Ein kurze Geschichte der Emotionen
Kaum etwas ist für uns persönlicher als unsere Gefühle. Aus dem Erkennen ihrer Ursprünge und ihrer Verbundenheit mit unserem Denken und Handeln erwächst ein Moment der Freiheit und Gestaltungskraft in der Welt. evolve-Redakteurin Nadja Rosmann erkundet in einer kleinen Geschichte der Gefühlsevolution, wie wir unseren Emotionen bewusst eine Richtung geben können.
„Ich hab’ in meinem Leben die dringende Begierde und das heiße sehnliche Verlangen nicht in dieser Reinheit gesehen ... Was soll diese tobende endlose Leidenschaft? ... Ich möchte mir oft die Brust zerreißen und das Gehirn einstoßen ... Ach die Liebe, Freude, Wärme und Wonne ...“ Wohl kaum ein Werk der Weltliteratur illustriert die existenzielle Macht der Gefühle, den Rausch der Empfindsamkeit in einer solchen Intensität wie Goethes Werther. Sein Entstehungs- und Wirkungskontext kann uns den Zugang zu zwei wesentlichen Dimensionen ebnen, die für unser heutiges Verständnis von Gefühlen als Ausdruck menschlicher Lebendigkeit zentral sein dürften – und vor dem Hintergrund aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse neue Erklärungskraft entfalten.
Von der kreativen Spannung zwischen Gefühl und Verstand ...
Für Goethe war der objektivierende Prozess des Schreibens ein emotionaler Befreiungsschlag, um den eigenen „hypochondrischen Fratzen“ zu entkommen. So resümiert er in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit: „Ich hatte mich durch diese Komposition aus einem stürmischen Elemente gerettet, auf dem ich durch eigne und fremde Schuld, durch zufällige und gewählte Lebensweise auf die gewaltsamste Art hin und wider getrieben worden.“ Indem er seine innere Befindlichkeit an einem Außen bricht, verliert sein Gefühlsleben die zuvor überwältigende Dringlichkeit. Was Goethe intuitiv als Prinzip erkannte, wird heute vor allem durch die Neurowissenschaften bestätigt. Unsere Emotionen sind wahrscheinlich, wenngleich sich dies in unserer Innenwahrnehmung bisweilen so anfühlen mag, keine Wirkkräfte, deren Stürmen wir nur ausgeliefert sind, sondern gewinnen in der Brechung am Verstand eine Art der Gestaltbarkeit.
... zum Ringen des fühlenden Ichs mit der Welt
Wo das Schreiben des Werther für Goethe zu einem Akt der Emanzipation gegenüber dem eigenen Gefühlsüberschwang wurde, entfaltete das Werk unter seinen Zeitgenossen indes die gegenteilige Wirkung. Der unaufhaltsame Siegeszug der Aufklärung mit seinem Primat von Vernunft und Verstand hatte bereits eine neue Generation der „jungen Wilden“ des Sturm und Drang auf den Plan gerufen, die dem rationalen Paradigma mit einer Entfesselung der Gefühle begegnete – und im Werther ihren Helden erkannte. Für sie war Werthers Tragik die zwangsläufige Folge der Starrheit bürgerlicher Lebensformen und gesellschaftlicher Etikette, gegen die es aufzubegehren galt. Diese Wechselseitigkeit zwischen innerer, persönlicher Gefühlswelt und äußerem, gesellschaftlich-kulturellem Raum findet heute in der Wissenschaft unter dem Dach der so genannten „Affect Studies“ neue Erkundungsformen, die zunehmend deutlicher werden lassen, dass unsere Gefühle nie allein nur Ausdruck unserer ganz subjektiven Befindlichkeit sind, sondern immer auch in der Reibung und Auseinandersetzung mit objektiv-strukturellen Gegebenheiten entstehen und ihre Bedeutung erlangen.
Wo Denken, Fühlen, Ich und Welt einander berühren, wird Bewegung möglich.
Doch was bedeuten diese beiden Perspektiven für unsere Selbstwahrnehmung als fühlende Subjekte, für die Entfaltung unseres persönlichen und gestalterischen Potentials?
Freiheit beginnt im „Dazwischen“
Letztlich sind unser Fühlen und Denken immer in einer Art Yin-Yang-Bewegung miteinander verbunden. Schon Nietzsche bemerkte: „Hinter den Gefühlen stehen Urteile und Wertschätzungen.“ Ob wir etwas als gut oder schlecht erfahren, hängt nicht allein von der Emotion ab, die sich in uns zeigt, sondern ist nicht unwesentlich von unserer kognitiven Einordnung derselben bestimmt. Der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio etwa beschreibt Gefühle als Abfolge eines „geistigen Bewertungsprozesses“ und einer „dispositionellen Reaktion“ darauf. Zwar haben unsere gefühlsmäßigen Erfahrungen, die im Gehirn in einem emotionalen Gedächtnis gespeichert werden, Einfluss auf diese Prozesse, doch verfügen wir auch über die Fähigkeit, die in uns aufsteigenden Einschätzungen sowie die daraus resultierenden Handlungsimpulse zu betrachten, bewusst zu reflektieren und schließlich in einer Art und Weise zu agieren, die dem, was wir als gestalterischen Impuls in die Welt tragen möchten, entspricht.
In der Meditation beispielsweise können wir erfahren, wie die unterschiedlichsten Gefühle in uns aufsteigen (und auch wieder entschwinden), ohne dass wir reflexhaft auf sie reagieren müssten. Im „Dazwischen“ von Reiz und Reaktion konstituiert sich letztlich unsere Autonomie. Mit Blick auf Werthers Schicksal kann das heißen: Eine unerwiderte Liebe mag suizidale Neigungen forcieren, wenn ihre Erfüllung zum einzigen und absoluten Ziel eines Lebens wird. Ein solcher Zusammenhang ist subjektiv wie logisch kohärent, aber nicht unausweichlich.
Wie aus Gefühlen emotionale Bezogenheit wird
Der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin zeigt in seiner kulturgeschichtlichen Abhandlung über Die empathische Zivilisation, dass es gerade die Entfaltung unseres Gefühlslebens ist, die unsere Verbundenheit mit der Welt und unseren Wunsch, diese zu gestalten, intensivieren kann. Am Beispiel der Empathie illustriert Rifkin, wie im Zuge der zivilisatorischen Entwicklung das sich formende Ich seine Gefühle immer stärker differenziert und den Radius derer, auf die es sie konstruktiv bezieht, stetig erweitert. In der magischen Welt der Jäger und Sammler kann man von einem Ich im heutigen Sinne noch nicht sprechen – das Emotionsrepertoire beruhte vordergründig auf Affekten und Trieben und zwischenmenschliche Beziehungen folgten einer unreflektierten Impulsivität, die sich auf diejenigen bezog, die in räumlicher Nähe waren. Ackerbau, Viehzucht und Sesshaftigkeit, erste urbane Lebensformen, die Entstehung der Weltreligionen, später dann das Erwachsen der Nationalstaaten und die durch die industrielle Revolution entstehende Arbeitswelt ließen neue kulturelle Strukturen und Bezugssysteme emergieren, die immer größere soziale Gemeinschaften stifteten. Aus dem diffusen Herdentrieb der Stammesgesellschaften erwuchs über die Jahrtausende die Fähigkeit, immer mehr Menschen, von den Nächsten über Nachbarn bis hin zu fremden Nationen in die eigenen Gefühlswelten einzuschließen. In diesem Sinne könnte man Empathie auch als den positiven Gegenpol zu Werthers insbesondere auf sich selbst bezogenen emotionalen Befindlichkeit verstehen.
„Das Maß unserer empathischen Teilnahme bestimmt das Maß, in dem wir die Wirklichkeit begreifen.“
Jeremy Rifkin
In diesen Entfaltungsprozess fließen immer auch gesellschaftliche und soziale Bezüge ein. Ein reifendes Verständnis von Verbindlichkeit, Ethik und Moral, an dem sich die „jungen Wilden“ des Sturm und Drang so rieben, kann den Boden bereiten für ein grundsätzliches Wohlwollen gegenüber anderen, selbst wenn man sie kaum kennt. Die Entwicklung des Justizwesens und der Bürokratie beispielsweise schuf in der Gesellschaft einen ordnungsstiftenden Rahmen, der im menschlichen Innenraum die Fähigkeit, anderen zu vertrauen, förderte. Das Erstarken der Psychologie wiederum ließ uns erkennen, dass Freude und Schmerz nicht nur in uns selbst pulsieren, sondern andere Glück und Qual ganz ähnlich empfinden. Und gerade die Wahrnehmung dieser grundsätzlichen Ähnlichkeit schafft die Möglichkeit, uns emotional mit Mitmenschen zu verbinden, unsere Gefühle nicht als rein persönliche Eigenheit zu sehen, sondern ihre einende Kraft zu erkennen und zu leben. Für Rifkin ist dies die Schwelle, an der aus der Freiheit von Zwängen eine Freiheit für ein Miteinander wird: „Wir sind nur dann wirklich frei, wenn wir uns füreinander öffnen und uns in unserem Streben nach einem glücklichen und erfüllten Leben zusammentun. ... Je stärker wir aufeinander eingehen, umso reicher ist die Wirklichkeit, in der wir leben. Das Maß unserer empathischen Teilnahme bestimmt das Maß, in dem wir die Wirklichkeit begreifen.“
Der Geschmack des Einen
Ein nüchterner Blick auf die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts macht wundern, warum Kriege, Betrug und Selbstherrlichkeit bei aller empathischen Entfaltung nach wie vor zentrale Paradigmen des Zusammenlebens zu sein scheinen. Ein Grund für die Divergenz zwischen Rifkins leidenschaftlicher Proklamation und der Welt, wie sie ist, mag darin liegen, dass die von ihm beschriebenen emotionalen Entwicklungsprozesse sich wenn nicht gänzlich unbewusst, so doch häufig weitgehend unreflektiert vollziehen. Der Siegeszug der postmodernen Innerlichkeit seit den 1960er Jahren hat zwar zu einer nie dagewesenen emotionalen Vielschichtigkeit geführt, die jedoch gerne in Wertherscher Selbstbezogenheit gipfelt. Wo die Erkundung von Emotionen hauptsächlich zur Verbesserung des persönlichen Wohlbefindens betrieben wird, sind wir uns zwar unserer eigenen Gefühle bewusst, nicht jedoch der Bedeutung, die diese im Weltprozess haben können.
Damit würde der Schlüssel zur Freiheit im Sinne Rifkins in unserer wachsenden Bewusstheit über diese Prozesse liegen und in unserer Fähigkeit, den Brückenschlag zwischen Innenraum und Außenwelt gezielt zu vollziehen. Die Meditationsforschung zeigt, wie sich durch Achtsamkeitspraxis der Wahrnehmungsradius des Bewusstseins weitet und sich eine überpersönliche Zusammengehörigkeit kultivieren lässt. Auf eine Phase objektivierender Klarheit und Wachheit, die unseren Gefühlen die ich bezogene Dringlichkeit nimmt, kann ein Bewusstseinszustand folgen, in dem sich Eigenschaften wie Verbundenheit und Hingabe entfalten. Langjährigen Meditierenden mag es sogar gelingen, die Schwelle zur Non-Dualität zu überschreiten und eine Grenzenlosigkeit, ein Einssein mit allem zu erfahren. Diese Einheitserfahrung kann einen Geschmack vermitteln, dass es letztlich zwischen uns, unseren Gefühlen, anderen Menschen und deren Gefühlen natürlicherweise gar keine Trennung gibt.
Dem Fühlen Richtung geben
Bei aller Erhabenheit, die mit dieser Wahrnehmung einhergehen kann, sollten wir uns jedoch auch gewahr sein, dass diese Zustandserfahrung an sich keine „wirkliche“ Bedeutung hat, solange wir ihr nicht in der äußeren Wirklichkeit eine verleihen. Und dass wir nicht auf diese Erfahrung angewiesen sind, um unsere Gefühlsgrenzen durchlässiger werden zu lassen. Die Praxis der Metta-Meditation, die in der buddhistischen Tradition entstanden ist, beispielsweise kann den Weg dafür ebnen. Mit dem innerlich rezitierten Mantra „Möge ich glücklich sein“ können wir unsere eigene emotionale Befindlichkeit klären. Indem wir diesen Wunsch auf Menschen, die uns nahe stehen, später auch auf jene, gegenüber denen wir vielleicht Ablehnung empfinden, beziehen, und den Prozess schließlich in der Sentenz „Mögen alle lebenden Wesen glücklich sein“ gipfeln lassen, könne wir den Radius unserer Empathiefähigkeit stetig und vor allem bewusst erweitern.
„Wir können durch Geistestraining einen emotionalen Stil entwickeln, mit dem es sich leichter leben lässt.“
Richard Davidson
Einen modernen Zugangsweg zur Gefühlskultivierung entwickelte der amerikanische Meditationsforscher Richard Davidson. Der materialistischen Perspektive der Neurowissenschaften folgend, leitete er aus den Gehirnregionen, die als Entstehungsorte von Gefühlen gelten, sechs „emotionale Stile“ ab, darunter Selbstwahrnehmung und soziale Intuition. Die individuelle Ausprägung dieser Gefühlsmuster lässt sich via Computertomographie und mit Fragebogentests messen – und durch an NLP und Verhaltenstherapie erinnernde Übungen verändern. Davidsons Fazit: „Wir können durch Geistestraining einen emotionalen Stil entwickeln, mit dem es sich leichter leben lässt.“ Je nach persönlicher Motivation mag dies zu schlichter Selbstoptimierung führen, kann aber auch einen Wachstumsprozess fördern, der für eine Freiheit für etwas Größeres und in etwas Größerem als dem eigenen Gefühlsraum öffnet.
Welchen Weg wir einschlagen, bestimmt letztlich unsere tiefere Haltung zum Leben, die kein Fixpunkt ist, sondern bestenfalls ein lebendiger Prozess. Wo Denken, Fühlen, Ich und Welt einander berühren, wird Bewegung möglich. Dann belassen wir es nicht bei Werthers kläglichem „Ich weiß nicht, was ich soll“ und entsagen dem Leben, sondern sind inspiriert, es in den Dienst der Intelligenz zu stellen, „die sich in der Harmonie von Verstand, Gefühl und Handeln manifestiert, die nicht voneinander getrennt sind“, wie sie Krishnamurti erkannte.