kraft der Verantwortung keimt in diesem Heilungsprozess auf.


Seit vielen Jahren leite ich Kurse zum Thema „Von der Kernverletzung zur Kernkompetenz“. In den stürmischen Übergangskrisen von einer hierarchischen zu einer kollegialen Leitungsform und -kultur entdeckte Pia Gyger ein Grundmuster, das sowohl für den individuellen wie auch kollektiven Entwicklungsweg Gültigkeit hat. In der Kindheit entwickeln wir eine Schutzmauer um unsere tiefsten Verletzungen und schneiden uns in der Konsequenz immer mehr von unserer inneren Mitte ab. Diese Schutzmauer wird im Erwachsenenalter zum Kernschatten. Wird er nicht erkannt und bearbeitet, so hat die darin gebundene schöpferische Energie die Tendenz, ähnliche Konstellationen zu schaffen, doch dieses Mal mit anderem Vorzeichen: Das, woran wir gelitten haben, tun wir nun anderen an.
Ein zentraler Schritt in der Heilung der Verletzung besteht darin, dass wir mitfühlenden Zugang finden zum verletzten Kind in uns, seinem Schmerz, seiner Angst, seiner Einsamkeit, seiner Wut und diesem Raum geben. Die Transformation des Schattens fordert von uns einen weiteren mutigen Schritt, nämlich die emanzipatorische Erkenntnis, dass wir im Erwachsenenalter vom Opfer zum Täter geworden sind. Zur Heilung und Ganzwerdung gehört deshalb auch notwendig die Fähigkeit des Verzeihens und Versöhnens mit uns selber und den Menschen, die an uns „damals“ schuldig geworden sind. Auf diesem Weg wird der Zugang zur eigenen personalen Mitte befreit, unsere einzigartige Kernkompetenz entwickelt sich. Der Mensch beginnt von innen her zu strahlen. Er wird als machtvoll erlebt, hat er doch zur Seinsmacht in sich gefunden.
Wie gesagt, was für das Individuum gilt, trifft ebenso auf das Kollektiv zu. In Deutschland stand in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg die Bearbeitung der kollektiven Schuld im Mittelpunkt. Die Emanzipation zum Täter-Sein wurde Schritt für Schritt vollzogen. Die eigenen Leiden am Krieg und seinen verheerenden Folgen durften nicht benannt, schon gar nicht betrauert werden. Es galt: wer in einem solchen Maß schuldig geworden ist, ist selber schuld am eigenen Leiden. Inzwischen sind diese Sprachlosigkeit und das stumme Leiden mutig aufgenommen worden. Nicht mehr nur Schuld und Scham, sondern auch Schmerz und Kummer über die eigenen Kriegswunden dürfen ins Bewusstsein kommen. Eine neue Kraft der Verantwortung keimt in diesem Heilungsprozess auf. Sie ist not-wendend. Aus ihr entsteht die Kernkompetenz, das Projekt „Europa“, das von den Gründern als Friedensprojekt injiziert wurde, durch die aktuelle Krise zu führen.

Author:
Dr. Anna Gamma
Share this article: