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Damit Aktivismus zu einer Lebensperspektive werden kann, sind auch tragfähige Beziehungsfelder notwendig. Diese zu unterstützen, ist ein Anliegen von Timo Luthmann, der sich seit Jahrzehnten für ökologische und soziale Erneuerung engagiert und zur Vision eines nachhaltigen Aktivismus gefunden hat.
evolve: Wie bist du dazu gekommen, von einem nachhaltigen Aktivismus zu sprechen?
Timo Luthmann: Ich bin seit fast 25 Jahren in sozialen Bewegungen aktiv und kam dabei in eine persönliche Krise, die sich auch körperlich mit Stresssymptomen äußerte. Ich fragte mich, wie ich weiterhin positive Veränderungen voranbringen kann und es mir dabei gut geht, damit ich es langfristig tun kann. Die zweite Motivation war, dass ich in vielen sozialen Bewegungen vermisst habe, auch ältere Generationen zu treffen. Wo sind die Menschen, die in den 1968er-Jahren in sozialen Bewegungen aktiv waren? Wenn diese Menschen noch aktiv wären, dann würden die Verhältnisse vielleicht schon deutlich anders aussehen. Auch in meinem direkten Umfeld sah ich viele Leute kommen und gehen. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, Wege zu finden, die wir mit unseren eigenen Ressourcen, unserer Biografie und unseren Fähigkeiten vereinbaren können. Dann kann Aktivismus nicht nur eine kurze Lebensphase sein, sondern eine Lebensperspektive.
e: Welche Möglichkeiten, welche Praktiken oder welche Lebensweise können für diese Nachhaltigkeit im Aktivismus unterstützend sein?
TL: Der nachhaltige Aktivismus besteht aus drei Säulen. Die erste Säule ist die Reflexion über soziale Veränderung: Passt meine Strategie zu dem Konzept der Veränderung, die ich anstrebe? Die zweite Säule sind individuelle Resilienz-Strategien. Für mich persönlich sind Meditation und Achtsamkeitspraxis ein wichtiger Bestandteil. Die dritte Säule ist die kollektive Strategie: Was können wir in unseren Gruppen und Bewegungen tun, um uns gemeinschaftlich zu stärken? Denn wenn die Konfliktkultur nicht entwickelt wurde, man nicht gut miteinander kommuniziert oder die Entscheidungsprozesse mangelhaft sind, dann verpulvert man unnütz seine Energie. Es ist nicht unpolitisch, wie wir miteinander umgehen. Nur wenn wir uns wertschätzend begegnen, finden wir die nötige Kraft und Motivation. Nachhaltiger Aktivismus bedeutet für mich, dass die persönliche mit der gemeinschaftlichen Ebene zusammenkommt und man auch über seine eigenen Veränderungsstrategien reflektiert.
e: Worin siehst du die Fähigkeiten, die heute besonders wichtig sind?
TL: Zum Beispiel die Fähigkeiten zur Moderation oder Mediation, um konstruktiv mit Konflikten umzugehen. In sozialen Bewegungen fehlt es an Menschen, die mit Embodiment- und Achtsamkeits-Techniken vertraut sind. Die Bewegungen, die spirituell orientiert sind, kümmern sich wenig um eine strategische Veränderung der Verhältnisse. In den sozialen Bewegungen gibt es viele Leute, die sich mit Politik und Strategie auskennen, aber es fehlt an Wissen über Trauma oder Meditation. Im Sinne einer integralen Persönlichkeitsentwicklung ist es wichtig, möglichst umfassend gebildet zu sein und diese Aspekte nicht getrennt voneinander zu sehen.
e: Du möchtest zwei Welten miteinander verbinden, die für viele noch getrennt sind. Wie bist du zu dieser Integration gekommen? Und wie lebst du diese Integration?
TL: Ja, ich spreche auch über Spiritualität in Zusammenhängen, wo es sonst nicht üblich ist. In einer säkular orientierten Linken ist Spiritualität nicht das Kerngeschäft, aber es gibt wertvolle Aspekte darin, die viele Aktivist*innen unterstützen würden. Am Anfang meines Aktivismus stand ein spiritueller Impuls oder die Erkenntnis, dass ich nicht getrennt bin von der Welt. Diese Erkenntnis ernst zu nehmen, hat mich politisiert. Denn wenn ich die Welt liebe, dann tue ich alles dafür, dass sie nicht zerstört wird. Das ist der Beweggrund meiner konkreten politischen Praxis beim Klimawandel, der Agrarwende oder dem Artensterben. Dabei reflektiere ich über effektive Strategien, damit ich mit meinen bescheidenen Kräften möglichst große Veränderungen bewirken kann.
e: Erlebst du eine positive Resonanz auf diese Verbindung von Aktivismus und Spiritualität, die du mit dem nachhaltigen Aktivismus formulierst?
TL: Ich erlebe einerseits eine gewachsene Offenheit, gleichzeitig natürlich auch noch viel Getrenntheit. Es fehlt eine gemeinsame Sprache, um zu klären, was man jeweils genau meint. Das Verbindende ist eine gemeinsame Praxis. Ganz unterschiedliche Leute kommen am Hambacher Forst oder zu »Ende Gelände« zusammen und handeln gemeinsam. Durch dieses praktische Handeln entsteht Verbindung, weil es die Vereinzelung durchbricht. Deswegen sind große, gemeinschaftliche Aktionen ein ganz wichtiges Element, das Biografien verändert. Es sind einschneidende Erlebnisse, weil man sieht: Ja, wir können etwas verändern, wenn wir es gemeinsam tun.
Auch Meditation oder Rituale können zu einer gemeinsamen Praxis werden. Und wenn man über tiefergehende Dimensionen des Klimawandels reflektiert, merken viele, dass es auch um eine Veränderung unseres Bewusstseins geht. Bewusstseinsbildung gehört schon immer zum Aktivismus dazu.
Es ist nicht hilfreich, ein zu enges Bild von Aktivismus zu haben. Liebevoll Kinder großzuziehen, biologische Lebensmittel anzubauen und viele andere Aspekte des Lebens haben für mich durchaus aktivistische Züge. Überall wo Menschen in liebevoller Verbundenheit mit anderen Menschen und der Natur handeln, sind wir auf der richtigen Spur.
Es ist nicht unpolitisch, wie wir miteinander umgehen.
e: Was ist gerade der Schwerpunkt deiner aktivistischen Arbeit?
TL: Gerade engagiere ich mich in einer Initiative, die sich für einen Pestizid-Ausstieg einsetzt. Denn wir werden die Klimakrise nur überleben, wenn wir auch eine andere Landwirtschaft entwickeln. Die Landwirtschaft erzeugt viele Treibhausgase, ist gleichzeitig mit anderen systemischen Krisen wie dem Artensterben vernetzt. Die Landwirtschaft ist ein großes Problem, könnte aber gleichzeitig auch ein wichtiger Teil der Lösung sein, weil durch sie viel Kohlenstoff gespeichert werden kann. In dem ganzen Katastrophen-Setting möchte ich mich auf etwas Positives konzentrieren: Wir müssen wieder mehr Kohlenstoff im Boden speichern. Dazu brauchen wir eine andere Landwirtschaft jenseits des industriellen Landwirtschaftsmodells, das die großen Chemiefirmen wie Bayer Monsanto propagieren.
e: Wie erlebst du die Situation mit »Fridays for Future«, in der das Klimathema, das dich schon so lange Jahre beschäftigt, mehr in die öffentliche Aufmerksamkeit rückt, an Dringlichkeit zunimmt und auch Verzweiflung hervorruft?
TL: Meinen Beitrag sehe ich heute darin, eine nachhaltigere Bewegungskultur zu etablieren, mit praktischen Workshops, Fortbildungen und Wissensweitergabe. Die verschiedenen Phasen der Verzweiflung habe ich schon vor 20 Jahren durchlebt. Damals war es vielleicht genauso dringlich, bloß nicht im kollektiven Gedächtnis. Heute konzertiere ich mich auf das, was ich mit meiner Kraft verändern kann. Ich weiß nicht, was herauskommt, aber ich weiß, dass es Sinn macht, zu handeln, gegen die Zerstörung Widerstand zu leisten und eine solidarischere Gesellschaft aufzubauen.
Author:
Mike Kauschke
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