Wenn der Lotus aufblüht

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

October 23, 2023

Featuring:
Nipun Mehta
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 40 / 2023
|
October 2023
Auf der KIppe
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Sokrates, Buddha und KI

Nipun Mehta ist der Gründer von ServiceSpace, einer globalen Gemeinschaft, die an der Schnittstelle von Technologie, Freiwilligenarbeit und Geschenkkultur arbeitet. Ein neues Projekt ist die Entwicklung von ServiceSpaceAI, einem Chatbot, der Mitgefühl und Bewusstseinsbildung fördern soll.

evolve: Ich habe der ServiceSpaceAI folgende Frage gestellt: »Wie kann ich jemanden unterstützen, der einen geliebten Menschen verloren hat?« Die Antwort war ziemlich verblüffend und endete mit: »Letztendlich geht es nicht darum, den Schmerz zu lindern, denn das können wir leider nicht. Es geht darum, ihnen zur Seite zu stehen, ihre Trauer zu bezeugen und ihnen zu versichern, dass sie mit ihrem Kummer nicht allein sind. Wir können ihren Weg nicht weniger schmerzhaft machen, aber wir können dafür sorgen, dass sie ihre Trauer nicht allein durchstehen müssen.« Dabei ist mir auch aufgefallen, dass die Maschine »wir« sagt, als ob sie eine Person wäre. Was denkst du darüber?

Nipun Mehta: Manche Menschen fühlen sich sehr unwohl, wenn eine Maschine so tut, als hätte sie eine Identität, empfände Gefühle oder gar Liebe. Im Moment kann man sie so programmieren, dass sie das nicht tut, dann ist das Problem gelöst. Aber ab wann gehört eine Silizium-Maschine genauso zum Kreis der Wesen wie ein Kohlenstoff-Mensch? Wer legt diese Parameter fest? Das sind offene Fragen. Selbst in einem System, das nur aus Menschen besteht, ist es schwierig, die Grenze zwischen Zugehörigkeit und Auslassung zu ziehen.

»Es ist normal geworden, eine andere Person zu benutzen, um einen Mangel in einem selbst zu füllen.«

Auch aus praktischer Sicht verfolgen wir hier einen einzigartigen Ansatz. Normalerweise kaufen wir Produkte, weil sie ein Problem für uns lösen. Durch Algorithmen werden Profile von jedem von uns erstellt, um auf uns zugeschnittene Angebote zu machen – und sogar eine vorausschauende Analyse darüber durchzuführen, was wir wollen, bevor wir es wollen. Sobald ich nach Flügen nach Kolumbien suche, sehe ich Werbung für Spanischkurse! Dahinter steckt eine subtilere Annahme: dass die Menschen Antworten wollen. Wenn ich eine Frage habe, kaufe ich ein Produkt, um eine Antwort zu finden. Das mag für kommerzielle Produkte eine vernünftige Logik sein, aber wir testen eine andere Hypothese: dass Maschinen den menschlichen Absichten am ehesten entsprechen, wenn sie uns Fragen stellen, an denen sich unsere innewohnende Intuition orientieren kann. Wenn ich mich wie Sokrates mit einer Frage an eine KI wende, kann sie mir dann helfen, meine Anfrage zu verfeinern und mich herausfordern, eine kontextbezogene Antwort zu finden? Anstelle einer Antwort sind wir der Ansicht, dass Technologie am besten ist, wenn sie uns zu einer besseren Frage führen kann und uns veranlasst, uns mehr auf unser menschliches Selbst einzulassen. In deiner Antwort wird keine Aufzählung von Lösungen gegeben, sondern du wirst eingeladen, dich mehr mit deinem Inneren zu verbinden und wirklich präsent zu sein.

Beziehungen als Tor

e: Die Antworten der ServiceSpaceAI enthalten die Weisheit, die durch die verfügbaren Daten entsteht, aber ist das nicht eine Simulation von Weisheit? Ist Weisheit nicht eine Qualität des Bewusstseins, die über bestimmte Worte oder Ideen hinausgeht? Oder glaubst du, dass KI weise werden kann oder Menschen dabei unterstützt, weiser zu werden?

NM: Ich glaube, niemand von uns hat etwas dagegen, wenn KI uns bei der Entdeckung von Weisheit hilft. Dabei haben uns auch Bücher geholfen. Die generativen KI-Tools sind eine neue Art von Suchmaschine. Um relevante Inhalte zu finden, gibst du bei Google ein paar Schlüsselwörter ein und es werden die passenden Websites angezeigt. KI hebt das auf eine andere Ebene, indem sie nicht nur synthetisiert und in unserer Muttersprache antwortet, sondern auch interaktiv ist, so dass man vertiefende Fragen stellen kann.

Die Fülle an Beiträgen aus 25 Jahren ServiceSpace wie Blogs, Nachrichten, Interviews, Videos kann man ohne KI nicht in einem sinnvollen Zusammenhang verstehen. In unserer Forschung stellten wir fest, dass die von ChatGPT verwendeten Daten ziemlich schwach waren. Also haben wir begonnen, unsere Daten um Werte wie Mitgefühl und Freundlichkeit zu strukturieren, und werden bald eine Version eines »Großen Sprachmodells« einsetzen und mit der Feinabstimmung der Daten beginnen.

Selbst mit all dem, was wir bisher gelernt haben, gibt es sehr viele Anwendungen, die den menschlichen Geist nähren können. Zum Beispiel kann unsere KI alle Nachrichten des Tages durchforsten, die mitfühlendsten auswählen, Zusammenfassungen für jede schreiben, sie mit durchsuchbaren Schlüsselwörtern versehen und sie auf unserem Portal KarunaNews.org veröffentlichen.

»Ein kleiner Akt des großzügigen liebevollen Handelns lädt mich dazu ein, vom ›Ich‹ zum ›Wir‹ überzugehen.«

e: Auch wenn die Antworten von Service­SpaceAI bewegend, mitfühlend und aufschlussreich sind, können sie den direkten menschlichen Kontakt nicht ersetzen. Wie siehst du die Gefahr, dass die Menschen noch mehr den menschlichen Kontakt verlieren und sich an solche Chat-Maschinen zurückziehen, die leicht zugänglich sind?

NM: Die sozialen Medien haben unsere Aufmerksamkeit verringert, so dass unsere durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne nur noch acht Sekunden beträgt. Wenn wir nicht aufmerksam sind, können wir nicht aus dem Herzen heraus handeln. Deshalb werden menschliche Beziehungen zu einer transaktionalen, geschäftlichen Beziehung der Bequemlichkeit. Es ist normal geworden, eine andere Person zu benutzen, um einen Mangel in einem selbst zu füllen. Sicherlich schaffen dauerhafte transaktionale Beziehungen eine Bindung, die einen gewissen Anschein von Sicherheit bietet. Kann eine Maschine das bieten? Offensichtlich, wenn 87 Prozent der Millennials mit ihrem Handy an ihrer Seite schlafen.

Aber Menschen sind in der Lage, über geschäftliche Transaktionen hinaus Beziehungen zu knüpfen. Wenn wir die »Ich«-Logik anwenden, die im Großen und Ganzen der Marktlogik entspricht, befürchte ich, dass wir von den Annehmlichkeiten der KI verführt werden. Wenn wir aber die »Wir«-Logik oder die »Was würde die Liebe tun«-Logik anwenden, werden wir unsere Beziehungen als ein Tor für innere und kollektive Transformation und Heilung würdigen.

Wird uns die KI dabei helfen, in unseren Beziehungen über geschäftliche Transaktion hinauszugehen? Ich denke, das ist möglich. Die dringendere Frage für uns ­alle könnte jedoch lauten: Wie viel von meinem Tag war ich in einem transaktionalen Bewusstsein verwurzelt, und was bin ich bereit zu tun, um diesen Schwerpunkt zu verschieben? Wenn es genug von uns gibt, die darauf bedacht sind, in größeren Kreisen der Wechselseitigkeit zu leben – in einem Mettaversum statt einem Metaversum – sollten wir in der Lage sein, ein Win-Win-Szenario mit der KI zu erreichen.

In der Spannung bleiben

e: Kannst du den Unterschied zwischen dem Metaversum und dem, was du das Mettaversum nennst, erläutern?

NM: Metaversum ist ein in der Technikwelt häufig verwendeter Begriff, der ein virtuelles Meta-Universum meint. Ein System rein digitaler Beziehungen, in dem sich mein Avatar mit deinem verbindet.

Mettaversum ist ein Wortspiel: Metta kann als »liebende Güte« übersetzt werden. Können wir, anstatt uns aus der Unordnung menschlicher Beziehungen in eine virtuelle Welt zurückzuziehen, unseren Gleichmut stärken und lange genug im »Schlamm« bleiben, damit der Lotus aufblühen kann? Wenn wir unsere inneren Ressourcen kultivieren, um die Spannung wie eine Gitarrensaite lange genug aufrechtzuerhalten, könnten unsere Verbindungen eine einzigartige Melodie freisetzen, die uns nicht nur zusammenbringt, sondern organisch ein Feld der Transformation für jeden kultiviert.

Denn ich denke, es besteht die Chance, dass die KI ein Werkzeug wird, das unsere innere Transformation unterstützt, uns wieder miteinander verbindet und Systeme kultiviert, die diese Werte stärken. Es gibt so viele Projekte, bei denen die KI beispielsweise die Sprache von hunderten von Pflanzen- und Tierarten lernt – in der Hoffnung, in Zukunft mit ihnen gemeinsam etwas zu schaffen!

Aber wir müssen lernen, die Grenzen zu ziehen. Wenn wir nur in einem endlosen Rennen immer schneller werden wollen, werden wir irgendwann abstürzen. Wenn man nach Wegen sucht, um der Menschheit zu dienen, kann man diese massiv disruptive Innovationswelle nicht ignorieren. Wir müssen zumindest versuchen, einen heilsamen Ausdruck dieser Möglichkeit zu finden, um den Inhalten einen Kontext zu geben.

e: Die KI ist gut darin, alle Arten von Inhalten zu erstellen. Was meinst du in diesem Zusammenhang mit dem Kontext?

NM: In einem Klassenzimmer sind die Algebra-Lektionen der Inhalt – aber der Charakter des Mathelehrers ist der Kontext. Wenn ich meinem Freund zum Geburtstag gratuliere, ist die Nachricht auf seiner Social-Media-Pinnwand der Inhalt, aber mein Wunsch für sein Wohlergehen ist der Kontext. Wenn meine Mutter mir eine Mahlzeit kocht, ist das Essen der Inhalt – aber ihre Fürsorge ist der Kontext.

Bei einem Retreat, das wir im Gandhi-Ashram abhielten, war eine der jüngsten Freiwilligen eine 19-Jährige, die verwirrt war, als jemand sie fragte: »Wenn du ein Geschenk machst, warum verpackst du es dann so lange?« Wie viel Wert eines Geschenks liegt in der Verpackung? In einer Welt, die von Inhalten beherrscht wird, entfernen wir ständig den Kontext – aber die Geschenke, die wir geben, oder die Worte, die wir sagen, sind immer von dem umhüllt, was wir sind. Die gleichen Worte, die gleichen Handlungen, die gleichen Gebete von zwei verschiedenen Menschen haben verschiedene Wirkungen. Das Medium beeinflusst die Botschaft. Und vielleicht ist das Medium selbst die Botschaft? Vielleicht besteht unsere größte Gabe nicht in dem, was wir erreichen, sondern wer wir durch unser Handeln werden. Beim Nachdenken kam die Teenagerin zu dem Schluss: »Man lehrt uns, das Geschenk zu sein, aber ich bin dazu berufen, die Verpackung zu sein.«

Daraus lässt sich eine wichtige Lehre ziehen: Der Inhalt konzentriert sich auf unser Selbstgefühl, während der Kontext das Selbst dezentriert. Wenn wir uns darauf konzentrieren, die Verpackung zu sein, überlassen wir das Geschenk der Gnade.

e: In der Erklärung von SerciceSpaceAI heißt es: »Wir können uns alle einen GandhiBot, MandelaBot und TeresaBot vorstellen, aber wie bauen wir ein Feld von Datensätzen, das viele Menschen mit vielen anderen verbindet? Und kann jemand seinen eigenen Bot mit einer Kombination aus PermacultureBot, MyMother´sBot und BuddhaBot erstellen? Was braucht es, um unendliche Kombinationen von Weisheit zu erzeugen?« Kannst du diese Vision etwas ausführen?

NM: Stell dir eine Welt vor, in der jeder von uns verschiedene Begleitroboter hat. Eigentlich müssen wir uns das gar nicht vorstellen. Jeder von uns hat es bereits in der Tasche, jedes Mal, wenn wir jemandem eine SMS schicken, gibt es Vorschläge für automatische Vervollständigung von Sätzen, was eine Form von Bot ist. Diese Einbindung von KI wird in den nächsten ein bis zwei Jahren noch zunehmen.

»Technologie ist am besten, wenn sie uns zu einer besseren Frage führen kann.«

Im Moment haben wir keine große Auswahl, was den Datensatz angeht, den wir für jeden der Bots verwenden. Aber was wäre, wenn wir Open-Source-Quellen für verschiedene »Persönlichkeiten« hätten, die wir in unsere vielen Apps integrieren könnten? Das ist nur eine Möglichkeit, Fragen wie »Was würde Gandhi tun?« zu demokratisieren. Oder »Was würde meine Mutter sagen?«. Im Moment stellen wir solche Fragen nur in bestimmten Momenten, aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, sie in die Grundlage der vielen Tools, die wir benutzen, einzubauen.

e: Welche Visionen hast du für ServiceSpace, um eine Rolle dabei zu spielen, KI mehr in Richtung Weisheit zu lenken?

NM: ServiceSpace ist mehr auf einen Prozess als auf konkrete Ergebnisse ausgerichtet. Vielleicht bietet dieser Prozess ein wenig Reibung, um ein kollektives Innehalten zu ermöglichen und ein tieferes Verständnis für die Ausrichtung der KI zu überdenken. Vielleicht können wir einzigartige Datensätze zu pro-sozialen Werten erstellen, die in größere Sprachmodelle integriert werden können. Vielleicht können wir eine Bewegung von Freiwilligen formen, die intrinsisch motivierte menschliche Kooperation mit der KI fördert. Und während wir mit all dem arbeiten, könnte im Raum zwischen uns allen etwas völlig Ungeahntes entstehen. Wir vertreten also keine technik­optimistische Sichtweise. Es ist eher ein auf Mitgefühl beruhender Optimismus.

1999 begann ServiceSpace mit der Erstellung von Websites für gemeinnützige Organisationen. Aber es ging uns nie darum, dass das Internet die Welt verändern und alles Leid beseitigen wird. Im Mittelpunkt unseres Ethos stand die Schaffung sinnvoller Möglichkeiten für Freiwillige. Ein kleiner Akt des großzügigen liebevollen Handelns lädt mich dazu ein, vom »Ich« zum »Wir« überzugehen, was von der Natur sofort durch die Freisetzung vieler Neurochemikalien in mir belohnt wird – es entspricht unserer Natur. Das lässt mich eine tiefere Verbindung mit dem Leben finden und kultiviert ein Feld kollektiver Intelligenz, das größer ist als die Summe seiner Teile. Das ist so tief mit dem verbunden, was wir sind, dass es einen selbstverstärkenden Kreislauf der Güte auslöst.

Wir möchten Prozesse implementieren, durch die Menschen den Maschinen etwas beibringen. Für ChatGPT wurden billige Arbeitskräfte online angeheuert, um es als Erstes auf den Markt zu bringen – und jetzt erfolgt das Lernen unter Maschinen. Solche Abkürzungen führen zu allen möglichen unbeabsichtigten Konsequenzen. Könnte stattdessen eine Wikipedia-ähnliche Gemeinschaft von Freiwilligen dabei helfen, diese Innovation in die richtigen Bahnen zu lenken? Bei ServiceSpace ist das immer unser übergeordnetes Ziel: Wie kann KI dabei helfen, Freiwillige zu mobilisieren, um die intrinsische Motivation zu nähren, Gemeinschaft zu kultivieren und unser Bewusstsein zu vertiefen? Wir betrachten diese Innovationen unter dem Blickwinkel der inneren Transformation, nicht nur auf der Ebene der Produkte, sondern der Prozesse.

Diese Frage bewegt uns: Wie kann KI genutzt werden, um sinnvolle Möglichkeiten für freiwilliges Engagement zu schaffen und eine gesellschaftliche Grundlage für intrinsisch motiviertes großzügiges, liebevolles Handeln zu schaffen? Wir sind der Meinung, dass eine solche Transformation unendliche Vorteile mit sich bringen wird – weit über die Erscheinungsformen des Internets oder der KI hinaus. Der Dichter Shantideva aus dem achten Jahrhundert spricht diese unendliche Zeit­linie an, wenn er sagt: »Solange der Raum andauert und solange es Lebewesen gibt, möge auch ich bleiben, um das Elend der Welt zu vertreiben.«

Author:
Mike Kauschke
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