Anfang Oktober 2017 fand in Berlin eine Konferenz über Geoengineering statt. Dort wurden Zukunftsbilder darüber entworfen, wie man die Klimaveränderung technologisch beeinflussen kann. Wenige Tage später schien die Natur einen Kommentar zu diesen Überlegungen zu liefern. Es war schönes, warmes Wetter angekündigt, aber es blieb nebelig und kühl. Den ganzen Tag über wurde es nicht richtig hell. Die Sonne war wie in ein weiches, leicht orangenes Licht eingehüllt. Gegen Abend erfuhr ich, dass die Trübung, die merkwürdige Farbe und die eher unangenehme Stimmung durch die Asche der Waldbrände in Portugal sowie den Sahara-Sand in der Luft verursacht waren. Ein Lehrbeispiel dafür, dass die Grenzen, die wir Menschen ziehen, nichts mit dem Organismus Erde zu tun haben. Berichte über Stürme, Waldbrände und Überschwemmungen häufen sich. Bei vielen Menschen entsteht ein Gefühl von Bedrohung und Machtlosigkeit. Berichte über Grausamkeiten und Versagen lösen zusätzlich Angst aus.
Als Reaktion auf die Herausforderungen unserer Zeit gibt es weltweit den Ruf nach Mauern, nach Abgrenzung, nach Schutz und Bewahrung der eigenen Identität. Es geht dabei nicht nur um Trump oder Neonazis. Diese Reaktionen können ganz subtile Formen annehmen, die nach einem genaueren Hinschauen verlangen. Aufgrund aktueller Anlässe ist das selbstkritische Bewusstsein vieler Menschen in Nordamerika gewachsen. Die Critical-Whiteness-Bewegung lenkt den Blick darauf, wie traditionelle Gegenstände, Rituale, Musik, Kunst und Kleidung der Minderheiten im eigenen Land oder von Kulturen in anderen Weltgegenden benutzt und oft kommerzialisiert werden. Dies sei eine späte Form der Kolonialisierung und Dominanz.
Freunde aus den USA, die in einer kleinen Unistadt im Mittleren Westen ein Café-Restaurant betreiben, wollten zur Einführung von Frühstücks-Tacos als neues Menüangebot ihre Räumlichkeiten mexikanisch dekorieren. Dies löste heftige Diskussionen bei der studentischen Kundschaft aus. Es wurde ihnen als Aneignung von fremdem Kulturgut ausgelegt. Zwei kanadische Freundinnen, die zu Besuch waren, taten sich schwer damit, als sie mitbekamen, dass in Deutschland Schwitzhüttenzeremonien durchgeführt werden. Sie erzählten über die kulturelle Entwurzelung der indigenen Bevölkerung und wie mehrere Generationen für jegliche Ausübung ihrer Rituale oder für das Sprechen ihrer Sprache verfolgt und bestraft wurden. Sie erlebten die Durchführung dieser Zeremonie außerhalb des ursprünglichen Kontextes nicht in erster Linie als eine Wertschätzung oder Würdigung dieser Tradition, sondern eher als eine Vereinnahmung.
Mauern werden keine Stürme aufhalten, Brände löschen oder Klimaflüchtlinge verhindern.
Die Fragen, die aufgrund beider Erzählungen in mir geweckt wurden, begleiteten mich eine ganze Weile. Ich fand es wichtig, für diese Themen sensibilisiert zu werden und genauer hinzuschauen. Zugleich lauerten dahinter der Abschottungsreflex sowie der Ruf nach einer Leitkultur. Wenn man im Ruhrgebiet lebt, ist dies offensichtlich ein unhaltbares Konzept, das Kultur als etwas Einheitliches und Begrenztes betrachten möchte. Der Pott ohne Buden, Hinterhofmoscheen, Tattoo-Studios, Yoga-Kurse bei der VHS und Fast-Food-Ketten wäre undenkbar. Neben den deutschen Schrebergärtchen gibt es auch türkische und andere. Wie Max Frisch pointiert formulierte »Wir haben Arbeitskräfte gerufen – und es sind Menschen gekommen.« Wer darf Döner oder Pizzen verkaufen? Wann handelt es sich um mangelnden Respekt und Dominanz statt um Integration und kulturellen Austausch?
Das Ausmaß der ökologischen und sozialen Schwierigkeiten, die durch die Medien und im Alltag sichtbar und erlebbar werden, ist groß und komplex. Mauern werden jedoch keine Stürme aufhalten, Brände löschen oder Klimaflüchtlinge verhindern. Wir sitzen im selben Boot. Es gibt nur eine Menschheit, eine Welt. Dennoch: Welche Grenzen braucht es? Wie sieht Respekt vor Eigenheiten aus? Wie kann kollektive Heilung geschehen? Was ist rückwärtsgewandt, was ist zukunftsweisend? Wenn das Bedürfnis nach Identität, Geborgenheit und Sicherheit in der heutigen Zeit so groß ist, was schafft Zusammenhalt und kann eine hilfreiche Antwort auf das Gefühl von Bedrohung sein?
Ein Konzert im Bochumer Planetarium brachte etwas von dem, wonach ich innerlich Ausschau hielt, für mich ins Bild. In der Kuppel waren Projektionen aus dem Weltall zu sehen: Sterne über Sterne, aus sich selbst leuchtende Pünktchen. Als Zuschauer konnte man sich wohl kaum dem Staunen darüber verschließen, wie sich die Erde in diesem unendlichen Raum bewegt – wie eine Seifenblase, wie ein Ball, von unsichtbarer Hand geworfen. Für den gedankenfreien Blick auf diese wunderschöne blaue Kugel mit ihren Wolkenschlieren und Kontinenten gab es keine der Grenzen und Herausforderungen, die uns auf diesem Planeten beschäftigen. Mantren aus verschiedenen spirituellen Traditionen erklangen. Zu den Stimmen gesellten sich die Klänge von Gongs, Klangschalen, Harfe, Tabla, Flöte, Trommeln, Gitarre. Sowohl die Musiker als auch die Instrumente hatten ihre Wurzeln in unterschiedlichen Gegenden dieser Erde. Hier entstand ein Raum, in dem so manches Problem aus dem Blickfeld verschwand und Platz machte für ein tastendes Sich-Verbinden mit dem Unbenennbaren, dem Unfassbaren, dem Heilen und Heiligen – da draußen und in uns selbst.