Erkundungen im Prädisziplinären
Wie begegnen wir der Wirklichkeit vor all unseren Annahmen und Konzepten? Und welche Verbundenheit mit der Welt eröffnet sich dort, im »goldenen Feld« der Unmittelbarkeit? Eine Spurensuche zwischen Erleben und Verantwortung.
Ein Ereignis gegen Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, in einer Region links des Rheines, seit alters her als Kornkammer und für ihren Weinbau bekannt. Hochsommer. Blauer, wolkenloser Himmel, flirrende Hitze. Wir Kinder, die Geschwister und ich, begleiten die Erwachsenen zum Gurkenäckerchen unweit des Dorfes. Während die Erwachsenen die Gurken ernten, spielen wir auf dem Feldweg und entlang der Getreidefelder ringsum. Damals war das Getreide noch nicht kurzhalmig gezüchtet wie heute, denn die Bauern hatten noch Vieh, brauchten das Stroh. Uns Kindern standen die Säume der Kornfelder wie hoch ins Gelb gewachsene, Achtung gebietende Wände vor Augen. Ein solches Feld zu betreten war streng verboten. Wenn ihr die Halme zertrampelt, hieß es, fehlt uns nachher Brot.
Auf einmal aber, wie auch immer, finde ich mich im Kornfeld wieder. Draußen die Stimmen der spielenden Geschwister, etwas weiter weg die der Erwachsenen. Hier drinnen – Stille. Sich niederhocken auf die trockene Erde. Ihren Duft wahrnehmen und den warmen, reifen Korns. Den Wald zarter und doch ungemein kraftvoll gereckter Halme mit prallen Ähren oben vor dem Sommerhimmel betrachten. Dem summenden Hin und Her von Insekten inmitten der Stille lauschen. Reglos dasitzend das emsige Tun winziger Tierchen am mit Rissen durchzogenen Boden bestaunen. Ergriffen von einem so nie gekannten, jetzt aber immer deutlicherem Spüren: Alles um mich herum, vom kleinsten Kräutlein auf der braunen Erde über jeden einzelnen der filigranen Kornhalme und die geschäftigen Insekten bis hin zur hitzeflimmernden Luft – alles hier ist in Verbindung miteinander! Weiß umeinander! Und ist durchdrungen von tiefster Bedeutsamkeit. Eine vibrierende, ungemein feine, magische Lebendigkeit tat sich kund. Den Blick wieder nach oben wendend, zeigte sich der Himmel als blaue Kuppel, gewölbt über eine goldene Kathedrale, über hohe, lebendige Säulen aus Getreidehalmen. Und wenn ich, als die Erwachsenen schließlich – zunehmend besorgt, auch zunehmend ärgerlich – nach mir zu rufen begannen, stumm blieb, dann nicht etwa aus Starrsinn oder Trotz. Sondern weil das, was um mich herum stattfand, mir die Sprache verschlug. Ohne dass es damals Worte dafür gegeben hätte, erfuhr ich: Was in diesem Kornfeld geschieht, ist ungleich gültiger, wirklicher, bedeutungsvoller als die Welt, von der aus man nach mir rief, mit all ihren scheinbaren Wichtigkeiten.
Dieses Ereignis war viele Jahrzehnte in der Erinnerung versunken, wie verloren. Bis zu jenem Winter, in dem ich begriff, was es mit der Technik des Fracking auf sich hat. Und in dem einer lapidaren Meldung im Radio zu entnehmen war, dass die Deutsche Bank nach einer Abstinenz infolge der Finanzkrise von 2008 wieder in das Börsengeschäft mit Nahrungsmitteln – Reis, Mais, Soja – einsteigen werde. Obgleich allgemein bekannt ist, was es für die ärmsten Teile der Weltbevölkerung bedeutet, wenn der Preis für Grundnahrungsmittel auch nur geringfügig steigt. In dieser niedergedrückten, düsteren Verfassung also stellte sich mit einem Mal das Erlebnis im Kornfeld wieder ein – mit jener Unmittelbarkeit, mit der die Seele, die eigene oder die anima mundi sich mitunter, wenn es darauf ankommt, zu Wort melden kann.
¬ REALITÄT BEZEICHNET EINE SICHTWEISE, DIE JEDES PHÄNOMEN LETZTENDLICH FÜR DINGHAFT HÄLT. ¬
Von der Realität zur Wirklichkeit
Bald darauf wurde das »goldene Feld« in meiner Arbeit als Kulturwissenschaftlerin ein Portal hin zum Erkennen zweier grundverschiedener Weisen des Welterlebens: Das sich so machtvoll gebärdende Geschehen außerhalb des Kornfeldes mit all seinen Verrichtungen, Notwendigkeiten ist die Realität. Und was ich damals in der fast unsäglichen Intimität des »goldenen Feldes« bezeugen durfte, ist die Wirklichkeit – die Sphäre primärer Lebendigkeit, die Sphäre des Seins.
Meist werden die Begriffe Realität und Wirklichkeit synonym zueinander verwendet. Was sie aber nicht sind. Gemäß der lateinischen Wortwurzel res, »Ding, Sache« bezeichnet Realität eine Sichtweise, die jedes Phänomen letztendlich für dinghaft hält – für etwas, das man abtrennen, sortieren, kategorisieren, mit Etiketten versehen kann. Von da aus erscheint diesem Wahrnehmungsmodus alles in der Welt handhabbar und machbar, vorausgesetzt, man verfügt über genügend Wissen, genügend Geld und entwickelte Technik. Die Wirklichkeit hingegen ist die darunterliegende energetische Sphäre – gemäß dem lateinischen energia, was »wirkende Kraft, Wirkkraft« bedeutet. Hier wird das, was ist, nicht dinghaft wahrgenommen, sondern als Prozess, mithin als stetes Werden und Sichwandeln.
Für den Quantenphysiker und Philosophen Hans-Peter Dürr ist das zentrale Merkmal der Wirklichkeit »Potenzialität«: ein noch nicht aufgebrochenes »Sowohl-als auch«, aus dem sich die Realität mit ihren objekthaften, der Logik des »Entweder-oder« unterworfenen Erscheinungsformen ausprägt. Dürr stützt sich dabei auf die empirisch erzielten Befunde der inzwischen bereits gut achtzig Jahre alten »neuen« Physik, wonach es in der feinsten Sphäre dessen, was ist, nur Beziehung gibt: ein Gewebe sich fortwährend entfaltender, bedeutungshafter, nicht determinierter Verbindungen – Lebendigkeit, die allem Manifestem zugrunde liegt.
Die Werteordnung der globalisierten kapitalistischen Industriemoderne zeigt, wie eine ganze Zivilisation in den Bann der Realität geraten kann: in ein verdinglichendes, verzweckendes, vernutzendes Verhältnis zur lebendigen Welt – was diese zur bloßen Verfügungsmasse macht. Demgemäß lässt sich der zunehmend überlebenswichtige »Große Wandel« (Joanna Macy) hin zu sozial und ökologisch gerechteren Lebens- und Wirtschaftsweisen als gesellschaftliche Umorientierung weg von der alles beherrschenden Realität, hin zur Wirklichkeit verstehen.
Wobei Realität und Wirklichkeit wohlgemerkt keine dualistisch voneinander getrennten Bereiche sind. Vielmehr bezeichnen diese Begriffe unterschiedliche Grade der Nähe bzw. Distanz zur lebendigen Substanz allen Seins. Diese ist stets da. Nur wir sind meist nicht da. Unser Aufmerken, unser Empfänglichsein, unser Gewärtigsein fehlt. Wir sind absorbiert, geradezu gefangen von scheinbar Wichtigerem.
Die Sphäre des Prädisziplinären
Wie kann es möglich werden, aus dem Bann der übermächtigen verdinglichenden Weltsicht herauszutreten? Eine Intimität mit dem zu finden, was in jedem Moment die kosmische Ordnung schafft und hält, so wie meinen nächsten Atemzug?
Vielleicht ließe sich sagen: Die stets präsente, primäre Sphäre des schöpferischen Seins öffnet sich in dem Maße, wie ich versuche, mein In-der-Welt-Sein zu ent-automatisieren. Wie ich versuche, die mentalen Gewohnheiten, die unbewussten, automatisierten Wahrnehmungs- und Denkmuster, mit denen ich unterwegs bin, zu erkennen, um mich dadurch von ihnen zu emanzipieren. Damit ich der Welt die Lebendigkeit entgegenbringe, ohne die sie die ihre nicht zum Ausdruck bringen kann.
Im Rahmen von »Erkundungsreisen in Kulturen der Lebendigkeit« untersuchen der Biologe und Philosoph Andreas Weber und ich dies derzeit als ein Arbeiten im »Prädisziplinären«. Prädisziplinarität – wie wir sie verstehen – handelt davon, individuell, aber vor allem auch gemeinschaftlich auf Wegen eines inneren Selbstaktivierens zu Erkenntnis und von da aus zu veränderndem Handeln zu gelangen.
In der globalen gesellschaftlichen Suchbewegung hin zu einer enkeltauglichen Welt gibt es ja inzwischen ein breites Spektrum von Ideen und Konzepten, die genau darauf zielen. Beispiele hierfür wären die Theorie U, Begriffe wie Emergenz, Wir-Intelligenz, Collective Leadership, Ko-Kreativität und Potenzialentfaltung, der Ansatz der kontemplativen Forschung, Gewaltfreie oder Transparente Kommunikation oder auch die aus der Kunst stammende Idee der Sozialen Plastik. Den Leserinnen und Lesern dieses Magazins ist manches davon als »progressive Spiritualität« geläufig. In ähnlicher Weise lässt die Bezeichnung »Prädisziplinarität« derlei Konzepte und Praktiken als Ausprägungen eines Feldes erkennbar werden – eines sich im Menschen und mit ihm äußernden Feldes primärer, schöpferischer Lebendigkeit; eines Feldes, das alle miteinander, aber auch mit der gesamten lebendigen Welt teilen. Darüber hinaus ermöglicht es diese Bezeichnung, an das Terrain der Wissenschaft anzuknüpfen.
Besonders im Nachhaltigkeitskontext haben die Wissenschaften während der letzten Jahre den Wert von Inter- und Transdisziplinarität weithin erkannt. Mit Prädisziplinarität kommt hier ein Ansatz hinzu, der nicht auf das »Was«, also auf Themen und Inhalte, sondern ganz auf das »Wie« fokussiert. Zeigt sich doch auch in der Wissenschaft – und von da aus im öffentlichen Diskurs – zunehmend, wie sehr jeder Inhalt von der Beschaffenheit des ihm zugrunde liegenden Sehens, Hörens, Spürens, Denkens, Begegnens, Kommunizierens geprägt ist. Wenn wir, wie etwa der erwähnte Hans-Peter Dürr immer wieder betont, alle »Akteur der Schöpfung« sind, indem wir in jedem Moment durch das Wie unseres Wahrnehmens dazu beitragen, ob mehr Verdinglichung oder mehr Lebendiges entsteht: Sollte man dann nicht auch und gerade in der Wissenschaft die je eigenen, noch allzu oft unhinterfragten Wahrnehmungsraster und Denkgewohnheiten neu in den Blick nehmen?
¬ WIRKLICHKEIT WIRD ALS PROZESS WAHRGENOMMEN, MITHIN ALS STETES WERDEN UND SICHWANDELN. ¬
Ein erweitertes Verständnis von Wissenschaft und Kunst
Mithin erschließt Prädisziplinarität der überkommenen Wissenschaftlichkeit eine noch kaum beachtete, erweiternde, primäre Erkenntnissphäre. Und zugleich beinhaltet prädisziplinäres Forschen und Gestalten jenes erweiterte Verständnis von Kunst, wofür einst Joseph Beuys die Formel »jeder Mensch ein Künstler« prägte. Steht es doch im Prinzip jeder und jedem frei, in eigenem Auftrag, wie Künstler es tun, aus dem Bann des herrschenden Weltwahrnehmens herauszutreten. Jede und jeder kann auf dem eigenen Arbeitsfeld und in der eigenen Lebenspraxis nach Qualitäten des Wahrnehmens, Denkens und Miteinanders suchen, die es ermöglichen, mit dem, was die Welt lebendig hält, in Verbindung zu treten. Beuys selbst dazu: »Die alte Gestalt, die stirbt oder erstarrt ist, in eine lebendige, durchpulste, lebensfördernde, seelenfördernde, geistfördernde Gestalt umzugestalten – das ist der erweiterte Kunstbegriff«.
So etwa können wir in jedem Moment, zum Beispiel jetzt, innerlich ein Stück hinter uns zurücktreten und anfangen, unsere Haltung gegenüber dem, was uns begegnet, zu betrachten. Womöglich zeigt sich dann, dass wir ständig urteilen, als sei das natürlich und normal. In einer zu Dinghaftigkeit verhärteten Welt ist das ja auch so. Der Dichter Friedrich Hölderlin sah in »urteilen« eine Ur-Teilung zwischen einem selbst und der Welt. Je mehr wir aber unseren Drang zu urteilen mit einem ruhigen, offenen, auf Erkennen gerichteten Blick betrachten, desto eher können wir aufhören, uns mit dieser Gewohnheit zu identifizieren. Und damit tut sich eine neue Freiheit auf: die Freiheit, anstelle des Urteilens eine Haltung des Staunens zu kultivieren – als Portal hin zur lebendigen Wirklichkeit.
Quellgebiete des Lebendigen
Unlängst fügte es sich, dass ich, zusammen mit ein paar anderen Menschen, beim Sterbeprozess eines Freundes an dessen beiden letzten Tagen zugegen war.
Das nun zu Berichtende geschah wohl keine Stunde nach seinem letzten Atemzug. Wir hatten seinen Unterkiefer hochgebunden, und für eine Weile saß ich alleine bei ihm. Innegehalten. Reglos, fast wie der soeben Gegangene. Bei allem emotionalen Aufruhr dieses völligen Ausnahmezustands zu spüren beginnend: Da ist ein Feierliches im Raum. Ein Etwas am äußeren Saum der Worte. Hier, in diesem Zimmer, wo sich gerade berührt, was gewöhnlich getrennt erscheint. Spüren, wie sich soeben eine Kraft aus dem Körper des Freundes herausgezogen hat – und das, was sterblich an ihm ist, als zerfallende Hülle zurücklässt. So, wie diese Kraft sich eines unbekannten Tages aus meiner Physis herausziehen wird. Eine Präsenz, in der das Sein des Freundes, das eigene und das der Welt diesseits und jenseits von allem Scheidenden ineinander strömen. Ein Feld lebendiger Information, das alle Formen ins Manifeste hinein ordnet und hält, sie in-form-iert, bis es sie früher oder später wieder hinter sich lässt.
Ob einem dieses wissende, fortwährend aus sich herausbildende, in sich aufnehmende Feld vielleicht deshalb die meiste Zeit entgeht, weil es so ungemein präsent ist – lange bevor das Denken beginnt? Am Bett des Freundes wurde mir endgültig klar: Jenes »goldene Feld« aus der Kindheit liegt auf dem Grund des Jetzt.
In der Feldflur draußen, in unseren Landschaften, finden derzeit mit dem Schwinden biologischer Vielfalt, mit dem Kollaps ganzer Ökosysteme Sterbeprozesse ungeheuerlichen Ausmaßes statt. Während, ebenfalls menschengemacht, in sich verschärfenden Krisen und Kriegen Humanität zu erlöschen droht. Das führt rund um den Globus immer tiefer in existenzielle Schwellensituationen. Wo, außen wie innen, Bisheriges nicht mehr greift. Wo in schmerzender, kaum tolerierbarer Paradoxie ärgste Bedrohung, sofern sie kein lähmendes Trauma auslöst, zu immer mehr Erfahrungen und Begegnungen in den Quellgebieten von Lebendigkeit führt. Wie kann in unserer nun allerorts aufbrechenden, aufgebrochenen Welt ein aus solcher Intimität erwachsenes Wissen endlich gesellschaftsprägender werden?