Wege aus der Vertrauenskrise

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Artikel
Published On:

January 24, 2022

Featuring:
Gesine Schwan
Robert Putnam
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 33 / 2022
|
January 2022
Wir leben zwischen den Zeiten
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Gesellschaftliche Räume der Beteiligung

Wie können wir in einer Zeit zunehmender Polarisierungen wieder Vertrauen in die Möglichkeiten des politischen Gestaltens fördern? Durch welche Prozesse und Strukturen kann gesellschaftliche Beteiligung tatsächlich wirksam werden?

Die größte politische Herausforderung liegt heute darin, Vertrauen herzustellen. Vertrauen ist innergesellschaftlich und transnational die Voraussetzung dafür, dass wir in verschiedenen Bereichen nachhaltige Lösungen für unsere Probleme finden. Das betrifft das Vertrauen zwischen den agierenden Politikerinnen und Politikern, innerhalb der Gesellschaft zwischen den verschiedenen Interessengruppen, aber auch in der internationalen Zusammenarbeit.

Wie kann man verlorenes Vertrauen zurückgewinnen? Der Politikwissenschaftler Robert Putnam hat in seinem Buch »Making Democracy Work«  in den 90er-Jahren anhand von Italien untersucht, warum es in Süditalien so viele kriminelle Organisationen gibt, die die Demokratie aushöhlen, und Norditalien besser organisiert ist. Er hat herausgefunden, dass es in Norditalien eine lebendige Tradition von zivilgesellschaftlichen Akteuren und Kooperationen gibt, die Vertrauen in der Gesellschaft schaffen. Die Akteure kennen einander durch die Kooperation und können sich dadurch auch kontrollieren. Seine Schlussfolgerung war, dass die Förderung von zivilgesellschaftlichen Interaktionen das gesellschaftliche Vertrauen stärken kann. 

Die Idee der Marktwirtschaft, dass man nur über den Handel verbunden sein muss, um gesellschaftliches Vertrauen zu bilden, erweist sich zunehmend als falsch. In den letzten 40 Jahren hat der Fokus auf den Markt, auf Wirtschaftswachstum und Individualinteressen das innergesellschaftliche Vertrauen untergraben. Deshalb ist die Frage, wie man ökonomische und politische Freiheit miteinander vereinbaren kann, heute so dringend. Die ökonomische Freiheit ist sehr wichtig für Dynamik, für Erfindungsgeist, um etwas Neues zu schaffen. Aber sie enthält auch die Gefahr, Machtkonzentrationen zu bilden und dadurch die politische und die individuelle Freiheit zu beeinträchtigen oder zu unterdrücken. Der globale Kapitalismus bedroht heute die Demokratie und die politische Freiheit. Wie ist es also möglich, eine politische Gestaltung zu fördern, um die politische Freiheit im globalen Kapitalismus zu ermöglichen?

Durch eine wirksame Beteiligung entsteht Vertrauen.

Ich denke, dass wir dabei vor allem auch auf dezentrale, kommunale Koordination bauen sollten, in der die Akteure miteinander vertrauensvoll kooperieren, durchaus auch mit Kontrolle und Transparenz. Die Bürgerinnen und Bürger müssen ihr Selbstvertrauen entwickeln können, indem sie an diesen Prozessen teilnehmen. Das ist am ehesten in den regionalen und lokalen Gemeindestrukturen gestaltbar. Dazu müssen sich aber auch die Strukturen der Entscheidungsfindung verändern. Ich schlage vor, dass die politischen Institutionen, die durch Wahlen legitimiert sind, mit nicht gewählten Akteuren kooperieren, also mit den Vertretern der Unternehmen und den Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft wie Bürgerinitiativen oder Organisationen wie Amnesty oder Attac. Bei solchen Prozessen gibt es zunächst Berührungsängste, aber meine Erfahrung ist, dass viele Menschen durchaus eine positive Erfahrung damit verbinden, wenn man sich plötzlich wieder versteht. Eigentlich haben es die Menschen satt, dass alle aneinander vorbeireden. Ein solcher Verständigungsprozess als fruchtbarer kooperativer Dialog erfordert einiges, ist aber lohnend. Es kommt dabei sehr darauf an, dass es genügend Moderationshilfen gibt. Besonders wichtig ist eine Atmosphäre der gegenseitigen positiven Einstellung, die getragen ist von Wohlwollen und auch Humor.

Mit der Humboldt-Viadrina Governance Platform arbeiten wir gerade in Herne im Ruhrgebiet an einem solchen Projekt. Die Städte stehen heute aus verschiedenen Gründen vor Entwicklungsschüben. Sie müssen z. B. herausfinden, wie alte Industrieareale neu genutzt werden können. Viele Städte beauftragen Beraterfirmen, um Vorschläge zu machen und sie mit der Verwaltung zu besprechen. Wenn die Entscheidung gefallen ist, gibt es öffentliche Veranstaltungen, bei denen die Bürgerinnen und Bürger informiert werden. Diese sind dann enttäuscht, weil sie sofort spüren, dass sie gar nichts mehr mitentscheiden können. Sie sollen lediglich »eingebunden« werden – dieses Wort ist schon verräterisch. 

Es gibt aber noch eine andere Methode, die am Anfang schwieriger, aber meines Erachtens kreativer und vielversprechender ist. Der Bürgermeister kann mit der Verwaltung Unternehmensvertreter, Vertreter der Zivilgesellschaft und örtliche Vertrauensträger wie den Vorsitzenden eines Sportclubs, Schulleiterinnen oder Kulturschaffende einladen, um gemeinsam mit Vertretern der gewählten Abgeordneten ein Forum zu schaffen und der Frage nachzugehen: Wie gestalten wir dieses Areal? In diesem konkreten Fall in Herne gibt es den Vorschlag, einen Wald anzupflanzen, andere wollen einen Technologiepark für erneuerbare Energien einrichten. Beides gute Ideen, für die man Argumente vorbringen und diskutieren kann, um zu einer Lösung zu finden, die verschiedene Anliegen berücksichtigt.

Die kommunalen Entwicklungsbeiräte, wie ich sie anrege, könnten das Kernstück regionaler Politik sein, um sich trotz unterschiedlicher Interessen über gemeinsame Ziele und Maßnahmen zu verständigen. Die Kommunen waren immer schon die Lernstätten von Demokratie, weil man hier lernen muss, wie man sich in der Demokratie beteiligt. Ich glaube, und dafür sprechen auch Umfragen, dass Menschen, die sich demokratisch engagieren, mit der Demokratie zufriedener sind als diejenigen, die nur zu Hause hocken und sich ärgern, dass wieder mal alles schiefläuft. 

Diesen kommunalen Ansatz schlage ich auch beim Umgang mit Geflüchteten vor. Flüchtlinge, die auf dem europäischen Territorium ankommen, sollten dezentral aufgenommen werden. Die Aufnahme sollte mit finanzieller Unterstützung für die Entwicklung der kommunalen Infrastruktur verbunden werden. An der Entscheidung darüber, ob Geflüchtete aufgenommen werden können, muss die Bevölkerung beteiligt werden. Wenn die Geflüchteten als neue Mitbürger erlebt werden, die in Arbeit, Freizeit und Kultur die Kommune mitgestalten, dann entstehen positive Erfahrungen, die helfen können, das gegenseitige Vertrauen zu stützen. Ein kleines Beispiel ist die Stadt Hettstedt im Südharz, wo Syrer und Iraker die Fußballmannschaft ergänzt haben und der kleine Klub aufgestiegen ist. Das erscheint zunächst unbedeutend, aber für die Menschen dort war es durchaus wichtig, dass der Fußballclub aufsteigt. Die neuen Mitbürger trugen zu einem stärkeren Selbstbewusstsein der Menschen bei und dazu, dass Kinder, die im Fußballklub trainieren, von der positiven Erfahrung des Aufstiegs profitieren.

Ich bin der Ansicht, dass im lokalen Zusammenleben die Politik vor Ort im eigenen Alltagsleben gestaltet werden kann. Bürgerinnen und Bürger beteiligen sich und erfahren, dass sie wirkmächtig sind. Wenn die Städte und Kommunen durch ihre Bürgerinnen und Bürger gestalterisch wirken, dann kann auch die Globalisierung anders entwickelt werden. Es gibt seit Jahrzehnten eine zunehmende Vernetzung der Städte und Kommunen, weil sie die Orte der Innovation und des Fortschritts sind. 

Die kommunalen Bürgerräte können für die allgemeine Entwicklung von mehr Vertrauen und Demokratie ein wichtiger Impuls sein. Aber sie müssen in Gang kommen. Das ist nicht leicht, aber in vielen Trialogen zwischen verschiedenen Interessenvertretern zu Themen wie Energiewende oder Wandel der Arbeit habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die zunächst skeptisch waren, plötzlich sagen: »Ach, das ist ja interessant, da kommt ja was ganz anderes heraus, als ich gedacht habe.« Jahrelang habe ich über die Humboldt-Viadrina Governance Platform Trialoge zwischen Unternehmen, Vertretern von Politik und Verwaltung sowie NGO’s moderiert, wodurch fruchtbare Konstellationen entstanden sind, durch die neue Lösungen gefunden werden konnten. Wenn man einander besser versteht, wächst Vertrauen. Dazu gehören auch argumentative Konfrontation und Konflikte, denn so entsteht Innovationspotenzial. Das ist ein alter liberaler Gedanke, den wir in die Alltagserfahrung der Bürgerinnen und Bürger bringen können. 

Beteiligung muss auch Spaß machen. Und damit etwas Spaß macht, muss es ab und zu Erfolge geben. Wenn man sich ohne Erfolg engagiert, dann führt es zur Frustration. Durch eine wirksame Beteiligung entsteht Vertrauen. Denn man kann kaum die Energie aufbringen, ein Projekt zu verfolgen, wenn nicht dahinter das Vertrauen steckt, dass eine Lösung möglich und auch umsetzbar ist.

Um auf die Vertrauenskrise in unserer Gesellschaft zu antworten, brauchen wir deshalb viele neue Formen der Beteiligung. Ich setze die größte Hoffnung auf eine Belebung der kommunalen Strukturen, weil die Menschen hier miteinander ins Gespräch kommen, die Beweggründe anderer verstehen und ihre unmittelbare Lebenswirklichkeit gestalten können.  

Das Gespräch, auf dem dieser Text beruht, führte Mike Kauschke.

Prof. Dr. Gesine Schwan ist Präsidentin und Mitbegründerin der Humbolt-Viadrina Governance Platform. Die SPD-Politikerin und Politikwissenschaftlerin ist Vorsitzende der Grundwertekommission ihrer Partei. Von 1999 bis 2008 war sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), von 2005 bis 2009 Koordinatorin der Bundesregierung für die deutsch-polnischen Beziehungen. Sie ist Autorin von »Politik trotz Globalisierung« und »Europa versagt«. www.governance-platform.org

Author:
Mike Kauschke
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