Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
October 24, 2022
Ich schreibe hier über eine Frage, die mich seit längerem beschäftigt, und auf die ich keine Antwort habe. Doch um es gleich vorwegzusagen: Ich möchte niemanden kritisieren oder Schuldgefühle wecken. Es geht mir um Folgendes: Wir befinden uns in einer Krise, wie sie die menschliche Spezies in den gesamten zwei- bis dreihunderttausend Jahren ihrer Existenz als Homo sapiens noch nie erlebt hat. Die Klima- und Umweltkatastrophe ist in vollem Gange, das sechste Artensterben beschleunigt sich zunehmend. Doch wir verhalten uns nicht so, als ob das tatsächlich wahr wäre. Warum sind wir nicht stärker betroffen? Und warum haben die meisten von uns keinen wirklichen Impuls, etwas dagegen zu tun?
Oft frage ich (in einem entsprechenden Zusammenhang) Freunde und Bekannte, denen unsere Umwelt am Herzen liegt: »Was meinst du, warum sind wir nicht am Boden zerstört?« Und meist lautet Antwort: »Es ist einfach zu überwältigend und schmerzhaft, um es wirklich zu begreifen und zu verarbeiten.« Die scheinbare Aussichtslosigkeit des Versuchs, die Dinge zu ändern, wirkt lähmend. Oft wird dann hinzugefügt, dass der Aufenthalt in der freien Natur, die Arbeit mit Pflanzen oder im Garten eine Art von Zuflucht bilden. Andere Freunde sind voll und ganz in Arbeit und Projekte eingebunden, die auf die eine oder andere Weise dem Allgemeinwohl dienen. All diese Bemühungen, auf die Metakrise zu reagieren, kann ich gut verstehen.
Ein wichtiger Grund dafür, dass wir uns nicht stärker betroffen fühlen, ist, dass zwischen unserer modernen Welt und der Natur eine Distanz entstanden ist. Viele von uns haben kaum noch Kontakt zu den Jahreszeiten, zum Wetter, zu den Mondphasen, den Zyklen der Natur, zu den nicht-menschlichen Bewohnern unserer Erde oder wissen noch, woher unsere Nahrung kommt. Wir leben in geschlossenen Räumen und in immer stärkerem Maße auch virtuell. Wir empfinden uns nicht mehr als Teil der Natur und nehmen die Katastrophe, die sich »da draußen« abspielt, kaum noch wahr.
¬ ICH HABE ENTDECKT, DASS DIE KEHRSEITE DER TRAUER DIE LIEBE IST. ¬
Auch die moderne Spiritualität, als Möglichkeit, mit sich selbst in Kontakt zu kommen, kann unbeabsichtigt dazu beitragen, dass wir uns von den emotionalen Auswirkungen der Klimaproblematik distanzieren, indem sie die reine Subjektivität der materiellen Realität vorzieht. Das wurde mir deutlich bei einem Gespräch mit einem alten Freund, einem angesehenen buddhistischen Meditationslehrer. Er lächelte darüber, dass ich mir über das, was mit der Umwelt geschieht, Sorgen mache. Da alles vergänglich sei und Veränderung die einzige Konstante, würde das Leben, wenn man es auf einer längeren Zeitskala betrachte, immer weitergehen. Wenn auch vielleicht nur auf anderen Planeten. Ihm verschafft diese Gelassenheit sicherlich Frieden, doch für mich wäre sie nur ein Mittel, um die unerträgliche Realität dieser Zeiten nicht spüren zu müssen.
Ich habe immer wieder erfahren, dass es beunruhigend und schmerzhaft ist, sich emotional auf das Ausmaß der Krise einzulassen. Doch etwas hat sich verändert: Angst und Trauer fühle ich oft noch immer, aber ich bin weder passiver Empfänger noch Opfer. Ich weiche nicht zurück vor dem Schrecken, sondern ich tue, was ich kann, um zu helfen, egal ob es hoffnungsvoll oder hoffnungslos erscheint. Ich kann nicht anders, als im Jetzt zu leben, und mich nach dem zu richten, was ich als wahr erkannt habe, ganz egal, wie die Aussichten sind. Und wenn ich mich so engagiere, sehe ich, dass da viele Gleichgesinnte sind, die sich demselben Gebot verschrieben haben. Wobei ich damit nicht eine Art von Masochismus befürworte, denn wie jeder Mensch möchte auch ich inneren Frieden spüren, und einfache Dinge, wie der Anbau von Gemüse und Blumen oder das Wandern, geben mir viel Kraft.
Ich habe auch erkannt, dass die Kehrseite der Trauer die Liebe ist. Das Ausmaß meiner Trauer um die Welt zeigt das Ausmaß meiner Liebe für die Welt. Indem ich nicht versuche, über die Trauer hinwegzukommen, kann ich erfahren, dass die Trauer mich auf unerwartete Weise menschlich macht; sie ist demütig und wurzelt in der Liebe zur gesamten Schöpfung. Und ich habe erfahren, dass diese Trauer keine lähmende oder depressive Wirkung hat, sondern das Herz öffnet und mich befreit. Eine Art »Zugabe« ist, dass ich mich in den vergangenen Jahren so lebendig fühle wie seit vielen Jahren nicht mehr. Es ist ein einzigartiger, existenzieller Moment, zu dem ich erwache und der befreit mich von alten Überzeugungen. Wie kann ich leben im Licht dessen, was ich jetzt weiß? Noch nie zuvor waren wir Menschen in einer solchen Situation, und sie ist auch sicher nichts, was wir uns gewünscht hätten – doch in gewisser Weise ist sie befreiend, da alle Narrative in Frage gestellt werden. Sie kann unser Herz öffnen und Mitgefühl befreien, wenn wir emotional erkennen, dass wir mit allen Lebensformen in gegenseitiger Abhängigkeit verbunden sind.