Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 31, 2019
Das Projekt Aufklärung ist noch nicht abgeschlossen. Der »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit«, wie es Immanuel Kant formulierte, ist noch nicht gefunden. Dafür gibt es zahlreiche Alarmzeichen: die Behauptung »alternativer Fakten« (Donald Trump), die Flut rechtspopulistischer Propaganda, die Verbreitung von Gerüchten und Verschwörungstheorien in den sozialen Medien. So bekommt eine Selbstverständlichkeit neuen Wert, nämlich der Hinweis, dass jegliche Aussage, sei sie von Journalisten oder von Politikern, durch Fakten gestützt sein sollte.
Wer vor Publikum mit Dramatik in der Stimme ausruft, »Die Welt wird immer gewalttätiger – immer mehr Kriege, immer mehr Armut«, kann sich begeisterten Beifalls sicher sein. Die Menschen fühlen sich bestärkt in der Vermutung, die globale Lage werde von Tag zu Tag schlimmer. Doch stimmt das wirklich? Der 2017 verstorbene Hans Rosling widerspricht dem in seinem Buch »Factfulness« energisch. Seine Mission sah er zeitlebens darin, anhand von unstrittigen Daten zu zeigen: Die Welt macht auf vielen Gebieten Fortschritte, und es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit sie zur Kenntnis nimmt. Um sich die Hoffnung zu bewahren, und um ganz konkret zu wissen, in welche Strategien, die sich in der Vergangenheit als fortschrittsfördernd erwiesen haben, wir investieren sollten.
Dass Verbesserungen kaum zur Kenntnis genommen werden, liegt gleichermaßen im Mediensystem, in dem um die Aufmerksamkeit des Publikums gekämpft wird, wie in blinden Knöpfen der Mediennutzer begründet. »Die Medien können der Versuchung nicht widerstehen, unseren Instinkt der Angst zu befeuern. Es gibt kaum eine einfachere Methode, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln«, schreibt Rosling in seinem Buch mit dem Untertitel »Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.« Der Schwede war Professor für internationale Gesundheit, hat als Arzt in Entwicklungsländern gearbeitet; ein Menschenfreund, der auch zur Stelle war, als in Westafrika die Ebola-Seuche ausbrach. Seine Leidenschaft galt einem Zugang zur Welt, der gleichermaßen auf Empathie und auf Fakten beruht. Dafür gründete er die Stiftung »Gapminder«.
Bei seinen Vorträgen bat Rosling das Publikum um eine spontane Einschätzung globaler Trends. Eine Kostprobe: Wie viel Prozent der Erwachsenen weltweit sind heute alphabetisiert: 40 – 60 – 80 %? In den vergangenen 100 Jahren hat sich die Zahl der Todesopfer weltweit durch Naturkatastrophen mehr als verdoppelt – kaum verändert – mehr als halbiert? Wie hoch ist heute weltweit die durchschnittliche Lebenserwartung, reiche und arme Länder zusammengenommen: 50 – 60 – 70 Jahre? Die letzte Frage fand er besonders wichtig, da die Lebensspanne ein zentraler Indikator für sozialen Fortschritt ist.
Die Welt macht auf vielen Gebieten Fortschritte, und es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit sie zur Kenntnis nimmt.
Ob der Vortrag vor Managern, Politikern oder Journalisten gehalten wurde: Die richtige Lösung wurde meist von deutlich weniger als einem Drittel der Zuhörer geschätzt. Vermutlich ahnen Sie es: Bei allen Fragen war die beste Zahl zutreffend. Warum, fragte er sich, schätzen wir den Zustand der Weltbevölkerung so viel schlechter ein, als er in Wirklichkeit ist?
globale Entwicklungen können sich die allerwenigsten von uns durch direkten Augenschein informieren. Wir sind auf Medien angewiesen. Rosling geht es nicht um billiges Journalisten-Bashing: »Das Phänomen wird weniger von der Medienlogik der Produzenten befeuert als von der Aufmerksamkeitshaltung in den Köpfen der Konsumenten.« In seinem Buch untersucht er, welche evolutionären Instinkte, emotionalen Aufladungen und kognitiven Filter zusammenwirken und die Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerren. Dabei bleibt er dankenswerterweise nicht stehen. Er zeigt uns anhand anschaulich aufbereiteter Globalzahlen, wie Fortschritt funktioniert und wie wir ihn wahrnehmen können. Er gibt konkrete Hinweise, wie wir lernen, langfristige Entwicklungen besser zu erkennen, wie wir alarmierende Meldungen in ihren Kontext einordnen, wie wir lineares Denken (»das geht jetzt immer weiter so«) vermeiden. Sein wichtigster Ratschlag für mich, der sich seit Jahrzehnten als Journalist mit den Themen Umwelt und Frieden beschäftigt: Wir müssten uns zu sagen trauen »Die Verhältnisse sind schlimm. UND sie sind besser geworden.«