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Pierre Teilhard de Chardin und Pitirim A. Sorokin waren zwei evolutionäre Visionäre der Liebe. Die Religionswissenschaftlerin Ursula King hat sich seit Jahrzehnten intensiv mit beiden beschäftigt und zeigt die Aktualität ihres Denkens.
Die Liebe ist eines der zentralen Themen im Leben und Werk von Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955). Er war ein Mann, der viel geliebt hat und viel geliebt wurde – von seiner Familie und vielen Freunden, aber auch von mehreren außergewöhnlichen Frauen. Er hat sein Leben lang über die Evolution der Liebe reflektiert und immer wieder versucht, den überall vorhandenen Spuren ihrer ständigen Weiterentwicklung nachzugehen – von der Anziehungskraft grundlegender kosmischer Elemente bis zur höchsten geistigen Vereinigung aller Menschen auf einem transzendenten geistigen Gipfel, den er den Omegapunkt nannte.
Ich bin Teilhards Ideen zuerst 1962 in Paris begegnet, als ich dort mehrere Jahre Theologie und Philosophie studierte. Damals waren erst wenige seiner Werke öffentlich zugänglich und es war mein großes Glück, dass ich Teilhards autobiografischen Aufsatz »Das Herz der Materie« als Manuskript geliehen bekam. Ich las ihn mit großer Begeisterung und entdeckte einen genialen Denker, dessen Weltschau mich so begeisterte, dass ich später jahrelange Forschungen des Teilhardschen Gesamtwerkes unternommen habe. Die Essenz seines Denkens wird prägnant in dem Motto dieses Essays ausgedrückt: »Im Herzen der Materie ein Herz der Welt, das Herz eines Gottes.« Dieses Herz strahlt ein universales Feuer der Liebe aus, das alle Stufen des Werdens durchdringt, belebt, immer mehr vereinigt und verwandelt.
Zu meiner Pariser Zeit Anfang der 1960er Jahre wusste ich allerdings noch nichts von den erstaunlichen Parallelen zwischen Teilhard de Chardin und dem russisch-amerikanischen Soziologen Pitirim A. Sorokin (1889–1968), Gründer der Soziologie an der Harvard Universität, der aus einer anderen Richtung ganz ähnlicheIdeen über die Evolution der Liebe in der heutigen Menschheit entwickelt hat. Ich entdeckte Sorokins Meisterwerk »The Ways and Powers of Love. Types, Factors, and Techniques of Moral Transformation« (1954) erst nach der Zweitauflage in Nordamerika. Beide betrachten die altruistische Liebe als die höchste menschliche Energiequelle für die Transformation der menschlichen Gesellschaft. Und beide stimmen darin überein, dass die Menschen weniger über die »Liebesenergie« wissen als über Licht, Wärme, Elektrizität und andere Formen physikalischer Energie. Die transformative Kraft der Liebe muss daher in all ihren unterschiedlichen Dimensionen – der kosmischen, physischen, biologischen, psychologischen, sozialen, religiösen oder ethischen – noch voll erforscht und entwickelt werden.
¬Im Herzen der Materie ein Herz der Welt, das Herz eines Gottes. ¬ Teilhard de Chardin
Für Teilhard war die Liebe die zentrale Urkraft des Kosmos, deren entscheidender Einfluss auf allen Ebenen des langen evolutionären Weitergangs aller Wirklichkeiten beobachtet werden kann. Als tiefgläubiger Christ, Priester und Mystiker hat er immer wieder betont, wie sehr seine große Liebe zu Gott für ihn ganz innigst mit der Liebe zu der sich evolutionär entfaltenden Welt und ihren Menschen verbunden war. Deshalb muss die Liebe aus einem primär geistigen Verständnis in ein praktisches Sich-Einlassen mit der Welt und Materie, mit den Geburtswehen, den Verletzungen und Sehnsüchten, ihrem Tätigsein und ihrem Erleiden transformiert werden. Teilhard beschreibt dieses Wachstum der Liebe als einen Prozess der »Amorisation«. Die Liebe war für Teilhard nicht nur die primäre, grundlegende Energie, die alles kosmische Werden durchdringt, sondern auch eine universale psychische Energie, die sich auf menschlicher Ebene von allen anderen Anziehungskräften grundsätzlich unterscheidet. Die menschliche Liebe entfaltet sich auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene und findet ihren höchsten Gipfel im spirituellen Bereich. Er sieht die Allgegenwart und das Wachstum der Liebe sowohl als ein großartiges Geschenk des Geistes als auch eine Aufgabe, die wir lernen und praktizieren müssen, um mehr und mehr in sie hineinzuwachsen. Wir müssen lernen, Liebe zu geben und zu empfangen, um voll Mensch zu werden. Dies gilt nicht nur für uns als Einzelne oder für kleine Gruppen und Gemeinschaften. Die immer weitere Entwicklung der Evolution ist für Teilhard mit der Entstehung und dem weiteren Wachsen des Bewusstseins und der geistigen und spirituellen Fähigkeiten der Menschen verbunden. Dieser Prozess ist für ihn die Entfaltung dessen, was er die Noosphäre nennt, die typisch menschliche Sphäre des Denkens, Handelns und Liebens, die den ganzen Globus vernetzend umgibt und immer mehr überall wirksam wird. Diese so typisch menschliche Sphäre muss ganz von der Liebe durchdrungen und animiert werden, um eine größere Einheit und Kooperation unter allen Menschen der Erde zu schaffen.
Sorokin hat seine Sicht der Rolle der Liebe in der Menschheitsgeschichte in seinem historisch und soziologisch angelegten Werk »The Ways and Power of Love« ausführlich entwickelt. Er spricht von den großen Helden und Aposteln der Liebe, die durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch wie Kraftwerke die Liebe für viele Generationen von Menschen produziert haben. Aber solche heroischen Beispiele genügen heute nicht mehr, um die zahlreichen Kulturen der Welt grundlegend zu transformieren und das Feuer der Liebe über die ganze Erde auszubreiten, sodass die Menschen in einer permanenten Atmosphäre der Liebe in neuen Formen der Gemeinschaft leben können. Sorokin plädiert für eine Zunahme der Liebesproduktion durch ganz normale Menschen und Gruppen, also durch die ganze Kultur, sodass »Liebe, die von der Kultur und den sozialen Institutionen ausstrahlt, eine permanente Atmosphäre schafft, die alle Menschen von der Wiege bis zur Bahre begleitet.«
Er beendet sein Werk über die Macht der Liebe mit folgenden Worten: »Die geheimnisvollen Kräfte des Geschicks konfrontieren die Menschheit mit einem harten Dilemma: entweder ihre räuberische Politik des individuellen oder tribalen Egoismus fortzusetzen und damit ins unausweichliche Verhängnis zu stürzen oder auf die Politik der universalen Solidarität zu setzen, die die Menschheit zum erstrebten Himmel auf Erden bringt. Es ist Sache eines jeden von uns, welchen der beide Wege wir wählen.«
In ganz ähnlichem Sinne sieht uns Teilhard als Menschheit vor der Entscheidung für die Liebe – oder den Untergang: »Die ›realistischen‹ Geister mögen ruhig über die Träumer lächeln, die von einer nicht mehr durch Gewalt, sondern durch Liebe verkitteten und geharnischten Menschheit sprechen. Diese Skepsis und diese Kritiken werden nicht verhindern können, dass die Theorie und die Erfahrung der geistigen Energie sich einig sind, um uns zu sagen, dass wir an einen entscheidenden Punkt der menschlichen Evolution gelangt sind, wo das einzige Tor nach vorne in Richtung einer gemeinsamen Leidenschaft, einer ›Konspiration‹, liegt.«
Unsere gegenwärtige weltpolitische Situation, in der uns so viel Dunkel und zerstörende Gewalt umgibt, zeigt uns eindringlich die Aktualität dieser Entscheidung und der Verheißung einer Kultur der Liebe, die diese beiden evolutionären Denker so tief erfüllte. Es liegt an uns, dieses universale Feuer der Liebe weiterzutragen.
Author:
Prof. Dr. Ursula King
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