Wer hat die Zukunft getötet?

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Essay
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November 7, 2019

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Ausgabe 24 / 2019:
|
November 2019
Offene Heimat
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Am 21. Mai 2019 kamen 33 Wissenschaftler und Spezialisten am Tatort eines Mordes zusammen. Sie sprachen sanft, nickten freundlich, hielten gelegentlich inne, um die Beweislage zu betrachten, die sie gerade geprüft hatten, und über die sie respektvoll ein weiches Leinentuch gelegt hatten. Eine Abstimmung wurde beantragt. Stille legte sich über das Gemurmel. »Tot oder lebendig?«, fragte der Versammlungsleiter. 29 von 33 stimmten für »tot«. Die anderen vier sagten nein. Es gab keine Enthaltungen. Die Ja-Stimmen hatten gewonnen und der gemeinsame bebrillte Blick streifte über die Gesichter im Raum und blieb schließlich auf den verstümmelten Leichnam in der Mitte des Raumes gerichtet: die Zukunft.

Als ich kürzlich zu einer Zuhörerschaft an der Trent University, Nogojiwanang (Peterborough, Ontario) sprach, wurde ich zu einem lebenden Nachruf des Verstorbenen, der Erinnerungen an frühere Zeiten teilte, als die Zukunft noch jung und prickelnd war, unendlich optimistisch. Die Zukunft war ein junger verwegener Bursche mit einer glänzenden … Zukunft.

Aufgewachsen in Nigeria wurde ich wie die Kinder meines Alters dauernd gefragt, was ich werden wollte, wenn ich groß wäre. Meine Antworten variierten von Diplomat über Astronaut bis zum Mitglied der »Voltron Force«: Es war nicht so wichtig, solange ich auch das Recht hatte, etwas auf den Blankoscheck zu schreiben, den die Zukunft jedem anbot. Die Zukunft war die Landschaft verzauberter Träume, unendlicher Möglichkeiten. Ich schaute hoffnungsvoll auf sie. Das taten »wir« alle. Wir füllten sie mit fliegenden Autos, dem iPad 1000, unglaublich intelligenten Technologien, um das Wetter zu kontrollieren, Weltraumreisen, Weltfrieden und universelles Wohlbefinden. Lange Zeit erfüllte die Zukunft unsere gemeinsame Vorstellungskraft, gestaltete die moderne Zivilisation, stiftete zu imperialistischen Übernahmen »weniger entwickelter Völker« an, motivierte Anstrengungen zu technologischer Meisterschaft und kolonisierte unsere Imaginationen und Visionen vom Möglichen. Die Zukunft war die Zeitlichkeit des Fortschritts, sie führte als gleißender Leitstern die sperrige erd-formende Maschine der Metaphysik der Aufklärung. Sie war der Schlachtruf, weiter vorwärtszuschreiten, koste es, was es wolle.

Aber als ich zu den Zuhörern in Trent sprach und sie bat, die Augen zu schließen und sich das Leben auf dem Planeten im Jahre 2050 vorzustellen, war mir wieder sofort klar, dass die Zukunft ihren magischen Glanz verloren hatte. Anders als in meiner Kindheit floss das Feedback dieser mentalen Expeditionen in die Zukunft nicht vor Positivität oder Hoffnung über. Ihre Geschichten waren voller Überdruss: Dahin waren die zuckersüßen Vorstellungen glänzender Zuversicht und die beschwingten Melodien der Gewissheit. Es war, als ob sie wussten, dass eine Vorwärtsbewegung nicht mehr möglich war.

Zurück am Tatort (den sie jetzt das »Anthropozän« nannten) versuchte die chronologische Mordabteilung die Teile zusammenzufügen. Wer tötete die Zeit? Wer erstickte die Zukunft? Und am wichtigsten: Wann war die Zukunft gestorben?

Die meisten der 29 zustimmenden Wissenschaftler setzen den Todeszeitpunkt um das Jahr 1950 an, als radioaktive Granatsplitter nuklearer Bombentests weltweit festgestellt wurden. Andere setzen die Tat 12.000 Jahre zurück, als nach dem Rückgang der Eisplatten in der Eiszeit landwirtschaftliche Siedlungen entstanden. Nach anderen Berechnungen war die Mitte des 18. Jahrhunderts – als die Industrialisierung das soziale und ökonomische Leben neu strukturierte – ein Verdächtiger. Die verwirrende Uneinigkeit über die tiefen und verblüffenden Ursprünge des Anthropozäns schien jedoch zweitrangig gegenüber den andauernden Versuchen, die Zukunft wiederzubeleben – ihren lahmen Körper durch Elektroschocks zu beleben, damit sie wieder für uns funktionierte.

Die Zukunft war die Landschaft verzauberter Träume.

Als der Weltklimarat Ende letzten Jahres einen Bericht herausgab, der die Nationen dringend aufforderte, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, weil wir sonst in 12 Jahren (2030) eine Eskalation katastrophaler, unkontrollierbarer Klimaveränderungen riskierten, konnte man das Schnurren der Beatmungsmaschine auf dem ganzen Erdball hören. Ein technisch-bürokratischer Apparat versucht verzweifelt, den Zombie der Zukunft am Leben zu halten – ihn in frankensteinscher Manier wiederzubeleben. Mit fast jedem Klimamanagement oder jeder neuen Grenze für Kohlendioxidausstoß, berechnet auf die neue Deadline 2030 hin, wird der Versuch, die Metaphysik des Fortschritts zu sichern, von etwas Unerwarteten heimgesucht: der andauernden Schwingung anderer Zeitformen.

Die immer funkelnagelneue Zukunft mag tot sein und die Vorwärtsbewegung seltsam erscheinen, aber andere Wirkformen der Zeit sind »lebendig«. »Eine Milliarde schwarzer Anthropozäne« (nach Kathryn Yusoff), die verstreuten Überreste und Geister versklavter Migranten aus dem transatlantischen Sklavenhandel, das schreiende Blut der indigenen Nationen des Jamestown-Massakers von 1622, der 1995 fünfmal gehängte Nacken Ken Saro Wiwas, die 1945 von Bomben vergifteten Körper der Hibakusha – diese anderen »Anthropozäne« mindern das Vertrauen darin, dass wir kurzerhand die Zukunft reparieren und sie rechtzeitig für 2030 auf die eigenen Füße stellen können. Ein Aufstand von Zeitformen fließt in den Straßen, kaum sichtbare grauenerregende Körper, jetzt, da wir nicht mehr von unserem Zukunftsfetisch berauscht sind. Wir werden gut daran tun, sie draußen zu treffen, wo sie jetzt nach uns rufen.

Author:
Bayo Akomolafe
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