Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 30, 2020
Richard Rohrs wichtigste spirituelle Lehrerin in den letzten Jahren war seine Labradorhündin Venus. Ihr widmet er sein neues Buch »Alles trägt den einen Namen«, und er meint es ganz wörtlich und ohne Augenzwinkern, wenn er in dieser Widmung formuliert: »Ohne … Angst vor Häresie kann ich mit Fug und Recht sagen, dass auch Venus für mich Christus war.«
Denn »Christus«, das ist für Richard Rohr schlicht »ein anderer Name für jedes Ding«. Alles, das ganze Universum, jeder Stern, jede Pflanze, jedes Tier und auch jeder Mensch ist für ihn Christus. Damit betreibt er allerdings keine Vereinnahmung der Welt für einen konfessionell christlichen Glauben; ausdrücklich betont er: »Du musst die universale Manifestation aber nicht Christus nennen, um ganz und gar in ihr zuhause zu sein und ihre immensen Früchte zu genießen.« (S. 303) Das ganze Buch atmet einen Geist der Weite und Freiheit, der nichts von missionarischem Eifer oder Abwertung anderer Denk- und Glaubensrichtungen an sich hat. Voll Wertschätzung, ja Hochachtung spricht Rohr von seinen Freundinnen und Freunden, die anderen Religionen oder auch keiner Religion angehören.
Dreh- und Angelpunkt, um den das Buch kreist, ist die Inkarnation, die »Fleischwerdung« Gottes. Während die traditionell christliche Lehre davon ausgeht, dass Gott einmal »Fleisch« wurde, nämlich in dem historischen Menschen Jesus von Nazareth, spricht Rohr von einer »ersten Inkarnation«, die vor 14,8 Milliarden Jahren stattgefunden habe, als Raum, Zeit, Energie und Materie in einem Urknall in die Existenz sprangen. Gott, die wohlwollende Urkraft, der liebende Wille in und hinter allem, was ist, hat sich selbst in unser Universum gegeben. Diese Idee einer »ersten Inkarnation« fasst Rohr zusammen in dem mehrfach wiederholten Satz: »Gott liebt Dinge, indem er sie wird.«
Zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt gab es dann eine »zweite Inkarnation«, eben in dem Menschen Jesus. Wesentlich ist also die Unterscheidung zwischen Jesus und Christus. Die meisten Menschen und auch die meisten Christen meinen, »Christus« sei so etwas wie der Nachname von Jesus. Damit verengen sie die universale Bedeutung des Christus auf »die letzte Nanosekunde« der Geschichte des Kosmos, so als sei alles, was sich vor der Geburt Jesu vor 2.000 Jahren ereignet habe, bedeutungslos: Entstehen und Vergehen von Sternen und Galaxien, Planeten, Lebewesen (möglicherweise auf anderen Planeten in anderen Galaxien in ganz anderen Zeiträumen), die gesamte Erdgeschichte, die Entwicklung des Lebens vom Einzeller über die Dinosaurier bis hin zu uns nackten Primaten, die ganze Geschichte der Menschheit vor dem Jahr null und außerhalb des christlichen Kulturraums. Nein, für Richard Rohr ist die gesamte Geschichte des Kosmos, die gesamte Evolution nichts anderes als die Geschichte des Christus; Christus ist die göttliche Gegenwart in allem, was ist. So weit ist der Horizont, den wir aufspannen müssen. Und damit ist die für die meisten Religionen so wichtige Trennung zwischen dem Natürlichen und dem »Übernatürlichen«, zwischen Heiligem und Profanem hinfällig.
Diesen Kosmischen oder Universalen Christus entdeckt Rohr schon in der Bibel, im Prolog des Johannesevangeliums, in Briefen des Paulus (vor allem im Epheser- und Kolosserbrief), und er betont, dass besonders in den Ostkirchen ein solches kosmisches Verständnis des Christus durchaus eine Rolle spielt. Die westlichen Kirchen hingegen haben sich zunehmend mehr auf den Menschen Jesus bezogen – allerdings nicht so sehr auf seine Lehre von Liebe und Versöhnung (dann hätte die Kirchengeschichte anders ausgesehen), sondern auf seine Rolle als »Mittler« der göttlichen Gnade. Der lebensfreundliche Gott Jesu, der »seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und der es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte« (Matthäus 5, 45), wurde immer mehr zu einem strafenden, richtenden Gott, der die Menschen nach strengen Maßstäben beurteilt und diejenigen, die die Prüfung nicht bestehen, ins ewige Höllenfeuer verstößt. Je mehr aus dem ursprünglichen bunten Haufen von Jesusnachfolgern eine Amts- und sogar Staatskirche wurde, desto mehr wandelte sich das Gottesbild in diese Horrorvision eines Erbsen zählenden göttlichen Despoten. Dagegen zeichnet Rohr ein Bild von dem Gott, der das pure, pulsierende Leben ist, und einem Christus, der in allem lebt und atmet, was ist – auch in der Tiefe, in der Schwäche, im Leiden, in der »Sünde«, schließlich auch im Tod. Darin sieht Richard Rohr den Sinn des Kreuzes. Wie sich in der Gestalt des Kreuzes die Vertikale und die Horizontale vereinen, so vereint sich Gott »in Christus« mit der gesamten Welt mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Für eine Hölle, eine ewige Verdammnis, ist da kein Platz. Auch nicht für eine individuelle Erlösung, die die »Rechtgläubigen« mit einer himmlischen Seligkeit belohnt, während alle anderen in der Hölle schmoren. »Christen sind vor allem dazu berufen, das sichtbare Mitgefühl Gottes auf Erden zu sein, und weniger dazu, ›in den Himmel zu kommen‹«. (S. 188) Es geht nicht um individuelles Heil und die Rettung Einzelner, sondern um Gemeinschaft und Beziehung.
Gott liebt Dinge, indem er sie wird.
Im ersten Teil des Buches umkreist Richard Rohr diese Grundidee der Inkarnation. Der Stil ist eher zirkulär, meditativ – es ist kein Buch, das man in einem Rutsch durchliest wie einen spannenden Thriller. Der Autor selbst empfiehlt, bei bestimmten, kursiv gesetzten Sätzen zu verweilen, sie eine Zeit lang im Inneren zu bewegen, sie einsinken zu lassen in tiefere Schichten und erst dann weiterzulesen. Denn es geht nicht nur um Theologie, um bloßes intellektuelles Begreifen. Rohr zielt in all seinem Wirken ab auf ein neues Handeln, ein neues Sein in der Welt.
Im zweiten Teil des Buches wendet Rohr die Grundgedanken auf bestimmte Inhalte an: Handeln und Reden, die Genderfrage (»Die weibliche Inkarnation«), die Frage der leiblichen Gegenwart Christi in der Welt. Er sucht eine Antwort auf die Frage, weshalb Jesus gestorben ist, meditiert die Auferstehung als ein kosmisches Prinzip, das nicht nur den Menschen Jesus von Nazareth betrifft, sondern sich auf alle Menschen erstreckt – wie es sich auch im gesamten physischen Universum wiederfindet. Den Abschluss bilden konkrete Übungsvorschläge, mit denen »die Erkenntnis des Christusmysteriums … auf der Ebene des Körpers, des Gehirns und der Zellen neu verkabelt« werden sollen (S. 281).
Wie man es von ihm kennt, spart Rohr nicht mit provokanten Formulierungen, mit denen er altes, verkrustetes Denken aufreißen und den Boden für neue Ideen bereiten will, die doch eigentlich uralt sind. Immer wieder kritisiert er liebevoll die individualistische Fehlentwicklung der Kirchen, um sie zurückzuführen zur ursprünglichen, universalen Botschaft des kosmischen Christus.
Richard Rohr wird in diesem Jahr 77 Jahre alt. Mit »Alles trägt den einen Namen« hat er sein theologisches Denken und den spirituellen »Ertrag« seines Lebens bündig formuliert, das Buch liest sich fast wie ein Vermächtnis. Wenn sich die Christen an diesem Programm ausrichten würden, wären sie endlich das, was sie sein sollen: kein arroganter, sich als Elite wähnender Verein, sondern ein Segen für die ganze Welt.