Wo der Riss ist, ist die Heilung

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Essay
Published On:

April 23, 2015

Featuring:
Raed Saleh
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Ausgabe 06 / 2015:
|
April 2015
Wir-Räume
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Fragen zur deutschen Identität

Pegida, Kurzformel für Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes, bringt in kürzester Zeit Zehntausende auf die Straßen, insbesondere im deutschen Osten. Die Sprache ist aufgeladen mit nationalem, patriotischem bis nationalistischem Gedankengut und erweist sich rasch als Einfallstor für rassistische und neonazistische Gesinnungen. Die Zivilgesellschaft steht auf; die Politik distanziert sich vehement. Die Antwort ist zu Recht eine entschiedene Zurückweisung. Doch reicht dies? Raed Saleh (SPD), Fraktionsvorsitzender mit Migrationshintergrund im Berliner Landtag, schreibt am 18. Februar 2015 in der „FAZ“: „Ich glaube all diese Diskussionen kreisen um eine zentrale Frage, die ungeklärt geblieben ist: Wie definiert Deutschland seine nationale Identität, auf welchem Fundament stehen wir?“
Identität ist immer wieder neu. Das gilt für jede Generation. Identitätsbildung im Osten und Westen Deutschlands geschah nach 1945 unter grundlegend unterschiedlichen Vorzeichen. Eine Identitätsbildung, in deren Zentrum die Nation stand, gab es eigentlich nur in der DDR, insbesondere in deren Anfangszeit. Die DDR begriff sich als das „Neue Deutschland“, als stolze Nachfolgerin, die ihre Existenz dem siegreichen Kampf der antifaschistischen Kräfte gegen Militär, Adel und Bürgertum verdankte. Stolz auf die Nation (später die Republik bzw. den Arbeiter- und Bauernstaat) zu sein, war nicht nur Propaganda; es war patriotische Pflicht und es war ein wichtiges Moment des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Insbesondere in der Frühzeit der DDR bezog man sich ganz selbstverständlich auf humanistische und idealistische Traditionen in Philosophie und Geistesleben Deutschlands und stellte sie in eine ungebrochene Linie mit den Protagonisten eines sozialistischen Aufbruchs. Ohne Scheu wurden die Liebe zum Vaterland, die Liebe zur Fahne, die Liebe zur Gemeinschaft der Werktätigen propagiert und zelebriert.
So waren Deutschsein, Deutschtum, deutsche Werte, deutsches Geistesgut, deutsche Ideale und ein Begriff von Heimat dem Denken in der DDR wohl vertraut. Sie haben sich ins kollektive Bewusstsein eingeschrieben. Viele, die sich diesem Denken entzogen, wanderten ab. Wer im Osten blieb, rückte noch mehr zusammen – zumindest so lange, bis Bespitzelung, Unterdrückung, Freiheitsentzug und Mangelwirtschaft immer unerträglicher wurden. Was 1989 folgte, war nicht nur der von vielen begrüßte Zusammenschluss mit dem reichen Westen, sondern auch der Verlust einer nationalen, sozialen und persönlichen Identität. Statt einer Willkommenskultur erlebte man westliche Arroganz und eine soziale, ökonomische und politische Vereinnahmung.

Identitätsbildung im Osten und Westen Deutschlands geschah nach 1945 unter grundlegend unterschiedlichen Vorzeichen.


Für all jene, die sich mit der DDR identifiziert oder sich mit ihr „eingerichtet“ hatten, immerhin ca. 2/3 der Bevölkerung*, brachten „Anschluss“ und „Abwicklung“ eine Traumatisierung und – wenn man 1945 hinzunimmt sogar eine Retraumatisierung.
Historisch betrachtet existierte in den neuen Bundesländern ein anhaltendes kollektives Vermächtnis, in dessen Fokus der Wille zur Gemeinschaft stand – zuerst der unter Führung des Monarchen, dann – nach kurzer Unterbrechung in der Weimarer Republik – unter Führung der Nationalsozialisten und schließlich unter Führung der SED und ihrer Kader. Jedes dieser Herrschaftssysteme appellierte an die Begeisterung der Bevölkerung und begründete seinen Anspruch auf Gefolgschaft mit nationalem Gedankengut (der sozialistische Internationalismus stand dem nicht im Wege). Die Nation (später der Arbeiter- und Bauernstaat) wurde als eine Werte- und Sozialgemeinschaft begriffen, die faktisch auf der Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen basierte. Im Kaiserreich waren es Sozialisten, Republikaner und zunehmend Juden, im NS-Staat jene, die nicht zur „Herrenrasse“ gehörten, in der DDR alle bürgerlichen Abweichler und heute sind es potenziell all jene, die kulturell als überfremdend erlebt werden. Vor diesem Hintergrund werden fremd anmutende kulturelle Einflüsse als eine Bedrohung der eigenen Identität erlebt – mehr als in den alten Bundesländern.
Anders die Situation im Westen. Für die alten Bundesländer war nach 1945 die Öffnung nach Westen eine Überlebensnotwendigkeit – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Waren die restaurativen Kräfte der frühen Bundesrepublik noch bemüht, den kollektiven Schatten der NS-Vergangenheit totzuschweigen, so wurde ihnen diese Möglichkeit spätestens mit Auschwitzprozess, Autoritarismusdebatte und 68er Generation unmöglich gemacht. Ein intensiver Prozess der Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe setzte ein, in dessen Zentrum das Ich stand, das Fragen stellte, herausforderte, aufbegehrte, wissen wollte. Westliche Freiheitswerte, Individualisierung und die Entfaltung, wenn nicht gar Entfesselung der Marktkräfte verstärkten sich wechselseitig. Nationale Identitätsbildung fand quasi nicht statt und wenn, dann in der Abwehr des NS-Erbes. Man war nicht Deutscher, man war Europäer, Weltbürger oder schlicht Individualist. Gemeinschaftswerte waren tendenziell verpönt, die Flagge – bis zur Fußballweltmeisterschaft 2006 – eher ein Tabu. Ganze Generationen von Westdeutschen schämten sich, Deutsche zu sein. Zugleich wurde der prosperierende Westen zunehmend zu einem Einwanderungs- und Zuwanderungsland.
Wie man sich den Gastarbeitern, den Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber verhalten sollte, die kamen, um zu bleiben, statt nur, um zu arbeiten, wusste man nicht so recht. Vor allem wollten sich die Bildungseliten und politischen Meinungsbildner im Westen nicht erneut vorwerfen lassen, fremdenfeindlich zu sein. So entwickelte sich auf der Basis eines unbewussten Schamaffekts eine Haltung des Nichthinschauens, wenn sich zeigte, dass sich z. T. Parallelgesellschaften entwickelten, deren Verhaltensweisen mit dem demokratischen und humanistischen Wertekanon der Mehrheitsgesellschaft unvereinbar waren und sind. Im Zweifelsfall ließ man den Dingen ihren Lauf, um nicht als Neonazi, Nationalist oder Rechter beschimpft zu werden.
Ost und West tragen in sich das Erbe unterschiedlicher Werteorientierungen (Gemeinschaft/Solidarität/staatliche Fürsorge vs. Individualismus/Konkurrenz), die bis in die Gegenwart fortwirken. Wie kann angesichts dessen Verständigung gelingen? Verständigung kann geschehen, wenn wir uns die Wirkkräfte im kollektiven Unbewussten vergegenwärtigen: Westlich sozialisierte Menschen können sich bewusst werden, dass die Scham gegenüber der eigenen Geschichte noch fortwirkt. Im Kontakt mit dem Schmerz über das Gewesene können sich Gelassenheit und Selbstwert entwickeln – gute Voraussetzungen, um für die Werte des eigenen Kultur- und Sprachraums einzutreten, und zwar nicht nur gegenüber muslimischen, sondern auch gegenüber US-amerikanischen Einflüssen.
Östlich sozialisierte Menschen können sich des nie thematisierten Autoritarismus bewusst werden und sich dem doppelten Trauma einer verlorenen Identität und den daraus resultierenden Sicherheitsbedürfnissen stellen. Dies kann das Bedürfnis mindern, die eigene Identität durch Ausgrenzung von allem, was fremd erscheint, zu sichern.
Voraussetzung dafür ist, dass die eigenen Scham- und Angstgefühle nicht einfach auf andere Gruppen projiziert und dort bekämpft werden. Unser Gegenüber hält uns den Spiegel vor. Er lädt ein zu Verstehen und Verständigung, damit wir die Spielregeln einer humanen und weltoffenen Gesellschaft aufrechterhalten können – selbst dann, wenn Unsicherheiten im Miteinander aufkommen.

* Vgl. dazu: „DDR-Forschung durch die Besuchertür“, in: „Neues Deutschland“ v. 19.02.2015, S. 2.

Author:
Prof. Dr. Barbara von Meibom
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