Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 21, 2016
Lange galt für viele moderne Menschen im Westen die Religion als ein Auslaufmodell, ein Relikt der Vergangenheit. Heute gilt diese Haltung selbst als überholt, denn es wird klar, dass die Religion weiterhin in unserer Gesellschaft eine einflussreiche Rolle übernehmen wird. Was bedeutet ein post-säkularer Diskurs, der Raum macht für den Einbezug religiöser und spiritueller Perspektiven? Wir sprachen mit Kristina Stoeckl, eine der führenden Forscherinnen zu diesem Thema im deutschsprachigen Raum.
evolve: Können Sie den Begriff »postsäkular« aus Ihrer Sicht etwas erklären?
Kristina Stoeckl: Postsäkular bedeutet im Gegensatz zu säkular, dass die religiöse Dimension nicht als überkommen oder als Auslaufmodell gesehen wird. Eine säkularistische Sichtweise geht davon aus, dass es momentan noch Religion gibt, es aber irgendwann damit vorbei sein wird. Eine postsäkulare Sicht nimmt an, dass Religion im öffentlichen Raum und in der öffentlichen Debatte wirksam bleiben und nicht per se abgewertet werden sollte. An religiöse Menschen stellt eine postsäkulare Gesellschaft den Anspruch, dass sie sich als Teil einer pluralistischen Gesellschaft verstehen. Das setzt einen Prozess der Selbstreflexion voraus, in dem man sich fragt: »Wie kann ich in einer pluralistischen Gesellschaft leben?«
e: Das bedeutet auch einen Diskurs auf Augenhöhe zwischen säkularen und religiösen Menschen im öffentlichen Raum.
KS: Diskussion bedeutet, dass man miteinander redet und bereit ist, seinen eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Für religiöse Menschen bedeutet das auch, dass sie eine »Übersetzung« leisten müssen, um in einer nichtreligiösen Sprache über ihre Glaubensinhalte zu sprechen. Wenn ein religiöser Menschen jemandem, der sich nie für Religion interessiert hat oder sie unplausibel findet, sagt, dass er Genforschung ablehnt, weil sie die Gottesebenbildlichkeit des Menschen missachtet, dann führt das nicht unmittelbar zu mehr Verständnis. Im Gegenzug sollten sich nichtreligiöse Menschen bemühen, sich diesem Argument zu öffnen und durch klärende Nachfrage zu verstehen suchen, was mit Gottesebenbildlichkeit gemeint ist. Das wäre für den Soziologen Jürgen Habermas, der den Begriff »postsäkular« maßgeblich geprägt hat, ein erstrebenswerter Diskurs, den es heute noch zu wenig gibt, weshalb die Gräben zwischen säkularer Gesellschaft und Religion so groß sind.
e: Sehen Sie Möglichkeiten für eine Lösung dieses Konfliktes?
KS: Einfache Lösungen sehe ich nicht. Die Voraussetzung ist, dass religiöse Akteure einen Bewusstseinswandel durchlaufen, um sozusagen in einer liberalen Gesellschaft ihren Platz zu finden. Habermas sieht hier vor allem drei Schritte: der erste besteht darin, die Religionsfreiheit anzuerkennen, der zweite ist die Anerkennung der Unabhängigkeit der Wissenschaft und der dritte ist die nicht mehr religiös begründete öffentliche Moral. Der Bewusstseinswandel beinhaltet also die Anerkennung der Abkoppelung der öffentlichen Moral von der eigenen religiös begründeten Moralvorstellung. Dieser Prozess ist aber in den verschiedenen Religionen unterschiedlich weit gediehen. In den christlichen Kirchen wird individuelle Religionsfreiheit allgemein nicht mehr als Abfall von Gott gesehen, im Islam ist es noch nicht so. Ehescheidung hingegen ist ein Beispiel, wo ein Wandel in der öffentlichen Moral den religiösen Bewusstseinswandel herbeiführen kann, z. B. in Hinblick auf die in der katholischen Kirche immer weniger konsensfähige Regel, Geschiedenen die Teilhabe an der Eucharistie zu verweigern.
¬ RELIGIÖSE AKTEURE MÜSSEN EINEN BEWUSSTSEINSWANDEL DURCHLAUFEN, UM IN EINER LIBERALEN GESELLSCHAFT IHREN PLATZ ZU FINDEN. ¬
Durch meine Forschungen bin ich allerdings zu der Überzeugung gekommen, dass ein harter Kern an Konflikten im Grunde unauflöslich ist. Die Herausforderung für die liberalen Demokratien liegt deshalb darin, zu einem besseren Konfliktmanagement zu kommen.
e: Wie könnte so ein Konfliktmanagement aussehen?
KS: Es können Ausnahmeregelungen definiert werden, z. B. sollte eine Gesichtsverschleierung aus religiösen Gründen nicht unter das Vermummungsverbot fallen. Hier, finde ich, ist der französische Gesetzgeber zu weit gegangen, als er das Tragen der Burka und des Niqab in der Öffentlichkeit verboten hat.
e: Würde dieses Konfliktmanagement auch darin bestehen, sich auf gemeinsame Werte zu verständigen, die vielleicht einen gemeinsamen Bezugspunkt bilden könnten?
KS: Was Sie meinen, sind Werte, die für alle verbindlich und nicht verhandelbar sind. Solch ein Wert ist die Menschenwürde, die in einem postsäkularen Rahmen einen gemeinsamen Nenner bilden könnte. Dabei sollten wir aber nicht voraussetzen, dass säkulare und religiöse Menschen die Menschenwürde aus ein- und denselben Gründen als nicht verhandelbar ansehen. Für die einen ist die Menschenwürde unantastbar, weil das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht, und für die anderen, weil sie glauben, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde. Aber beide sind sich einig, dass die Menschenwürde nicht verhandelbar ist. Das meint der amerikanische Philosoph John Rawls mit dem »überlappenden Konsensus«. Auch dieser setzt voraus, dass Menschen sich über ihr jeweiliges Verständnis von Menschenwürde austauschen. Wir kommen also hier wieder zum Diskurs zwischen säkularer Gesellschaft und Gläubigen, von deren Bereitschaft zur wechselseitigen Übersetzung es abhängen wird, ob ein gemeinsamer Bezugspunkt gefunden werden kann.
In diesem Sinne ist der Begriff des Postsäkularen ein großer Fortschritt. Er fordert Offenheit von allen. Die Religionen müssen Ausdrucksformen finden, die in einer pluralistischen Gesellschaft tragfähig sind. Säkulare Institutionen und nichtreligiöse Bürger müssen religiösen Bürgern eine legitime Stimme im öffentlichen Diskurs zugestehen.