January 24, 2018
Der Pluralismus der Postmoderne hat eine Vielzahl neuer Lebenswelten geöffnet. Doch die Kultur als Ganzes hat dabei ihre Mitte verloren. Heute stehen wir vor der Frage, was uns als Gesellschaft noch zusammenhält. Gibt es eine Dimension, in der wir uns bei aller kulturellen Verschiedenheit in der Einheit, die uns vor allem verbindet, wiedererkennen können?
Woodstock und andere Hippie-Happenings haben die Postmoderne mit farbenfrohen Bildern in unserem kulturellen Gedächtnis verewigt. An ihre dunklen Seiten, gewaltgeladene Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg in den USA oder der Terror der RAF in Deutschland, erinnern wir uns weniger gern. In den 50 Jahren seit ihrem weiträumigen Aufflammen haben postmoderne Ideen die westliche Kultur von Grund auf transformiert. Doch wirkt ihr Vermächtnis heute sehr zweischneidig. Die Sehnsüchte der Flower-Power-Generation nach Love, Peace & Happiness haben sich nur bedingt erfüllt. Die 1968er-Bewegung mit ihrer Zuwendung zum tieferen Sinn des Menschseins, zu Bewusstseinsentwicklung und Spiritualität, hat die großen Fragen des Lebens und seiner Einheit immer wieder berührt, doch hat sie uns vor allem ein buntes Mosaik kultureller Pluralität hinterlassen, das immer mehr auseinanderzufallen scheint. In den USA lässt sich die Frage, was eine Gesellschaft heute noch zusammenhält, seit der Trump-Regierung nicht mehr ignorieren. In Deutschland wurde sie nun durch das Ergebnis der Bundestagswahlen ebenfalls zum Politikum. Wo einstige Volksparteien zu Minderheiten zurechtgestutzt werden, lässt sich nicht länger verleugnen, dass das Gemeinwesen seine Mitte verloren hat.
Der Siegeszug der Liberalisierung von Lebensweisen und Lebenswelten hat die deutsche Kulturlandschaft über die Jahrzehnte durchpflügt. Kämpften einst versprengte Subkulturen gegen den Mainstream, ist der Mainstream längst selbst zu einer Art Subkultur geworden – und ringt mit seinen zahlreichen Wettbewerbern um die Deutungshoheit. Das Scheitern der Jamaika-Sondierungen hatte viel zu tun mit divergierenden Parteiinteressen. Doch sind diese nur ein Ausdruck der Fliehkräfte kultureller Diversität. Wo es kein klares Zentrum mehr gibt, werden die unzähligen kulturellen Milieus zur je eigenen Mitte. Manchmal ergeben sich dabei Schnittmengen, jedoch selten noch ein gemeinsamer Raum. Toleranz, Solidarität und Liebe waren einst Kern der postmodernen Vision. Ihre Ausläufer begegnen uns heute als Willkommenskultur, die lautstark artikulierte Ängste ausblendet, oder als Pluralismus, der den Wert von Werten negiert. Das reißt vielen Menschen den Boden unter den Füßen weg, weil der Kulturraum, der einst ein Ort kollektiver Identifikation war, immer mehr in lose Fragmente zersplittert und sie in einem Gefühl tief empfundener Heimatlosigkeit zurückbleiben. Vielleicht aber stehen wir nicht am Ende der Geschichte, sondern am Anfang einer neuen.
Als ich in den 1970er Jahren aufwuchs, war die Welt noch wunderbar übersichtlich. Mein ganzes Lebensumfeld schien in eine größere Ordnung eingebettet zu sein. Väter gingen arbeiten, Mütter kümmerten sich um Haushalt und Familie. Bei aller Verschiedenheit, die uns Kinder ausmachte, lebten wir in der Wahrnehmung, dass das Leben als Ganzes durch ein unsichtbares Gewebe zusammengehalten wurde. »Alle verfolgten einen ähnlichen Lebensstil«, sagt der Kulturphilosoph Andreas Reckwitz über diese Zeit. Sicher, unser Lebensraum war eine Klassengesellschaft, in der die materiellen und kulturellen Ressourcen ungleich verteilt waren. Selbst wir Kinder spürten das intuitiv. Und doch fügten sich die unterschiedlichen und teils auch ungerechten Lebensmöglichkeiten zu einem größeren Bild zusammen, das das Zusammenleben im Ganzen trug.
Heute scheint von der Geordnetheit meiner Kindheit nicht mehr viel übrig zu sein. Reckwitz beschreibt die Gegenwartsgesellschaft als einen Ort der Singularitäten, an dem eine Vielzahl möglicher Selbstverortungen miteinander konkurriert. Der neueste Trendreport des Zukunftsinstituts listet zum Beispiel 18 (!) Lebensstile auf, die das gesellschaftliche Territorium teilen. An die Stelle von Normalbiographien ist ein bunter Flickenteppich getreten. Wir können heute wählen, ob wir Gutbürger oder Nervösbürger, Neo-Biedermeier oder Digital Creatives sind – oder werden von unseren Lebensumständen in eine dieser Nischen geschupst. Die Vielfalt der Möglichkeiten suggeriert Entfaltungsfreiheit und ist doch immer noch von Hierarchien im Hinblick auf kulturelle und materielle Ressourcen durchsetzt. Reckwitz beschreibt das Bild einer »Drei-Drittel-Gesellschaft«: »Die neue Mittelklasse steigt über die Bildungsexpansion auf, die neue Unterschicht bewegt sich nach unten – und dazwischen haben wir die alte Mittelklasse.« Das Ganze bewegt sich auseinander. Und selbst die Mitte ist für viele nur noch ein Ort auf Bewährung, was, so Reckwitz »kulturelle Entwertung und Kränkungserfahrungen« mit sich bringt.
In meiner Jugend war das, was heute als kulturelle Unübersichtlichkeit und Zerrissenheit den Blick auf das mögliche Gemeinsame trübt, noch ein Versprechen, eine Chance. Meine Entscheidung, Kulturanthropologie zu studieren, war für mich ein Statement. Dafür, an einer besseren Zukunft mitzugestalten. Mein Herz war groß, für die Unterdrückten und Ausgebeuteten. Meine Feindbilder waren es auch. Wenn ich auf dem Campus den Perlenkettchen tragenden Jura-Studentinnen und den BWLern in ihren Barbour-Jacken begegnete, wähnte ich mich in meinen Batikhosen auf der richtigen Seite. Und Pierre Bourdieus Buch über »Die feinen Unterschiede«, eine der vielen Bibeln der Postmoderne, die die alte Autorität politischer und ökonomischer Macht durch eine Aufwertung sozialer und kultureller Qualitäten zu dekonstruieren begann, tröstete mich darüber hinweg, dass es mir wohl schwerer fallen würde als diesen Konformisten, später meinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Das besondere Spannungsverhältnis dieser Zeit habe ich erst in jüngerer Zeit wirklich zu verstehen begonnen. Die linksliberale Öffnungsbewegung, die mir meinen Lebensstil mit Rockmusik, Flaschenbier und DGB-Kundgebungen erlaubte, verhalf auch einer wirtschaftsliberalen Strömung zum Durchbruch, deren Werte von den unseren kaum weiter entfernt hätten sein können. Während wir uns im Kampf für kulturelle Vielfalt in eine Richtung aufmachten, franste die Gesellschaft am anderen Rand durch den Aufstieg der New Economy, Niedriglohnjobs und Leiharbeit immer mehr aus. Im Fahrwasser unserer Kritik an traditionellen Hierarchien und konservativen Werten erblühte eine moderne Leistungsgesellschaft, die mehr mit uns gemeinsam hatte, als wir ahnten, nämlich einen radikalen Selbstbezug. »Das liberale Paradigma hat einseitig auf Differenzen gesetzt und damit das, was für alle gleich ist oder sein sollte, vernachlässigt«, diagnostiziert Reckwitz. Wir mögen in unserem Denken von großen Visionen inspiriert gewesen sein, aber was verband uns eigentlich in der Tiefe? Mit dem Leben, mit jenen, für die wir zu kämpfen glaubten? Von denen, gegen die wir uns aufbäumten, ganz zu schweigen. Wir wollten die eine, bessere Welt und waren doch auch Separatisten.
In meinem Engagement in einer Kulturinitiative und in der Kommunalpolitik stieß ich immer wieder auf Menschen, die vor allem an sich selbst, an der Entfaltung ihrer persönlichen Ideen interessiert waren und weniger an etwas Größerem, das sie überstieg. Der Philosoph Wolfgang Welsch zeigt in seiner Vorlesungsreihe »Mensch und Welt«, wie diese grundsätzliche Getrenntheit aus dem aufklärerischen Aufbruch aus einer noch unmündigen Eingebundenheit in das Weltgeschehen erwuchs. Das Erstarken des Individualismus in der Moderne machte den Pluralismus der Postmoderne überhaupt erst möglich. Doch geriet in diesem gigantischen Prozess individueller Entfaltung immer mehr aus der Wahrnehmung, dass wir »von Anfang an im Konnex mit anderen Lebewesen« sind. In unserem Eintreten für Gleichberechtigung und Toleranz versuchten wir, neue Ganzheiten zu schaffen, doch wir taten dies aus unserem ureigenen Blickwinkel. Wir hatten damals keinen Sinn dafür, dass unser Engagement für Multikulti die Nöte derer ausblendete, die fürchteten, ihre Jobs an Zuwanderer zu verlieren und in ihrem Lebensumfeld zur Minderheit zu werden. Wir verstanden nicht wirklich, was es bedeutete, dass wir mit unseren progressiven Werten alles, was das Leben früherer Generationen ausmachte, mit Füßen traten und ihnen ihre Daseinsberechtigung absprachen. Und wir waren sehr erfolgreich. Heute bestimmt der postmoderne Wertekanon mit Gender Mainstreaming, Energiewende und Homo-Ehe wesentlich das öffentliche Leben. Doch die, die sich nicht gehört und gesehen fühlen, werden lauter, seien es Pegida oder AfD, Diesel-Verfechter oder Kohleausstiegs-Gegner, Europa-Skeptiker oder religiöse Fundamentalisten.
Wir wollten die eine, bessere Welt und waren doch auch Separatisten.
Viele Paradigmen der Postmoderne haben diese Erosion des Gemeinschaftlichen in den letzten 50 Jahren ungewollt vorangetrieben. Und doch sind es postmoderne Werte wie Mitgefühl und das Interesse am Anderen, die die Wahrnehmung wieder für die Verbundenheiten vor allen Unterschieden öffnen könnten. Wolfgang Welsch sieht im transversalen Denken, das statt vom Zentrum der eigenen Überzeugungen auszugehen, sich den Rändern des Umgebenden zuwendet, einen vielversprechenden Weg. Einem solchen Denken von außen nach innen, wie Welsch es nennt, geht es nicht um »ichliche Aktivität« oder »intentionale Weltstrukturierung«. Es fragt nach einer »andersartigen Wachheit und Feinheit des Bewusstseins«, durch die es »zu einer Stätte reiner, ungetrennter Präsenz der Welt« wird. Das Subjekt wird zum »Weltwahrnehmer« – »als reines Sensorium, als Ort, wo die Welt selbst sich wahrnimmt und erlebt«.
Die Transparenz, die Welsch anspricht, hebt das Ich über sein isoliertes Weltverständnis hinaus und lässt es den »Grund unserer evolutionären Herkunft«, die Einheit vor allen Unterschieden schmecken. Ich machte zu Beginn meines Studiums erstmals eine solche Erfahrung, als ich mit dem Meditieren begann. Schon nach kurzer Zeit blitzte in meiner Wahrnehmung etwas Allumfassendes auf, das für sich sprach, auch wenn ich keinen Namen dafür hatte. Es war ein Augenblick, der meine Beziehung zum Leben verändert hat, weil mir zum ersten Mal bewusst wurde, wie klein »meine« Welt eigentlich war und damit auch das, wofür ich so ambitioniert eintrat. Momente wie dieser, in denen im Bewusstsein etwas aufbricht, das eine größere Verbundenheit erahnen lässt, sind nicht von einer spirituellen Praxis abhängig. »Stundenlanges Wandern am Meer, das besondere Licht einer Landschaft – ich vermute, dass alle irgendwann solche Para-Erfahrungen machen«, so Welsch. Was wir verlernt haben, ist, sie als solche zu erkennen und ernst zu nehmen. Uns fehlt heute schlicht der kulturelle Resonanzraum dafür.
»Mit dem Beginn der postmodernen Kultur wird jede rückwärtsgewandte Sehnsucht nach dem Numinosen endgültig vertrieben«, schreibt der Kulturphilosoph Terry Eagleton in seinem neuen Buch »Der Tod Gottes und die Krise der Kultur«. Die Transzendenz der traditionellen Religionen ist uns heute fremd, weil diese wesentliche Errungenschaften unserer Individuation ausblenden. In der Überschätzung des Ichs halten wir die »große Totalität« (Eagleton), die alles einbezieht, selbst auf Distanz. Und doch lebt in uns die Sehnsucht nach einer Gemeinsamkeit weiter, die über das erhaben ist, was uns von anderen unterscheidet. Sie zeigt sich auch in den Lebensstilen, die das Zukunftsinstitut in seiner Studie beschreibt. Da gibt es die Neo-Hippies, die »im Zeitalter der Individualisierung ein neues Bewusstsein für Gemeinschaft als identitätsstiftende Kraft leben«, oder die Sinn-Karrieristen, die sich bewusst in einem »Verhältnis zur Welt« sehen. Es sind zarte Versuche, der tieferen Verbundenheit unserer Menschlichkeit in der Kultur einen zeitgemäßen Ausdruck zu verleihen.
In uns lebt die Sehnsucht nach einer Gemeinsamkeit, die über das erhaben ist, was uns von anderen unterscheidet.
Im Blick zurück können wir erkennen, dass die Postmoderne als eine der großen Aufbruchsbewegungen in der Menschheitsgeschichte auch eine eigene Tragik in die Dynamik kultureller Entwicklung gebracht hat, der wir uns heute bewusst stellen müssen. »Es geht darum, am Wert des Menschen festzuhalten und gleichzeitig seine Zerbrechlichkeit anzuerkennen«, beschreibt Terry Eagleton den großen Schritt, vor dem wir gerade stehen. Wir sind gefragt, unsere Liebe zu einer besseren Welt noch weiter werden zu lassen, sodass sie das Leben als Ganzes umarmt. Dazu gehört auch, die Beziehung zu all jenen nicht zu verlieren, deren Werte wir aus guten Gründen zutiefst ablehnen. Religiöser Fundamentalismus, neoliberaler Zynismus oder rückwärtsgewandte Nationalismen provozieren zu Recht unseren Widerstand. Und doch dürfen wir darüber die Menschen hinter diesen Haltungen nicht vergessen.
Ich fühle mich heute noch immer als Kämpferin. Doch das ungezügelte Vorpreschen meiner Jugend ist einem tieferen Mitgefühl gewichen. Meine inneren Antennen sind weiterhin ausgerichtet auf das Potenzial, das kulturell bereits in der Luft liegt und nur darauf wartet, gelebt zu werden. Doch mein Herz geht auch in Resonanz mit der Verletztheit und dem Schmerz derer, die noch nicht bereit sind für eine Zukunft, die uns alle meint. Es gibt keine einfachen Lösungen für ihre Angst, ihre Wut und ihre Ohnmacht, doch unsere nächste kulturelle Möglichkeit kann nur zu einer gemeinsamen werden, wenn wir sie genauso ernst nehmen wie unsere eigenen besten Absichten.