Zum Buch »Den eigenen Platz im Ganzen finden« von Anna Gamma
Dieses Buch ist ein Kaleidoskop oder eine multiperspektivische Aussichtsplattform. Besichtigt werden kann dort – eben multiperspektivisch – mehreres. Es ist eine Hommage an die vor drei Jahren verstorbene Zen-Lehrerin und Wegbegleiterin der Autorin, Pia Gyger, auf deren Ideen, unveröffentlichte und veröffentlichte Texte der erste Teil des Buches zurückgeht. Diese Hommage durchzieht das Buch und ist gleichsam die Hintergrundfolie. Die konzeptuelle Erläuterung zweier Modelle, mit denen man viele Prozesse verstehen und mit denen man sowohl privat als auch in Gruppen arbeiten kann, bildet den Blickfang. Es handelt sich um die von Pia Gyger entwickelten und publizierten »Zehn evolutiven Prinzipien« und um das Coachingmodell, das aus dem Lassalle-Institut hervorgegangen ist. Dieses Institut hat Anna Gamma lange geleitet und das Modell mit Pia Gyger und Niklaus Brantschen entwickelt, das »Lassalle-Institut-Modell – LIM«. Die Ausführungen sind gerahmt von Texten anderer Autoren, die darstellen, wie sie das eine oder andere Modell umsetzen, in ihrem persönlichen Leben erlebt haben oder wie sie davon berührt wurden, gewissermaßen als persönliche Illustrationen. Darin kommt u. a. Maria-Christina Eggers zu Wort, die lange Begegnungs- und Schulungsstätten in Slums in Manila und Jerusalem geleitet hat und einen Geschmack davon vermittelt, wie diese Modelle in der Praxis umgesetzt werden. Besonders berührt hat mich ein Text von Helen Jäggi Kosic, die aus der Schweiz mit ihrem bosnischen Mann in die Herzegowina ausgewandert ist und beschreibt, wie sie mithilfe dieses Modells ihr privates und öffentliches Leben verändert und organisiert hat. Solche persönlichen Illustrationen helfen, die Abstraktheit der Modelle etwas zu konkretisieren. Der Zen-Lehrer und Jesuit Niklaus Brantschen erzählt die Geschichte, die aus seiner langjährigen Beziehung zu Pia Gyger stammt. Der Sache nach findet man das in einem bereits publizierten Büchlein, aber wer das nicht kennt, hat hier eine kurze Fassung. Thomas Klink erzählt, wie er das LIM in der Schulung von Führungskräften einsetzt, und Barbara von Meibom lässt die Leser daran Anteil nehmen, wie sie mithilfe dieses Modells und der Zusammenarbeit mit Anna Gamma ihre Beratungspraxis verändert hat und gemeinsam mit ihr einen spirituellen Coaching-Kurs führt. Diese Zwischentexte füllen etwa 45 Seiten des ganzen Buches und tragen zur Erfrischung und Auflockerung, zur Illustration und Konkretisierung bei. Dazwischen sind Übungen eingestreut, die die Leser selber machen oder die Seminarleiter übernehmen können. Jeder Schritt und jedes Element der beiden Modelle wird auf diese Weise erläutert und ins Konkrete übersetzt.
¬ Der Prozess der bewussten Evolution ist keine zwangsläufige Dynamik, denn er hängt von der freiwilligen Mitarbeit aller Beteiligten ab. ¬
Das ist auch gut so, denn nicht jedem wird der abstrakte Kern vor allem der »Zehn evolutiven Prinzipien« sofort einleuchten. Diese hat Pia Gyger im Wesentlichen aus dem Denken des Jesuiten, Paläontologen und Visionärs Pierre Teilhard de Chardin abgeleitet, und wer keine sattelfeste Immunität gegen Katholizismen hat, wird bei diesem Parforceritt andernfalls leicht aus dem Sattel geworfen. Die Tatsache, dass Anna Gamma Zen-Lehrerin ist, hilft dem postmodernen Agnostiker oder der Großstadtesoterikerin dabei, im Sattel zu bleiben, weil sie mit Kontrasten aus der vermeintlich religionsfreien Zen-Welt verhindert, dass das Denken wie bei den weiland zerkratzten Schallplatten in der gleichen alten Rille hängen bleibt. Und so erschließt sich denen, die über Ursprünge und Quelle dieser Prinzipien hinausblicken können, ein reicher Schatz. Es geht dabei um die Grundeinsicht, dass wir an einer Weiterentwicklung persönlich, kulturell, politisch nicht vorbeikommen. Das ist der evolutionäre Grundimpuls Teilhards, der weit über das Biologische hinausreicht. Und diese Evolution funktioniert – das ist das Postulat – auf allen Ebenen nach den gleichen Prinzipien. Einzelelemente wachsen zu größeren Einheiten zusammen (Prinzip 1), ohne ihre je eigene Individualität aufgeben zu müssen. Im Gegenteil, der Vereinigungsprozess führt zu einer tieferen Erfüllung, könnte man sagen (Prinzip 2: Personalisation in Verbindung). Dabei darf es weder zu einer Überbetonung des Wir kommen, sonst kommt es zu Verschmelzungen (Prinzip 3), noch darf die Verschiedenheit unter den Teppich gekehrt werden (Prinzip 4). Dieser evolutive Vereinigungsprozess geht auch nicht problemlos, sondern nur durch Veränderungs- und Wachstumsschmerzen und Geburtswehen (Prinzip 5), führt jedoch in neue, vorher nicht gekannte Gefilde durch Verwandlungen (Prinzip 6), aus denen Neues entsteht (Prinzip 7). Wer die momentane Weltlage so deutet, kann ihr sogar etwas Positives abgewinnen, als globaler Veränderungsschmerz einer Welt, die dabei ist, sich in eine neue Formation zu entwickeln. Wie diese aussieht, wissen wir noch nicht. Vielheit und Individualität in Einheit und Verbundenheit werden auf jeden Fall eine Rolle dabei spielen, so könnte man ableiten. Der Prozess ist auch keine zwangsläufige Dynamik, denn er hängt von der freiwilligen Mitarbeit aller Beteiligten ab (Prinzip 8), führt dann aber dazu, dass alle gleichsam zu Mitschöpfern des Neuen werden (Prinzip 9). Daraus entsteht ein ganz neues, übergeordnetes Zentrum, bzw. das immer schon aktive Zentrum, Teilhards »Omega«, das Ziel der Evolution, zeigt sich darin (Prinzip 10). Der hartgesottene Biologe wird das als Evolutionsromantik abtun, allen anderen können der Gedanke und die im Text angebotenen Beispiele ein Antidot gegen den momentan überall heranschleichenden Zynismus sein.
Das Lassalle-Institut-Modell ist im Prinzip eine Konkretisierung dieser Evolutionsgedanken im Hinblick auf Führungs- und Veränderungsprozesse. Eigentlich ist es sogar eine Postmodernisierung der Trinitätsspekulation der Spätantike. Denn in dreimal drei Elementen wird gezeigt, welcher Parameter gleichzeitig bei jedem beliebigen Thema berücksichtigt werden muss. Aber wie gesagt, wir sind in der Postmoderne und darum kommt nicht der Vater, der Sohn und die Heilige Geistin daher, sondern hier geht es um drei Weisen der Intelligenz (mentale, emotionale, spirituelle) die sich in drei Ebenen des Seins – Einheit, Verschiedenheit, Einzigartigkeit – und auf drei Ebenen der Wirklichkeit, der Mikro-, Meso- und Makroebene zeigen. Praktikern und denen, die Verständnis suchen, kann dieses Modell nützliche Dienste leisten. Ich würde es vermutlich, anders als hier, wo es als rundes Circumplexmodell gezeigt ist, eher als dreidimensionales Modell sehen, aber das ist jetzt ein bisschen Besserwisserei der höheren Sorte.
Auch dieses Modell ist mit Beispielen angereichert und lässt sich daher praktisch verstehen – wer will, kann Übungen machen. Reines Abpausen indes wird nicht gut funktionieren. Das lassen die Autoren eher en passant erkennen. Man muss selber in einer meditativen Praxis gegründet sein, wenn man diese Gedanken verstehen und vor allem nutzbringend anwenden will, so wie Meister Eckhart das einmal ausgedrückt hat: Du musst der Wahrheit gleichen, die du verstehen willst. Hier gilt eine Abwandlung: Verstehen kann man die Gedanken auch, wenn man ihnen (noch) nicht gleicht, aber zur Anwendung bei sich und vor allem bei anderen wird man wohl nur durch eigene Praxis kommen. Daher hat das Buch als letztes kaleidoskopisches Steinchen auch noch das des Appetitanregers.