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Steht das Ende des Kapitalismus bevor? Öffentlichkeitswirksam vertritt der Star-Ökonom Jeremy Rifkin in Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft diese These. Unser Autor Carter Phipps ist ihr nachgegangen.
Das Ende des Kapitalismus anzukündigen ist seit langem ein eigener kleiner intellektueller Wirtschaftszweig. Einer der neuesten und fundierten Beiträge in diesem Genre ist Jeremy Rifkins Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Schon auf der ersten Seite schreibt Rifkin, dass „die Ära des Kapitalismus dem Ende zugeht, nicht schnell, aber unausweichlich.“ Der Architekt seines Niedergangs ist laut Rifkin nicht so sehr ein alternatives System oder der öffentliche Unmut über die Finanzkrise, sondern vielmehr ein Fehler im kapitalistischen System selbst, wobei der Technologie eine zentrale Rolle zukommt. Da sich Technologien weiterentwickeln und die Informationswirtschaft immer zentraler für die gesamtwirtschaftliche Produktion wird, beginnen die Grenzkosten zu fallen. Mit Grenzkosten sind die Kosten gemeint, die anfallen, um eine weitere Einheit eines Produktes herzustellen, und über die Fixkosten der Produktion einer ersten Einheit hinausgehen. Im Kapitalismus entspringt der Profit aus diesen Margen. Aber weil die Informationstechnologie sich ihren Weg durch alle Bereiche der Wirtschaft bahnt, brechen diese Gewinnmargen ein. „Das Phänomen der nahezu Null-Grenzkosten hat bereits die Verlags-, Kommunikations- und Unterhaltungsbranche revolutioniert, da Informationen Milliarden von Menschen so gut wie kostenlos zur Verfügung gestellt werden“, schreibt Rifkin. Und das ist nur der Anfang. Rifkin zeigt, auf welche Weise die Kräfte einer nahezu Null-Grenzkosten-Wirtschaft weitere Sektoren unserer Volkswirtschaften transformieren können, wie etwa den Sektor der erneuerbaren Energien (durch die geringen Kosten für Solartechnik), der höheren Bildung (durch MOOCs, also umfassende kostenfreie Online-Kurse) und der Produktion (mit 3D-Druckern). In allen diesen Industriezweigen sind die Prozesskosten immer noch erheblich, aber sie sinken sehr schnell, da sie exponentielle Innovationskurven aufweisen, die die Wirtschaft um einiges schneller verändern werden, als die meisten Experten voraussagen. Und all das wird durch das „Internet der Dinge“, wie Rifkin es nennt, bedient, unterstützt und verstärkt. Ein globales, intelligentes Netzwerk das überall und in fast alles eingebettet sein wird.
Rifkin betont die Tugenden eines neuen wirtschaftlichen Systems, das uns von den Schattenseiten des Kapitalismus befreien wird.
Als ausgebildeter Ökonom greift Rifkin auf unterstützende Daten zurück und führt Forschungen an, um genau zu zeigen, wie diese Veränderungen sich schon ihren Weg durch die Wirtschaft bahnen. Rifkin prophezeit, dass so, wie die Kosten sinken, Güter zunehmend kostenlos werden oder zumindest nahezu kostenlos, und unser Bedarf an Einkommen verschwinden wird. Und das ist auch gut so, denn es wird keine Arbeitsplätze mehr geben, zumindest nicht mehr die gutbezahlten Arbeitsplätze der Mittelklasse, die das Rückgrat des kapitalistischen Fortschritts bildeten. Rifkin berichtet aber nicht nur über diese Trends. Er ist genauso sehr ihr Fürsprecher, der die Tugenden eines neuen wirtschaftlichen Systems betont, das uns von den Schattenseiten des Kapitalismus befreien wird. Und wie jeder seriöse Theoretiker eines neuen Paradigmas hat er dem System, das der kapitalistischen Ära folgen wird, einen Namen gegeben – das „kollaborative Gemeingut“ als das ökonomische Paradigma des kommenden „Zeitalters des Überflusses“. Mit kollaborativem Gemeingut meint Rifkin das, was häufig als das „soziale Gemeingut“ oder die Zivilgesellschaft bezeichnet wird – der große, oft übersehene Wirtschaftssektor, der gemeinnützige Unternehmen, Nicht-Regierungsorganisationen, Freiwilligenverbände, regionale Gemeinschaften, Philanthropen, Onlinegesellschaften, soziale Unternehmensgründer und jede andere Art von Organisation umfasst, in der Sozialkapital eine gleichwertige oder sogar größere Rolle spielt als Finanzkapital. Diese Vision des kollaborativen Gemeinguts ist für Rifikin ein tiefes Anliegen. Als jemand, der den Großteil seines Erwachsenenalters in diesem Sektor gelebt und gearbeitet hat, war ich einerseits empfänglich für seine Aufmerksamkeit diesem Sektor gegenüber, andererseits hatte ich Bedenken. Ich weiß aus erster Hand, wie viele Menschen aus diesem Sektor mit den finanziellen Realitäten kämpfen. Rifkins Betonung der wachsenden Bedeutung dieses Sektors für unsere zukünftige Kultur ist inspirierend, aber die genannten Erfahrungen lassen mich zögern. Unsere Gesellschaft muss durch signifikante Veränderungen gehen, bevor das kollaborative Gemeingut ein eigenständiges Modell eines sich selbst-erhaltenden Wirtschaftssystems sein kann.
Im besten Fall ist Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft ein unglaublich informatives Buch, das eine zukunftsorientierte evolutionäre Vision der umfassenden technologischen Veränderungen zeichnet. Man muss Rifkin auch anrechnen, dass er die Rolle, die die Evolution unserer Kognition und unseres Bewusstseins in diesem Prozess spielen muss, würdigt. Zudem betont er die Notwendigkeit, uns zu empathischeren Menschen zu entwickeln, die zutiefst mit der globalen Menschheit verbunden sind und bewusster wahrnehmen, dass wir ein enges Beziehungsgeflecht mit der Biosphäre der Erde bilden. Jedoch gibt es Passagen, in denen sein Buch zu einem unreflektierten Sprachrohr für die optimistischsten Zukunftsentwürfe wird. Tatsächlich durchzieht das Buch eine gewisse Leichtfertigkeit angesichts des Endes des Kapitalismus und des Aufstiegs des „Zeitalters des Überflusses“. Seine Überzeugung basiert auf einem starken Vertrauen, dass die wohlstandsschaffende Funktion des Kapitalismus einfach durch den kostenlosen Überfluss der technologisch-fortgeschrittenen Null-Grenzkosten-Gesellschaft, in Kombination mit einer umfassenden Implementierung des kollaborativen Gemeinguts, ersetzt werden könnte. Dies ist eine Überzeugung, die hinterfragt werden kann. Rifkins Buch erkennt ein paar potenzielle Tücken auf dem Weg in die Zukunft an – darunter Netz-Neutralität, Klimawandel, Cyberterrorismus und eine feindliche Übernahme des Internets durch Unternehmen, – aber zum größten Teil beschreibt er einen „volle-Kraft-voraus-Ansatz“. Möglicherweise führt dieser Weg zum Ende des Kapitalismus und zum Aufstieg des kollaborativen Gemeinguts und ist das Instrument zur positiven Transformation der Gesellschaft. Möglicherweise wird eine aufstrebende Generation post-ideologischer, post-nationaler, post-kapitalistischer und post-ethnischer Kinder der Jahrtausendwende den Weg dazu bereiten. Es gibt viel Erhebendes in dieser Vision, aber auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung warten nicht zu verkennende Hindernisse, massive Verwerfungen und enorme Herausforderungen. Jede derart strahlende Zukunft wird nicht so leicht Wirklichkeit werden, und wenn wir zu lange in die Sonne schauen, kann das unserer Sehkraft schaden.
Author:
Carter Phipps
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