Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
October 19, 2016
Wie verändern die Informationsflut des Internets, erstarkender Populismus und die Krise des Öffentlichen unsere Demokratie? Für die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ist eine offene Gesellschaft die Basis jeder zivilgesellschaftlichen Partizipation.
evolve: Wie haben sich Ihrer Ansicht nach die Voraussetzungen für gesellschaftliches Engagement verändert?
Ulrike Guérot:Die Bedeutung von Institutionen wie Schule oder Universität hat sich verändert, sie repräsentieren keine gesellschaftliche Autorität mehr. Das gilt auch für andere gesellschaftliche Gruppen und Vereinigungen, wie Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände. Zum Teil wird das kompensiert durch andere gesellschaftliche Gruppen, die sich z. B. in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement ist eine Substitutionserscheinung für andere gesellschaftliche Strukturen, die verloren gegangen sind. Es ist auch noch nicht so organisiert, dass es sich zu einem Ganzen zusammenfügt, so wie früher staatliche oder gesellschaftliche Organisationen. Die Idee von Gesellschaft, der Begriff des »Wir« und der Begriff des Öffentlichen, wurde auf diese Weise aus dem Diskurs weitgehend verdrängt.
Im Zeitraffer des Internets
e: Der Begriff der Öffentlichkeit wird von verschiedenen Seiten her infrage gestellt, vor allem durch eine Individualisierung, die durch die Web-Medien neue Formen bekommen hat. Muss sich der Begriff von Öffentlichkeit dadurch auf einen ganz neuen Boden stellen?
UG: Wir erleben immer stärker die Öffentlichkeit im Zeitraffer des Internets. Ein Beispiel ist der Wandel von Printmedien zu Onlinemedien, wodurch Filter und Fokus verloren gehen. In Printmedien werden Artikel von gut ausgebildeten Journalisten recherchiert und geschrieben und von Redakteuren gefiltert. In Onlinemedien gehen diese Filter oft verloren. Außerdem entsteht durch die starke Beschleunigung eine enorme Informationsfülle.
Früher wusste die Intelligenzija eines Landes bei großen Themen, dass in den entsprechenden Referenzmedien alles Wichtige stand. Das haben wir unter den Bedingungen des Internets verloren. Jetzt besteht das Risiko der Segregation: Man schickt sich innerhalb seiner Gruppe oder Gemeinschaft die Links zu, die die gemeinsame Meinung bestätigen – erfährt aber nichts mehr über die Meinung der anderen Öffentlichkeiten.
Jede Generation generiert ihr Medium und dieses Medium gestaltet die Demokratie. Die Französische Revolution ist – mit einer gewissen Zeitverzögerung – eine Folge des Buchdrucks, denn erst seit dessen Erfindung konnte Schriftliches, und damit die Pamphlete der Revolution, gedruckt und vervielfältigt werden. Auch das Medium Internet verändert die Öffentlichkeit; die Demokratie, so wie wir sie kennen, wird im Internetzeitalter nicht mehr bestehen bzw. sich fundamental ändern.
e: Man könnte also fragen: Wie sieht Demokratie in Zeiten des Internets aus? Entsteht eine neue digitale Demokratie und wenn ja, wie könnte diese aktiv mitgestaltet werden?
¬ Freiheit ist nur da möglich, wo die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung zum mündigen Bürger besteht. ¬
UG: Wir sehen heute die Entkernung der physischen Präsenz. Professoren der Universität Princeton können Online-Kurse anbieten, die man von Sydney bis Wladiwostok besuchen kann. Was sind die Möglichkeiten und wo sind die Risiken, wenn Lernen oder auch Partizipation online vermittelt werden? Es entsteht ein enormer Möglichkeitsraum, im Extremfall die »Liquid Democracy«, wie sie den Piraten vorschwebt. Aber wollen wir wirklich permanent mit dem Smartphone oder dem Computer »Liquid Democracy« betreiben? Es kann so auch eine Art Tyrannei der Partizipation entstehen – das Internet suggeriert, dass wir bewegte Zivilgesellschaften sind, in denen alle bei allem mitentscheiden wollen. Aber haben wir Bürger nicht auch das Recht, gut regiert zu werden – von Eliten, die sich um das Gemeinwohl und das Volk kümmern, statt durch eine Tyrannei der Straße?
Diese Fragen zur Partizipation werden uns in Zukunft sehr beschäftigen. Inwieweit wollen wir die Möglichkeitsräume, die das Internet hierfür schafft, nutzen? Im lokalen oder regionalen Kontext könnte das Internet als Plattform dienen, um Politik in der Nähe erfahrbar und gestaltbar zu machen. In Spanien bietet die Partei Podemos Bürgern die Möglichkeit, sich auf städtischer Ebene an Gesetzgebungsprojekten zu beteiligen und dadurch direkt an der Demokratie mitzuwirken.
Öffentliches Bewusstsein
e: Durch die radikale Umwälzung der Medienrealität bekommt die Frage von öffentlichem und gemeinschaftlichem Bewusstsein eine neue Aktualität. Wenn öffentliches Bewusstsein nicht aktiv durch öffentliche Diskussion gestaltet wird, kann eine Stammtisch-Öffentlichkeit wachsen, die sich nach Stammtisch-Kriterien strukturiert.
UG: Menschen, die am unteren Rand der Gesellschaft leben, lassen ihre Wut und Verletztheit, die sie durch emotionale Rückschläge, Affekte und Kränkungen erlebt haben, durch Stammtischpolitik und das Schimpfen auf die Lügenpresse im politischen Furor heraus. Hinzu kommt, dass es ihnen an der Bildung und den Mitteln fehlt, in einer immer komplexeren Welt zurechtzukommen. Aus diesem Gefühl der Wertlosigkeit wird die persönliche Kränkung politisiert, wird zum politischen Affekt und endet im Populismus.
e: Spielt hier nicht auch die Wertelosigkeit von gesellschaftlicher Realität eine Rolle? Diese Negativspiralen, die Sie beschrieben haben, entwickeln sich ja in einem gemeinschaftlichen und letztendlich auch spirituellen Wertevakuum.
UG: Werte einer Gemeinschaft sind etwas anderes als Werte der Gesellschaft. Werte der Gemeinschaft können enger gefasst werden, weil eine Gemeinschaft sich den unterschiedlichsten Werten hingeben kann – z. B. dem Wert des Deutschtums –, während eine Gesellschaft notwendigerweise nur sehr allgemeine, umfassende Werte wie Toleranz, Freiheit, Sicherheit vertritt. In der Französischen Revolution waren es die Begriffe »Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit«. Wir haben heute die Freiheit des »Anything goes«, alles ist möglich, und dabei hat jeder auch die Freiheit zu scheitern. Aber das ist nicht die Freiheit der Französischen Revolution. Freiheit ist nur da möglich, wo die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung zum mündigen Bürger besteht. Hat ein Kind, das in der 3. Generation in einer Hartz-IV-Familie aufwächst, in diesem Sinne wirklich ein Freiheitsrecht? Hat es die Freiheit zu tun, was es will, ist es mündig und hat es die notwendigen Mittel?
Wir sehen heute ein etwas abgedroschenes Bekenntnis zu Werten, die ständig wiederholt werden: Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit usw. Aber ist Sicherheit tatsächlich der oberste Wert, den wir gegen Terrorismus verteidigen müssen? Sicherheit ist »nice to have«, aber sicher ist man auch im Gefängnis, d. h. das ist kein Wert an sich. Im Gegenteil zielt die gesamte abendländische Philosophie darauf hin, dass man im Zweifelsfall seine Sicherheit aufgeben muss, um die eigentlichen Werte – nota bene: Gleichheit und Freiheit – zu verteidigen. Man muss also prüfen, welches Wertesystem gilt. Ich möchte daher stark unterscheiden zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Wenn die Gemeinschaft gewinnt, die zur Durchsetzung ihrer Werte den Sicherheitsapparat oder gar das Militär beanspruchen kann, dann werden gesellschaftliche Werte nicht verteidigt, sondern außer Kraft gesetzt. Deshalb erleben wir eine inflationäre Rückkehr von vermeintlichen Werten, aber de facto einen Verlust von Werten in der Gesellschaft.
Alles steht in Wechselwirkung
e: Brauchen wir aber nicht auch einen dialogischen Prozess des stetigen Wertediskurses in der Gesellschaft und nicht nur im Bereich bestimmter Gemeinschaften? Denn auch in einem pluralen und dialogischen Kontext muss man sich auf etwas einigen, das gesellschaftlich trägt. Das bedeutet für die offene Gesellschaft, in der wir leben, dass wir uns auf Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, d. h. auf Solidarität ausrichten.
UG: Die Gesellschaft kann immer nur Formen der Toleranz moderieren und nicht die Werte vorgeben. Nehmen Sie das Beispiel der Ehe zwischen Homosexuellen: Eine katholische Gemeinschaft kann diese Form der Ehe beanstanden, die bundesrepublikanische Gesellschaft sollte sie verteidigen. Im Moment erleben wir mit dem Populismus und dem Regionalismus eine inflationäre Wiederbesetzung von konservativen Werten. Das ist an sich auch kein Problem, solange nicht bestimmte Modelle gegen die Interessen von anderen durchgesetzt werden. In vielen Debatten, die wir führen, z. B. über das Thema Betreuungsgeld, werden im Grunde Werte verhandelt und am Ende muss der Einzelne die Möglichkeit haben, frei zu wählen. Dazu braucht es eine offene Gesellschaft, in der diese Präferenzen permanent austariert werden, aber nicht zugunsten einer Gemeinschaft der Wenigen.
Wichtig ist es, dass sich im gesellschaftlichen Prozess die Kräfte der Öffnung durchsetzen, die auch den Begriff des Teilens beinhalten. In der Philosophie des Yoga heißt es: Wer sich schützen oder verteidigen will, der muss sich öffnen. Durch Schließung verteidigt man sich nicht, sondern landet in der eigenen Unfreiheit und letztendlich im geistigen Gefängnis.
Wenn es heißt, wir sollten Grenzen schließen und uns vor Flüchtlingen schützen, dann wird nicht berücksichtigt, dass alles in globaler Wechselwirkung steht. Denn die Flüchtlinge fallen ja nicht vom Himmel, die Ursachen haben mit uns zu tun. Sie sind Opfer der Kriege, die wir führen, oder der Waffen, die wir liefern. Oder man könnte im Sinne von Kant rational sagen: »Was du nicht willst das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu.« Man kann es auch karmisch auflösen: Alles steht in Wechselwirkung, alles hat mit allem zu tun, und Prozesse, die wir selbst auslösen, kommen auf die eine oder andere Weise zu uns zurück. Es geht um einen verantwortlichen Umgang mit der Herausforderung des 21. Jahrhunderts, eine Agenda der Öffnung zu organisieren, mit dem Ziel, gemeinsam in EINER Welt zu leben. Man kann nicht auf der einen Seite günstige Handytarife fürs Ausland wollen, permanent nach Thailand fliegen und Erdgas aus Russland beziehen und dann sagen, die nationalen Grenzen sind statisch. Da gilt es hinzusehen und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und diese Öffnungsagenda zu verteidigen.
Das Gespräch führte Thomas Steininger.