Aus dem Halbschatten treten

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 31, 2019

Featuring:
Alan Lightman
Alec Schaerer
Galileo Galilei
Hartmut Rosa
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Issue:
Ausgabe 21 / 2019:
|
January 2019
Die Zukunft der Religion
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Das Unverfügbare, das uns trägt

Viele Herausforderungen unserer Zeit fragen uns danach, wie wir dem begegnen können, was sich unserer Beherrschbarkeit entzieht. Das, was uns übersteigt, war über Jahrtausende gehalten von Religion und Glauben. In säkularen Kulturen bricht es über uns herein und hält uns unsere existenzielle Ungewissheit erneut vor Augen. Wie können wir auf zeitgemässe Weise darauf antworten und damit wieder in einer lebendigen Beziehung sein?

Es muss ein großer Moment gewesen sein, als Galileo Galilei 1609 als erster Mensch durch ein Fernrohr zu den Sternen blickte, denn hier begegnete das Staunen über die Rätsel des Lebens wie nie zuvor der Möglichkeit eines tieferen Durchdringens und Verstehens. Die Kirche ahnte, welcher Umbruch hier in der Luft lag und bekämpfte sein wissenschaftliches Wirken, wo es nur ging. Doch der Vorhang war gelüftet. Der Mensch war mit einem Mal nicht mehr nur Spielball unergründlicher, kosmischer Kräfte und suchte im Glauben Zuflucht vor den Unwägbarkeiten des Lebens. Er begann, sich als Akteur zu erkennen, der Einfluss nehmen konnte.

Heute ist es uns möglich, Sonden ins Weltall zu schicken und immer mehr seiner Geheimnisse zu entschlüsseln. Und doch wissen wir bis zum heutigen Tage nicht, wie groß dieser unermessliche Raum tatsächlich ist. Allein das, was wir erfassen und messen können, ist überwältigend. Die Wissenschaft geht davon aus, dass das beobachtbare Universum einen Durchmesser von etwa 93 Milliarden Lichtjahren hat. Es ist eine Größenordnung, die in unserem verkörperlichten Hiersein nicht zu verdauen ist. Manche mag diese Dimension in ehrfürchtiges Staunen versetzen, andere in Angst, denn es lässt sich nicht leugnen, dass wir hier etwas begegnen, das uns immer noch übersteigt. »Die wissenschaftlich und technisch, ökonomisch und politisch verfügbar gemachte Welt scheint sich uns auf geheimnisvolle Weise zu entziehen und zu versperren, und mehr noch: Sie erweist sich als bedroht und bedrohlich gleichermaßen«, so der Soziologe Hartmut Rosa in seinem gerade erschienenen Buch »Unverfügbarkeit«.

Im Blick durch ein Teleskop in die Sterne begegnet das Staunen über die Rätsel des Lebens der Möglichkeit eines tieferen Verstehens.

Mit unseren weltlichen Fähigkeiten und unserem Wissen haben wir das Himmlische des Himmels entzaubert. Darüber haben wir den Sinn dafür verloren, wie bescheiden unser Einfluss nach wie vor ist. Klimawandel und Kriege, Flüchtlingsbewegungen und Wirtschaftskrisen kommen uns als die Unbeherrschbarkeiten unserer Zeit entgegen. Und irgendwie spüren wir, dass wir allein aus uns selbst heraus kaum darauf antworten können. Brauchen wir vielleicht, gerade weil unsere Kultur heute eine weitgehend säkulare ist, die das Mysterium meidet, eine neue Beziehung zu dem Allumfassenden, das wir uns wahrscheinlich niemals gänzlich werden aneignen können?

Shirin Abedinirad
Beherrschen wollen

Über weite Teile der jüngeren Menschheitsgeschichte eröffnete Religion die Räume, in denen dieses Unfassbare zusammengehalten wurde und so von der Gemeinschaft getragen werden konnte. Die Beziehung zum Mystischen spendete nicht nur Trost in dunklen Stunden, sie öffnete den Geist auch für das Licht, in das wir Menschen als stetig uns entwickelnde Wesen hineinwachsen können. Rationalität und Wissenschaft und unsere Fähigkeit, als selbstbewusste Individuen zu handeln, entwickelten sich auch aus unserer Beziehung zu dem, was so viel größer ist als wir selbst. Dieses Unverfügbare war der Raum, in den wir uns hineinentfalteten. Und mit jeder neuen Fähigkeit entzauberten wir ein bisschen mehr von dem, was zuvor ein Mysterium war. Heute, im Zeitalter des Anthropozän, ist nicht mehr Gott der Schöpfer der Welt, in der wir leben, sondern sie wird immer mehr zu unserer eigenen Kreation.

Doch dieser Fortschritt und unsere wachsende Erkenntnis werfen uns auch auf eine Weise auf uns selbst zurück, die uns vielfach gar nicht bewusst ist. Wo wir den grenzenlosen Raum ausblenden, der den Hintergrund des Lebens als Ganzem bildet, verkümmert unsere menschliche Reichweite auf das, was wir gerade so wahrnehmen können. Alles, was darüber hinaus geht, wird in gewisser Weise wieder zu Niemandsland. Es ist ein existenzielles Paradox. Am Anfang wussten wir nichts, doch wir hatten eine Beziehung zu diesem allumfassenden Unbekannten. Und so wurde jeder unserer Versuche, uns zu strecken, zu einer Bewegung in diese Grenzenlosigkeit hinein. Unter den Vorzeichen von Rationalität und Wissenschaft verschwindet dieses Numinose wieder vom Radar. Und wir agieren auf überschaubarem Terrain. Wir mögen immer noch zu den Grenzen dessen streben, was wir bereits wissen, und wir versuchen, sie zu durchbrechen. Doch die unglaubliche Zugkraft, die das Anerkennen des Unverfügbaren mit sich bringt, scheint dabei verloren zu gehen.

»Die Idee der Kreativität war ursprünglich den Werken der Götter vorbehalten, die aus einem universalen Bewusstsein heraus ihr Werk vollbrachten«, beschreibt der Schweizer Philosoph Alec Schaerer eine Schöpfung, die aus Grenzenlosigkeit erwächst. Und er kritisiert, dass unsere Beziehung zum Leben und zur Welt immer mehr zu einer »Aktivität des bloßen Machens« verkümmere, weil diese Universalität dem wissenschaftlichen Geist kaum noch zugänglich sei. Dadurch verliere er immer mehr die Fähigkeit zu einem »allumfassenden Verstehen«. Das Perfektionieren unserer Fähigkeiten mag uns ein Gefühl von Wirksamkeit, vielleicht sogar von Kontrolle vermitteln. Doch die Realität, in der wir uns bewegen und die wir erreichen, ist eine schrumpfende. »Das momentane Stadium menschlicher Evolution lässt sich charakterisieren als eine umfassende Verführung durch die Illusion, dass unser Vorherrschen Probleme lösen wird. Ein Preis, den wir für diese Illusion zahlen, ist, dass unser Geist sich in konzeptuellen, selbstinduzierten Feedbackschleifen verschleißt. Ein wirklich unkompromittiertes Denken kann sich diesen konzeptuellen Halbschatten nicht leisten, es muss die Totalität adressieren und es muss das klar und deutlich tun«, so Schaerer.

Ausgeliefert sein

Der Soziologe Hartmut Rosa kommt zu einer ähnlichen Wahrnehmung: »Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.« In unseren Versuchen, Probleme unter Kontrolle zu bringen, zerrinnt uns die tiefere Lebendigkeit des Lebensprozesses zwischen den Fingern, ja sie wendet sich sogar gegen uns. »Indem wir auf allen Ebenen auf die Verfügbarmachung von Welt zielen, begegnet uns die Welt stets als ›Aggressionspunkt‹ oder als Serie von Aggressionspunkten, das heißt, von Objekten, die es zu wissen, zu erreichen, zu erobern, zu beherrschen oder zu nutzen gilt, und genau dadurch scheint sich uns das ›Leben‹, das, was die Erfahrung von Lebendigkeit und Begegnung ausmacht, zu entziehen, was wiederum zu Angst, Frust, Wut, ja Verzweiflung führt«, so Rosa.

In seiner grundsätzlichen Verfassung war Leben immer ein ausgeliefertes. Die spirituellen Traditionen sprechen aus gutem Grund so oft von Hingabe. Nahezu über die gesamte Spanne der Menschheitsgeschichte haben wir uns mit Haut und Haar in ein Unbekanntes hineingelehnt und waren so in Fühlung mit allem, was das Leben ausmachte. Religion war und ist in diesem menschlichen Entfaltungsprozess immer mehr als göttlicher Trost und das Versprechen von Transzendenz oder Erlösung. Sie hält die Tür offen zu allem, was ist. Doch im Zuge der Säkularisierung westlicher Kulturen schwindet immer mehr das Interesse, durch diese Tür wirklich hindurchzugehen. Die Säkularisierung hat eine Fragmentierung unserer Beziehung zum Leben mit sich gebracht. Heute empfinden wir uns nicht mehr als Wesen, die mitten in die Stürme des kosmischen Lebensprozesses hineingeworfen sind und sich ungeschützt seiner überwältigenden Dimension stellen müssen. Wir schaffen uns Nischen des Beherrschbaren und versuchen, uns dort so gemütlich wie möglich einzurichten.

In einer Studie, die ich für die Identity Foundation, eine gemeinnützige Stiftung für Philosophie, realisiert habe, zeigte sich, dass für die große Mehrheit der Deutschen ihre Beziehungen in Familie und Bekanntenkreis ihr wesentliches Bindeglied in der Auseinandersetzung mit dem Leben und der Welt sind. Mit den großen Lebensfragen beschäftigen wir uns vor allem dann, wenn sie in diesem Beziehungsfeld aufscheinen. Es ist ein privatisierter Weltbezug. Die Wissenschaft, die immer mehr des Undurchschaubaren in uns Verfügbares wandelt, ist nur für ein Drittel der Bevölkerung eine Instanz, die ein tiefgehendes Verständnis der größeren Lebenszusammenhänge vermittelt. Bei allem Verstehen und Durchdringen spüren wir unbewusst, dass es für die großen Herausforderungen, in die das Leben uns immer wieder stellt, keine Lösungen gibt. Der rationale Zugang gibt uns keine Rezepte an die Hand, mit denen einfach alles gut wird. Das auszuhalten, ist unglaublich schwer.

Unter den Vorzeichen von Rationalität und Wissenschaft verschwindet das Numinose vom Radar.

Transparent werden

Seit der Aufklärung haben die westlichen Kulturen von der Hoffnung gelebt, dem menschlichen Dasein durch wachsendes Verstehen Sicherheit zu geben. Heute erkennen wir: Je mehr Geheimnisse wir lüften, umso größer wird auch das Mysterium. In den Augen Hartmut Rosas ist das Projekt der Moderne, sich die Welt aneignen zu wollen, längst an seine Grenzen gestoßen. Wir haben die letzten Jahrhunderte damit verbracht, uns immer mehr an den Rand des Lebens zu bewegen, um es uns aus dieser Beobachterposition einzuverleiben. Vielleicht ist nun die Zeit gekommen, auf neue Weise wieder einen Schritt nach vorne zu machen, wieder auf das Leben im Ganzen zuzugehen. Rosa spricht von einem Prozess des »Anverwandelns «, in dem wir unsere Umgebung nicht mehr nur zu formen versuchen, sondern uns von ihr auch verwandeln lassen.

Man mag einwenden, dass sich die Entwicklung unseres Bewusstseins und unserer Fertigkeiten schon immer in einem solchen Wechselspiel vollzogen hat. Doch dass wir dabei unseren Standort kategorial gewechselt haben, hat dieses Spiel existenziell verändert. Wir stellen uns dem Leben schon lange nicht mehr zur Verfügung. Und wir fürchten sogar, zum hilflosen Spielball all der Kräfte zu werden, die wir nicht beherrschen können. Was aber wäre möglich, wenn wir uns im Bewusstsein all unserer schon entwickelten Möglichkeiten wieder in diese kosmische Bewegung hineinbegeben? Wenn wir transparent werden für das Unerklärliche und es durch unsere Fähigkeiten unmittelbar wirken lassen? »Es ist so simpel und so naheliegend, dass es unserem Alltagsbewusstsein leicht entgeht: Anstatt unsere Fragen direkt anzugehen, können wir unsere geistige Stärke dazu nutzen, uns so vollständig wie nur irgend möglich für das zu öffnen, worum es gerade geht, und seinem Wesen erlauben, uns zu durchdringen. Wenn wir es uns erlauben, uns in den allumfassenden Verbundenheiten meditativ zu verwurzeln, kann uns bewusst werden, dass jede Geste diesen allumfassenden Verbundenheiten ganz organisch eine Antwort entlockt«, sagt der Philosoph Alec Schaerer über dieses unmittelbare Zusammenwirken von Mensch und Mysterium.

Sich tragen lassen

Wissenschaft und Spiritualität, Geist und Glaube, sind in dieser Bewegung keine Gegenspieler, sondern werden zu Verbündeten. Der renommierte Astrophysiker Alan Lightman beschreibt in einem seiner literarischen Werke über seine Sommeraufenthalte in Maine einen solchen Moment, in dem das Unbegreifliche ihn an seinem Geheimnis teilhaben ließ: »Ich lag im Boot und schaute nach oben. Ein sehr dunkler Nachthimmel, vom Ozean aus betrachtet, ist eine mystische Erfahrung. Nach wenigen Minuten hatte sich meine Welt aufgelöst in diesem sternenübersäten Himmel. Und ich fiel in die Unendlichkeit. Ich spürte eine überwältigende Verbindung zu den Sternen, als wäre ich ein Teil von ihnen. Ich fühlte mich verbunden mit der ganzen Natur und dem gesamten Kosmos. Ich spürte eine Verschmelzung mit etwas so viel Größerem als ich selbst, eine große und ewige Einheit, ein Fingerzeig von etwas Absolutem.«

Je mehr Geheimnisse wir lüften, umso größer wird auch das Mysterium.

Lightman erforschte in Harvard und am MIT alternative Feldtheorien der Gravitation. Als Wissenschaftler griff er nach den Sternen – und er ließ immer wieder zu, dass die Sterne auch nach ihm griffen. Er betrachtet sich selbst als Atheisten und unterscheidet klar zwischen den Gesetzen der Wissenschaft und dem, was sich in ihnen nicht fassen lässt. Und er erkennt an, dass beide Dimensionen sich nicht ausschließen müssen. »Glaube in seinem weitesten Sinn ist so viel mehr als der Glaube an die Existenz Gottes oder die Ablehnung wissenschaftlicher Beweise. Glaube bedeutet die Bereitschaft, uns von Zeit zu Zeit etwas anzuvertrauen, das wir nicht wirklich verstehen, in Dinge zu vertrauen, die größer sind als wir selbst«, sagt er. Sind wir dazu bereit, kann Wissenschaft mehr sein als der Versuch, das, was wir nicht verstehen und was uns vielleicht sogar ängstigt, doch irgendwie zu fassen zu bekommen. Und Spiritualität kann mehr sein als eine Flucht in die Geborgenheit der Transzendenz. Dort, wo beide Welten sich berühren, kann das Unverfügbare durch uns wirken. Und in dieser Bewegung trägt es uns.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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