Würde – weil wir sie brauchen

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

July 18, 2019

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Ausgabe 23 / 2019:
|
July 2019
Was das Geld mit uns macht
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Ähnlich wie »Bewusstsein« ist auch »Würde« ein Begriff, bei dem wir gefühlsmäßig glauben zu wissen, was er bedeutet, so lange uns niemand nach einer Definition fragt. Und ebenso wesentlich wie »Bewusstsein« scheint die Würde zu sein, daher schmückt sie auch unser Grundgesetz gleich zu Beginn, um auf den Wert jeglichen Menschseins hinzuweisen. Sucht man nach den verschiedenen Aspekten der Würde, findet man in der Tat ein breites Spektrum und keine einfache Definition. Vielfach wird Würde dann zum Thema, wenn sich jemand missachtet, verletzt, benachteiligt oder schlecht behandelt fühlt. Dann greifen die Konzepte von Täter und Opfer und es scheint klar, wessen Würde wodurch genommen wurde. Und doch ist es mit der Würde nicht so einfach. Um das zu veranschaulichen, möchte ich eine eigene Arbeitsdefinition vorschlagen: Würde ist ein impliziter Wertschätzungsauftrag dem Leben gegenüber. Und dieser Wertschätzungsauftrag bezieht sich nicht nur auf unsere Mitwelt, sondern in allererster Linie auf uns selbst. Wenn jemand eine würdevolle Ausstrahlung besitzt, dann vielleicht deshalb, weil der eigene Wert des Daseins erkannt und respektiert wird. Und eine narzisstische Überhöhung findet nur deshalb nicht statt, weil im gleichen Sinne der Wert der Mitwelt erkannt und geliebt wird und aus dieser Liebe heraus gehandelt wird.

Doch was geschieht, wenn jemand sich unwürdig behandelt fühlt? Häufig gerät dann das eigene Selbstbild ins Wanken und die eigene Würde wird in dem Maße in Frage gestellt, in dem am eigenen Wert gezweifelt wird. Um die Kongruenz zwischen der Wertvorstellung der Mitwelt und gegenüber unserem eigenen Selbstbild zu wahren, opfern manche ihr »Sich-Würdig-Fühlen«. Manchmal tritt ein Kampf um die Wahrung der Würde ein, ein Kampf, der gefühlt wird, als ginge es um die eigene Existenz. Dann wird das Essenzielle an der Würde deutlich. Und doch gibt es Menschen mit einer hohen Resilienz gegen den Verlust ihrer Würde. Es gibt zahlreiche Berichte von Menschen, die ihre Würde selbst in Situationen wie in Konzentrationslagern bewahrt haben. Sie haben ihren Wertschätzungsauftrag weder gegenüber sich selbst, noch gegenüber der Welt aufgegeben. Und es erfordert eine immense Großherzigkeit, um der von außen an uns herangetragenen Entwertung zu widerstehen. Damit sind wir an einem wichtigen Aspekt der Würde im Zwischenmenschlichen angelangt: Würde braucht die ständige Bereitschaft der Vergebung, des Verzeihens und damit der Bereitschaft zur unvoreingenommenen Bejahung der Mitwelt. Würde und Güte und damit Liebe und Friede sind eng miteinander verknüpft.

Würde ist ein impliziter Wertschätzungsauftrag dem Leben gegenüber.

Was ändert sich, wenn wir diesem Wertschätzungsauftrag nachkommen? Vielleicht erkennen wir, welches unglaubliche Geschenk unsere bloße Existenz ist, und dass der eigene Wert durch äußere Anerkennung und Likes gar nicht aufgebessert werden muss. Die Menschheit scheint gerade wieder verstärkt zu erkennen, welches Wunder sich in der Vielfalt der Natur zeigt und welche Verantwortung in deren Erhalt steckt. Auch das ist ein Thema der Würde. Das Erkennen des Umgangs der Menschheit mit der Umwelt könnte uns beschämen und sollte gerade an unsere eigene Würde appellieren. Die Natur weist uns vielerorts durch nüchterne Zerstörung darauf hin, und gleichzeitig erfahren wir durch sie den unbeirrbaren Drang des Lebendigen zur Entfaltung seiner Lebenskraft. Sie klagt uns nicht an. Vielleicht ist es die Würde der Natur selbst, welche bewirkt, dass wir trotz dieses an sich würdelosen Umgangs mit ihr unsere Würde nicht verlieren, sondern jederzeit aufs Neue in eine anerkennende Beziehung zur Umwelt treten können. Als Bewusstseinsqualität reiht sich die Würde in die spirituellen Grundhaltungen mit ein. Darüber weiterzudenken, ist sicher spannend und lohnenswert – im Sinne unseres gesamten Menschseins.

Author:
Prof. Dr. Thilo Hinterberger
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