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Es scheint, dass wir in einer Zeit leben, die nach einem weiseren Umgang mit uns selbst, miteinander, mit der lebendigen Welt ruft. Aber wie können wir diese Weisheit kultivieren? Wir haben fünf Menschen, die sich in verschiedenen Bereichen mit Weisheitspraktiken beschäftigen, gefragt:
Welche Praktiken können uns helfen, die Weisheit zu kultivieren, die wir heute brauchen?
Ich bezeichne mich selbst als »moving animal«, als langjährige Tanzimprovisatorin, Performerin und Pädagogin, die ihr Leben dem tiefen Hineinhören in die Weisheit der verkörperten Intelligenz gewidmet hat. Meine Leidenschaft wurde durch eine Offenbarung entfacht, die sich zu Beginn meiner Tanzreise ereignete. Ich erinnere mich dabei an eine Erfahrung von »Vorwissen«, die mir eine klare Botschaft übermittelte: Alles, was ich in diesem Leben jemals wissen muss, ist bereits von Natur aus in mir vorhanden.
In diesem Offenbarungsmoment veränderte sich meine Beziehung zum Leben von einer, die sich hauptsächlich auf persönliche Ängste und Wünsche konzentrierte, zu einer Beziehung, die sich durch Neugier und Fürsorge für das Leben und für andere auszeichnete. Ich war beeindruckt von der Tatsache, dass sich diese kraftvolle Offenbarung durch meine körperliche Gestalt mitgeteilt hatte. Seit dieser ersten Andeutung der Kraft der Verkörperung habe ich auf den Körper gehört und ihn als ein Instrument gefeiert, durch das die Lebenskraft ihr Wissen vermittelt.
Um ihre Weisheit zu empfangen, muss ich, Kirstie, einen Schritt zurücktreten, um das Bedürfnis loszulassen, der co-kreativen Improvisation, so wie sie sich in jedem Augenblick manifestiert, meinen Willen aufzuzwingen. In einem Zustand wacher, entspannter Hingabe und in der Stille des Seins ermöglicht ein intensives Zuhören eine tiefe Verbundenheit, in der die Bewegung des Lebens und ich selbst als ein und dasselbe erfahren werden. Von diesem Grund des Seins aus strebe ich nach kreativem Ausdruck, der ein Gefühl für das verkörpert, was das Leben jetzt von uns Menschen verlangt: voll und ganz lebendig zu sein, eins mit dem Leben, anstatt die Herrschaft über das Leben zu übernehmen.
Kirstie Simson, Tänzerin und Lehrerin für Kontaktimprovisation.
Weisheit ist immer dann gefragt, wenn es auf Fragen um das Wohl und Gedeihen von Leben als komplexem System keine einfachen, trivialen Antworten gibt. Ambiguität und Vieldeutigkeit sind dem Leben immanent. So braucht es neben den rationalen Problemlösestrategien zusätzlich sogenannte transrationale Fähigkeiten wie Qualitäten des Mitgefühls und der Güte, Fähigkeiten zur Multiperspektivität, Ungewissheitstoleranz, Fehlerfreundlichkeit, Gelassenheit und Anspruchsrelativierung. In vielen Kulturen wurde Weisheit oft älteren Menschen zugeschrieben, denn um weise zu werden, hilft ein breites Spektrum an Erfahrungen. Auch ist Weisheit nicht immer mit dem jugendlichen Sturm und Drang zu vereinbaren, sondern braucht die Fähigkeit zum Innehalten, Sich-Zurücknehmen oder sogar zu einer kontemplativen Reflexion. Ihr Maßstab könnte der Grad an Verbundenheit sein, den sie in einer zunehmend fragmentierten Welt zu schenken vermag. Weisheit scheint also kein Handwerk, sondern eine Kunst zu sein.
Wenn aber wie derzeit ein rascher Wandel und eine enorme Komplexität der Lebenswirklichkeit unsere Zukunft bestimmen, dann ist gleichermaßen ein Höchstmaß an Weisheit gefordert. Und da die Welt vielfach von jüngeren Menschen entscheidend mitgestaltet wird, bleibt keine Zeit mehr, um auf deren Alter zu warten. In einer sich rasch wandelnden, komplexen Kultur müssten also vielmehr bereits junge Menschen Weisheitskompetenzen ausbilden, um damit eine sinnvolle und erfüllte Zukunft mitgestalten zu können. Es sollte auch Ziel der Schulbildung sein, neben fachlichem Wissen Weisheitskompetenzen zu vermitteln. Dazu eignen sich spielerisch philosophische Gesprächsrunden, Elemente der Selbsterfahrung und des vielfältigen Erlebens. Dann können wir Hoffnung auf eine Weisheitskultur haben, in der sich Menschen unserer Zukunftsgestaltung verantwortungsvoll annehmen.
Die Praxis von vier Haltungen scheint mir die Bildung einer »Weisheitskultur« zu favorisieren – gerade jetzt:
Die Liebe zum Geheimnis – ich lerne, jedem Menschen wie einem Geheimnis zu begegnen; sein Verstehen kann mich selbst, den anderen und die Welt verändern.
Das Bedürfnis zu verstehen – ich lerne, die Art meines Verstehens an dem zu Verstehenden zu orientieren; was mir als Wirklichkeit erscheint, ist immer auch Folge meiner Deutung.
Die Sehnsucht nach Wirklichkeit – ich lerne, Traditionen immer mehr zu achten und zugleich meinen Willen und Einsatz zur Verwandlung aller gegebenen Formen zu verstärken.
Der Wille beizutragen – ich lerne, dass mein Beitrag zum Wandel aus der Wechselseitigkeit zwischen meiner Fähigkeit, der Disposition anderer und einem grösseren Ganzen entsteht.
Wenn Weisheit eine Mischung ist aus Einfühlungsvermögen, reflektierter Lebenserfahrung, aufgeklärtem Wissen, Multiperspektivität und der Fähigkeit, mit einer gewissen Heiterkeit sich selbst und das Leben zu betrachten, dann ist alles, was dazu beiträgt, dass es in diesen Bereichen zu einer Reifung kommt, unverzichtbar. Dies beginnt im Elternhaus mit einer wertschätzenden Erziehung, die in Kitas, Kindergärten und Schulen vertieft und durch die Schulung des kritischen Denkens erweitert werden sollte. Auf der gesellschaftlichen Ebene müssen wir die Werte fördern und positiv sanktionieren, die dem guten Miteinander dienen, und wir sollten Räume zulassen, in denen das Unverzweckte und Spontane entstehen und sich entfalten kann, in denen nicht alles der Logik und der Verwertbarkeit unterworfen ist.
Und je mehr wir selbst bereit sind, uns auf andere Menschen und ihre Sichtweisen einzulassen, immer wieder neue Wege zu beschreiten, uns aus der Komfortzone des Bequemen und Erprobten herauszubewegen und gleichzeitig mit einer gewissen Gelassenheit dem Leben zu begegnen, desto mehr realisiert sich in dieser Welt eine Weisheit, die uns hilft, den mannigfaltigen Aufgaben und Herausforderungen, die die Moderne für uns bereithält, gerecht zu werden.
Weisheit ist intelligentes Nichtwissen.
Auf der Basis alles Wissbaren offen zu bleiben für das Lebendige, das unberechenbar Schöpferische. Wo die fragmentarischen Interessen enden und der Mensch vom Ganzen her denkt – da entsteht Weisheit.
Author:
Dr. Katharina Ceming
Author:
Bodo von Plato
Author:
Alfred Bast
Author:
Kristie Simson
Author:
Prof. Dr. Thilo Hinterberger
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