Über Engel und Biologie
Wer die Wissenschaft zu wörtlich nimmt, übersieht die Welt. Tom Cheetham, Biologe und Forscher des »Imaginalen«, beschreibt, auf welche Weise wir häufig unseren eigenen Blick nicht sehen.
evolve: Es gibt in Teilen der Öffentlichkeit eine neue Auseinandersetzung über die Bedeutung der Vorstellungskraft, der Imagination. Es heißt, dass unser naturwissenschaftliches Verständnis der Wirklichkeit eigentlich Teil der Krise ist, in der wir uns befinden. Wir müssen unsere Wahrnehmungsfähigkeit erweitern. Warum ist die Vorstellungskraft, die Imagination wichtig?
Tom Cheetham: Ja, es geht darum, unsere Wahrnehmungs-, aber auch unsere Handlungsfähigkeit zu erweitern. Wir haben diese fixe Idee, dass Wahrnehmung, Verstehen und Handeln voneinander getrennte Bereiche sind. Das ist eine sehr eingeschränkte Sichtweise. Wir können unsere Erfahrung vom Leben nicht einfach in diese unterschiedlichen Kategorien von Wahrnehmen, Verstehen, Handeln trennen, denn unsere Wahrnehmungen werden von unserem zugrunde liegenden Verständnis der Wirklichkeit geprägt. Und beides zusammen beeinflusst das Spektrum der Handlungen, die wir für möglich halten.
Wenn unsere Vorstellungskraft mitprägt, was Wirklichkeit ist, dann löst sich die traditionelle westliche Trennung von Erfahrung und Leben sofort auf. Viele Menschen denken, wenn man Wahrheit will, geht man zu den Wissenschaftlern, und die sagen einem dann, was die Wirklichkeit ist. Wenn man etwas anderes will, dann geht man zu den Dichtern und Künstlern, die sich nicht von den Realitäten der Wissenschaft einschränken lassen. Aber das stimmt so nicht. Ich habe sehr lange gebraucht, um das zu verstehen. Erst die Arbeiten des Psychologen James Hillman und des Religionswissenschaftlers Henri Corbin haben mir gezeigt, dass auch die Philosophie, auch die Wissenschaft Formen der Vorstellungskraft sind, natürlich auch die Poesie, die Kunst, die Gesellschaft. Es gibt mittlerweile viele Menschen, die versuchen diese fixe Trennung zwischen Wahrheit auf der einen Seite und unserer Vorstellungskraft und Freiheit auf der anderen Seite zu überwinden. Die beiden Seiten gehören zusammen.
Hillman betont, dass unser Glaube an eine buchstäbliche Wahrheit auch eine Art von Imagination ist. Wenn wir also glauben, wir hätten die buchstäbliche Wahrheit über die Realität gefunden – ganz gleich, ob in der Wissenschaft, der Religion oder der Philosophie –, müssen wir verstehen, dass auch das immer eine Vorstellung ist. Die meisten Menschen können das nur sehr schwer akzeptieren.
In Beziehung
e: Unsere Sicht auf die Wissenschaft spielt ja auch in der Auseinandersetzung über die Klimakrise eine große Rolle. Gerade in der jungen Generation wenden sich heute viele wieder bewusst dem Glauben an die Wissenschaft zu, auch weil es über den menschengemachten Klimawandel sehr seltsame Vorstellungen gibt. Manche Menschen meinen ja, dass es den Klimawandel gar nicht gibt. Die Antwort der jungen Klimaaktivistinnen auf diese Verschwörungsmythen ist: Lasst uns der Wissenschaft folgen. Sie zeigt uns mit ihren Methoden, was nur Mythen oder Fantasien sind und was wirklich der Fall ist. Es liegt etwas Befreiendes in dieser wissenschaftlichen Einsicht. Aber auf der anderen Seite wird immer deutlicher, dass genau dieser rein wissenschaftliche Blick, mit dem wir alles nur durch eine technisch-naturwissenschaftlich Brille sehen, Teil des Problems ist, das uns in diese Klimakatastrophe hineingebracht hat.
TC: Gerade in Bezug auf die Klimakrise ist es leicht, in dem Glauben an eine buchstäblich wahre Wissenschaft zu verfallen. Die einfachste Antwort auf die Leugner der Klimakrise ist ja: Ihr habt Unrecht, die Wissenschaft sagt uns die Wahrheit. Und in gewisser Weise ist das ja richtig.
¬ WIR LEBEN IN EINER WELT, IN DER WIR MIT DINGEN IN BEZIEHUNGEN STEHEN, IN DER WIR LIEBEN. ¬
Aber das ist nur eine Seite, denn wir brauchen auch hier eine neue Sprache, eine neue Form des Denkens. Die Klimawissenschaft ist extrem kompliziert, es gibt da viele Unsicherheiten. Wir haben es mit unvorhersehbaren Systemen zu tun, nicht mit der newtonschen Wissenschaft, die sagt: »Wenn Sie dieses Projektil abschießen, wissen wir genau, wo es auftreffen wird.« Wir arbeiten mit statistischen Wahrscheinlichkeiten.
Aber die Wirklichkeit hat auch noch eine andere Seite. Sie ist das, womit wir in Beziehung stehen, was wir lieben. Niemand von uns lebt in einer buchstäblich wissenschaftlichen Welt. Wir leben in einer Welt, in der wir mit Dingen in Beziehungen stehen, in der wir lieben. Wenn wir das anerkennen, sehen wir, dass alles aus der Vorstellung geboren ist. Die Wirklichkeit zeigt sich in unserer Vorstellungswelt.
e: Die Welt, in der wir leben, ist nicht nur ein Rechenzusammenhang. Sie ist etwas, das uns angeht. In Bildern und Vorstellungen zeigt sich, was uns berührt, was wir lieben und nicht so sehr das, was wir berechnen. Und andererseits, wie Sie gerade gesagt haben, ist ja auch die naturwissenschaftliche, technische Wahrnehmung eine Vorstellungwelt. In ihr nimmt die Erde die Form einer Ressource an, alles wird technisch handhabbar.
Wenn wir in unserer Vorstellungskraft einen Schritt zurücktreten und sehen, die Erde ist vielleicht nicht nur eine Ressource, sondern etwas, das unser Herz erreicht und zu dem wir eine lebendige Beziehung haben, dann zeigt sich die Kraft der menschlichen Imagination. Wir können dem Klimawandel ganz anders, nämlich nicht allein technisch begegnen.
TC: Ralph Waldo Emerson, der amerikanische Transzendentalist, hat einmal gesagt, Wahrheiten seien so weit in Ordnung, wie sie eben reichen, ganz gleich ob sie die Religion oder die Wissenschaft betreffen. Doch ganz egal, woher man seine Wahrheit bezieht, man sollte sehr vorsichtig sein. Als ich als Wissenschaftler arbeitete, ging es immer dann schief, wenn ich davon überzeugt war, ich würde die Wahrheit finden. Jahre später beschloss ich, ein ernsthafter Dichter zu sein. Es ist immer deutlich spürbar, wenn man eine klare Richtung, ein Ziel oder eine Art von Gewissheit haben will. Doch jedes Mal, wenn deine Hände, dein Herz und dein Kopf anfangen, nach Dingen zu greifen, auch wenn es Engel sind – sie werden verschwinden, wenn du zu sehr nach ihnen greifst. Emerson hatte die Erfahrung gemacht, dass man all diese Ideen, Engel, Wahrheiten und Kosmologien nur ganz vorsichtig festhalten sollte, damit man sie auch loslassen kann, wenn es nicht so läuft, wie es sollte.
Ein neuer Blick
e: Lassen Sie uns kurz bei den Engeln bleiben. Engel sind eine seltsame Vorstellung. Von einem naturwissenschaftlichen Blick sind sie sehr weit entfernt. Aber wenn wir es einfach sprachwissenschaftlich als ein Symbol nehmen, das meiner Vorstellungskraft erlaubt, eine Anmutung oder eine psychologische Kraft in den Blick zu nehmen, die mir ein rein technischer Blick nicht erlaubt, dann öffnet das eine neue Dimension. Symbole, welcher Art auch immer, könnten dann auch als eine Art Wahrnehmungsorgan verstanden werden, um etwas wahrzunehmen, das z. B. Zahlen nicht zeigen.
TC: Ja, das ist sehr gut. Die kognitive Neurowissenschaft sieht ja unsere Weltwahrnehmung manchmal als eine kontrollierte Halluzination. Einige der Kontrollmechanismen sind irgendwie da draußen. Aber ein großer Teil der Kontrolle liegt in der Sprache und den Worten, die wir benutzen und die es uns ermöglichen, die Dinge auf bestimmte Weise zu gestalten. Wenn einem bestimmte Ideen und Metaphern nicht zugänglich sind, dann wird man das einfach nicht sehen. Die Anthropologen haben damit ständig zu kämpfen. Unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Kulturen nehmen unterschiedliche Dinge auf ihre jeweilige Weise sehr wörtlich wahr. Das kleine Flackern, das Sie gerade aus dem Augenwinkel gesehen haben, könnte jetzt vielleicht ein Engel sein. Wenn man aber keinen Zugang zu diesem Wort oder den damit verbundenen Ideen und Metaphern hat, dann wird man es einfach nicht wahrnehmen.
e: Unsere Vorstellungwelten, in denen wir leben, zeigen uns unterschiedliche Wirklichkeiten. Diese sind jetzt nicht jeweils buchstäblich wahr, aber sie zeigen uns Aspekte, die wir einfach nicht sehen, wenn wir in anderen Vorstellungselten leben.
TC: Ich möchte dazu eine Geschichte erzählen. Als Erwachsener habe ich mich für die Wissenschaft interessiert, weil ich mich in bestimmte Aspekte der natürlichen Welt verliebt hatte, die mich einfach angezogen haben. Es war aufregend und wunderbar. Wenn man sich in einen Teil der Natur verliebt, dann ist das Schönste daran, dass man plötzlich Dinge sieht, die man vorher nie gesehen hat. Jedes Mal, wenn man nach draußen geht, hat man sie direkt vor Augen. Ich sehe, fühle und erlebe Verbindungen zu Dingen, die ich vorher nie gesehen habe. Also habe ich zehn Jahre lang Biologie studiert. Dann begann ich, mich für Geologie zu interessieren, weil ich zu dieser Zeit Umwelttechnik unterrichtete. Die Erde und auch die Geologie sind, wenn man sie wissenschaftlich betrachtet, sicher interessant, aber dann war auf einmal noch der Gedanke da: »Wow, diese Felsen, Vulkane und tektonischen Platten sind ja unglaublich!« Plötzlich schaut man über die Landschaft und sieht nicht mehr nur die Bäume und das Gras. Man sieht die Landformen und die Berge, und was man sieht, ändert sich jedes Mal, wenn man nach draußen geht. Alles ist neu und aufregend.
¬ GANZ EGAL, WOHER MAN SEINE WAHRHEIT BEZIEHT, MAN SOLLTE SEHR VORSICHTIG DAMIT SEIN. ¬
Immer wenn man etwas liebt, sei es Wirtschaftsmathematik, Meteorologie, Soziologie, ganz egal was, geschieht es: Man sieht die Welt plötzlich auf eine andere Weise. Kein Mensch kann wissenschaftlich ein Experte für alles sein, aber du weißt mit deinem Herzen, dass es diese unglaubliche Vielfalt an Möglichkeiten gibt, die Dinge zu sehen. Wenn man draußen auf dem Land oder in der Stadt spazieren geht, kann man ein Gebäude wie ein Geologe betrachten. Man fragt sich: »Ist es aus Carrara-Marmor oder Kalkstein gebaut? Wo kommt es her? Wie haben sie die Steine hierher transportiert?« Oder man geht als Biologe durch die Stadt und sieht die Blumen, Insekten und Vögel. Oder man nimmt die Sichtweise eines Soziologen oder eines Wirtschaftswissenschaftlers ein. Jedes Mal wird man von der außergewöhnlichen Schönheit und Komplexität der Welt überwältigt sein. Und das ist nur die Sichtweise der Naturwissenschaften.
Der Religionswissenschaftler Henri Corbin wollte einen Weg finden, die Vielfältigkeit religiöser und philosophischer Standpunkte gleichwertig darzustellen, die ja alle nur unterschiedliche Arten sind, sich die Welt vorzustellen. Denke ich wie ein Wirtschaftswissenschaftler, dann fällt mir sofort eine ganze Reihe von Fragen ein, denke ich dagegen wie ein Physiker, beschäftigen mich ganz andere Fragen. Wenn man das alles als verschiedene Arten sieht, sich die Realität vorzustellen, dann fällt es leicht, das Ganze zusammenzufügen. Corbin stützt sich mit seiner Liebe für islamische Mystik vor allem auf mittelalterliche islamische Schriften, insbesondere auf Ibn Arabi, der sagte: »Gott ist der große Vorstellende. Gott hat die gesamte Wirklichkeit in die Existenz hineingedacht.«
Corbin liebte diese mittelalterliche islamische Kosmologie, obwohl es nicht die seine war. Als Mensch des 20. Jahrhunderts ist deren Realität für ihn nur eine Form der Imagination unter vielen anderen. All die großen abrahamitischen Traditionen – Christentum, Judentum und Islam – betrachtet Corbin als schöne Kosmologien, entstanden aus ihrer jeweiligen Vorstellungskraft. Und er stellte sich einen religiösen und philosophischen Pluralismus vor, der die Schönheit und Harmonie jeder wissenschaftlichen und religiösen Tradition als Formen unserer menschlichen Vorstellungskraft erkennt, die alle etwas Göttliches in sich tragen. Und im Zentrum all dieser Vorstellungwelten stehen Liebe und Intimität, denn keiner dieser Funken kreativer Phantasie könnte ohne diese entstehen.
Einheit in der Vielfalt
e: Wenn man die Vielfalt dieser Vorstellungswelten in eine intime Beziehung zueinander bringt, öffnet sich ein dialogisches Universum, in dem die Schönheit und die Vielfalt nicht nur nebeneinander, sondern in Beziehung zueinanderstehen. Und vielleicht ist es ein Teil des Prozesses, in dem wir uns befinden, dass wir all diesen verschiedenen Vorstellungswelten erlauben, miteinander zu sprechen, so dass sie zusammenfinden.
TC: Ja, sie werden aber nicht im wörtlichen Sinne eins werden, sondern fließend. Wir können nicht ignorieren, dass wir alle unterschiedlich sind. Es geht um die Einheit in der Vielfalt. Das kann man auf der individuellen Ebene deutlich machen: Es gibt jemanden, in den Sie verliebt sind. Sie lieben diese Person, und im besten Fall können Sie vielleicht zusammen tanzen und tiefgründige Dinge miteinander teilen. Aber Sie werden nie wirklich zu einem.
Lassen Sie uns das in Corbins Interpretation des großen islamischen Mystikers Ibn Arabi betrachten. Hier wird diese Relationalität zu einer Kosmologie: Wenn du zu deinem Herrn betest, stellst du ihn dir vor, als würdest du ihn sehen. Doch dein Herr stellt sich auch dich vor. Keiner von euch ist auf den anderen zurückzuführen. Gott ist einzigartig, und aus dieser Einzigartigkeit ergibt sich, dass jedes einzelne Lichtwesen ebenfalls unwiderruflich einzigartig ist.
Wir alle teilen dann diese fließende, schöne, erschreckende, gefährliche und erstaunliche Realität, dass zwei einzigartige Wesen miteinander intim sein können. Das Wunder ist, dass du nicht mit Gott verschmelzen musst. Es ist nicht deine Aufgabe, mit deinem Engel zu verschmelzen, sondern in ständigem Fluss zu bleiben. Als Dyade bewegt ihr beide euch für immer durch diese Welt der Zwänge und Freiheiten. Wenn wir diese Beziehung zwischen uns und unserem Engel nicht nur theologisch verstehen, sondern als einen fundamentalen Archetyp, der jeder zwischenmenschlichen Interaktion zugrunde liegt, dann haben wir eine ziemlich gute Ausgangsposition für unser Leben.
e: Sie lässt sich darauf anwenden, wie Menschen auf der Erde zusammenleben, und auf unsere Beziehung zu den verschiedenen Vorstellungwelten, einschließlich der Wissenschaft. Indem wir in Beziehung gehen, oder, um in Ihrem Bild zu bleiben, uns in Liebe verbinden, können diese Vorstellungswelten nicht verschmelzen, aber zu einem dynamischen Ganzen werden.
Als Sie das Verhältnis zwischen Poesie und Wissenschaft beschrieben haben, sprachen Sie von einem Tanz, bei dem all dies in uns leben kann. Und in diesem Sinn ist die Wissenschaft enorm wichtig, um in unserer aktuellen Situation auch die der Klimakrise zu lösen. Aber wir müssen unsere anderen imaginativen Wirklichkeiten wieder zur Geltung bringen. Der Glaube an eine buchstäblich wahre, nur naturwissenschaftlich fassbare Welt hat das alles niedergerollt. Wie kann das in Beziehung gehen? Wie kann das miteinander tanzen?
TC: Auch hierzu möchte ich eine Geschichte erzählen: Der Physiker Fermi und andere große Physiker saßen in den Zwanziger- oder Dreißigerjahren zusammen und sprachen über Kosmologie, und plötzlich sagte Fermi ohne jeden Zusammenhang: »Wo sind sie denn alle?« Damit meinte er, dass es, wenn das Universum wirklich so groß ist, wie wir glauben, da draußen viele andere Zivilisationen geben muss. Warum haben wir bisher nichts von ihnen gehört? Warum sind sie nicht hier? Diese Frage ist als »Fermi-Paradoxon« bekannt: Wo sind all die Außerirdischen?
Eine mögliche Antwort wäre, dass sie zuhause geblieben sind. Im Unterschied zu Elon Musk und den ganzen anderen Verrückten, die z. B. den Mars besiedeln wollen, kamen die Zivilisationen, die es geschafft haben, all die unterschiedlichen Katastrophenstufen zu überstehen und sich nicht selbst in die Luft zu jagen oder gegenseitig umzubringen, zu der tiefen Erkenntnis: »Wir müssen nirgendwo hin … Alles, was wir jemals haben könnten, haben wir hier zuhause.« Und so ist ihr Wunsch, die Galaxie zu bevölkern, einfach verschwunden. Diese Geschichte gefällt mir sehr, auch wenn mich Weltraumreisen faszinieren. Die Ökologen würden es so ausdrücken: Lasst uns erst mal lernen, hier miteinander zu leben, bevor wir mit unseren technischen Mitteln aufbrechen, um woanders hinzugehen.