Die Sehnsucht des Bewusstseins
Wie nah wir uns dem Leben fühlen, hängt davon ab, wo unser Bewusstsein nach dieser Intimität sucht und wie anwesend wir dabei sind. evolve-Redakteurin Nadja Rosmann erkundet, wie die menschliche Sehnsucht nach Verbundenheit sich in uns und der Welt ihren Weg bahnt von der Selbstentfremdung zur authentischen Lebendigkeit.
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehn:
Schönheit und Schrecken.
Man muss nur Gehn:
Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.
Rainer Maria Rilke
Unser Hiersein im Leben erwächst aus einer tiefen Geborgenheit. In dem Moment, in dem wir zum ersten Mal Atem schöpfen, scheinen wir noch wie eingehüllt von der Wärme vor unserer Geburt. Jeder neue Atemzug verbindet uns mit der Welt, wir nehmen sie in uns auf und geben uns ihr hin. Eine Berührung, die intimer nicht sein könnte in ihrer völligen Verbundenheit. Doch schon spüren wir die Weite, die uns nun umgibt und leise nach uns zu rufen scheint, strecken zaghaft unsere kleinen Hände nach ihr aus.
Rilke lässt dieses Mysterium unseres Menschwerdens zart anklingen, wenn er an die göttliche Einheit erinnert, aus der heraus wir beginnen, uns der Welt bewusst zu werden. Gerade noch eins mit allem, lässt unser erwachender Ich-Sinn uns erste Konturen erkennen – im Außen wie in uns selbst. Die Intimität, ungetrennt in der Mitte des Seins zu weilen, wird durchdrungen von der Wahrnehmung, dass es da draußen noch so viel mehr zu geben scheint. Das lässt uns in die Ferne streben. Getragen von der Ahnung, dass wir schöpferische Wesen sind, die etwas zu bewirken vermögen. Der göttliche Klang schwebt noch über unseren Spuren, hallt in unserer Seele nach. Beinahe wie eine wehmütige Erinnerung. Wir können ihn nicht vergessen. Und wir suchen immer neue Orte auf, um ihn in seiner Reinheit wieder zu vernehmen.
In meinen Erinnerungen an meine frühe Kindheit wird mir diese subtile Dynamik immer wieder gegenwärtig. Wenn ich abends zu Bett ging und mich gemütlich einkuschelte, fühlten sich diese kurzen Momente vor dem Einschlafen an, als würde ich zurücksinken ins Herz der Welt, in eine Obhut, die grenzenlos ist. Und doch mischte sich in dieses Loslassen des Tages auch schon die Vorfreude auf das, was nach dem Aufwachen kommen würde. Kindlicher Friede und Neugier, noch im Einklang, in enger Berührung.
Auf der Welt sein
Die evolutionäre Spannung, der Rilke in seinem Gedicht so zärtlich Ausdruck verleiht, ist wie ein Ur-Impuls, der uns zu denen hat werden lassen, die wir heute sind. Während das Bewusstsein unserer Vorfahren tribaler Kulturen noch »aufs Intimste mit dem Kosmos verbunden« war, wie es der Religionswissenschaftler Ewert Cousins beschreibt, hat der über die Jahrhunderte erstarkte Sinn individueller Identität uns zu jenen gemacht, die diesen Kosmos nun selbstbewusst gestalten. Wir setzen die Dinge ins Licht. Doch ihre Schatten berühren immer seltener das Göttliche. »Die Emergenz dieses Bewusstseins führte zu einer radikalen Aufspaltung zwischen der Welt der Phänomene und der wahrhaftigen Realität, zwischen Materie und Geist. Der starke Sinn für unsere Subjektivität hat diese Trennung nicht nur möglich gemacht, sondern ließ sie auch zu einem Risiko und einer Bedrohung werden«, beschreibt Cousins die Herausforderung, vor der wir heute stehen.
Heute sind wir auf der Welt, statt in ihr zu ruhen. Und wir streben nun nach einer Lebendigkeit, die uns unser tiefstes inneres Wesen entfalten lässt. Verbunden mit der Hoffnung, dabei auch der einst erfahrenen Nähe zum Sein wieder näher zu kommen. Man muss nur gehen ... Dort, wo wir die Welt berühren, vermag unser Bewusstsein zu reifen. Dort, wo wir die ersehnte Intimität schmerzlich verfehlen, wird unser Streben geschürt. Denn etwas in uns scheint doch immer zu spüren: Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. In mein Leben zog Unruhe, ja Schwere ein, als mit den Jahren die Anforderungen der äußeren Welt zu so etwas wie meinen Feinden wurden. Ich rang damit, Dinge lernen zu sollen, die mein Herz nicht berührten. Die tiefere Resonanz, nach der ich mich sehnte, suchte ich im Engagement in der Jugend- und Kulturarbeit. Im Zusammensein mit Gleichaltrigen, die ebenso wie ich nach ihrem Platz im Leben suchten, im Organisieren von politischen Veranstaltungen, die Visionen einer besseren Welt erschufen, erblühte die Authentizität, nach der meine Seele rief, aufs Neue. Und doch lebte ich jetzt in zwei voneinander getrennten Welten.
¬ DORT, WO WIR DIE WELT BERÜHREN, VERMAG UNSER BEWUSSTSEIN ZU REIFEN. ¬
Gefangen im modernen Bewusstsein
Seit dem Beginn der Moderne ist es vor allem unser schöpferisches Tun, in dem wir versuchen, uns innig mit dem Dasein zu verbinden. Die Welt des Dinglichen wird zum Ort, an dem wir uns in unserem gestalterischen Streben entfalten und bemüht sind, unsere Seelensehnsucht nach tieferer Nähe zum Leben zu stillen. So suchten die großen Denker der Aufklärung zu verstehen, wie diese manifeste Welt beschaffen ist und was Menschsein in ihr bedeutet. Wissenschaftler und Ingenieure ersinnen immer neue Wege, die Bedingungen dieses Hierseins zu verbessern. Doch getragen von dieser Expansion menschlicher Fähigkeiten heißt mitten im Leben zu stehen heute vor allem auch, bestehende Grenzen immer wieder zu verschieben. Eine Bewegung, die ein Näherkommen, gar ein Ankommen beinahe unmöglich zu machen scheint.
Vor einiger Zeit sah ich auf CNN Money einen Beitrag über einen Silicon-Valley-Entrepreneur, der dieses Dilemma auf schmerzhafte Weise veranschaulicht. Dave Asprey hatte viele Jahre in verschiedenen Tech-Firmen gearbeitet. Sein Versuch, das Leben wirklich zu berühren, drückte sich darin aus, immer besser zu werden, immer weiter zu gehen. Bis er schlapp machte, schwer übergewichtig und mental ausgebrannt. Der Logik des modernen Bewusstseins folgend, suchte Asprey nach einer Möglichkeit, seine Flamme wieder anzufachen, experimentierte mit allen nur denkbaren pharmazeutischen Substanzen, um herauszufinden, welche Mittel seinen Körper und Geist wieder auf Touren bringen könnten.
Die CNN-Reporterin hatte ihn auf seinem Anwesen in British Columbia besucht, einem Rückzugsort inmitten einer traumhaften, spärlich besiedelten Landschaft, wo Himmel und Erde sich berühren. Und Asprey erzählte ihr von seinen tiefsten Erfahrungen: »Wenn du wirklich alle mentalen Fähigkeiten, die du hast, aktivieren möchtest, brauchst du Natur um dich, Wald, Bäume, Ausblicke ... Eine Weite wie hier macht dich wach. Wenn ich auf meinen Körper höre, stelle ich fest, dass er auf meine Umgebung reagiert. Und an einem Ort wie diesem fühle ich mich resilienter, ich blühe auf.« Asprey war im Land, das sie das Leben nennen, angekommen. Und merkte es nicht, sondern suchte schlicht nach einer Möglichkeit, sein bisheriges Streben fortzusetzen. Seine neue Firma, die die von ihm entwickelten Stimulanzien vertreibt, heißt »Bulletproof«, kugelsicher. Ein Schutzschild, der die tiefere Berührung des Lebens nicht bis ins Bewusstsein dringen lässt.
Mir ging die Geschichte von Dave Asprey so nahe, weil meine frühen Berufsjahre von einem ähnlichen Ringen durchzogen waren. Als Chefredakteurin eines IT-Fachmagazins für Open-Source-Technologien kämpfte ich für die freie Zugänglichkeit von Software, die das moderne Leben oft unsichtbar prägt und zusammenhält. In einer Zeit, als Google und Amazon noch auf beinahe ungebremste Euphorie stießen, fand ich, wo ich nach Echtheit suchte, nur Manipulation. Bisweilen war ich von meinen Kämpfen so erschöpft, dass ich mich zutiefst danach sehnte, mich mit der Welt, wie sie ist, einfach zu arrangieren. Doch etwas in mir widersetzte sich dagegen, diese kollektive Hypnose zu einem Zuhause werden zu lassen.
Der Scheinwelt entfliehen
Wo das moderne Bewusstsein die Spaltung zwischen äußerer Welt und der Realität tieferer Intimität mit dem Leben, die es tatkräftig zu überwinden versucht, unwillentlich sogar vergrößert, wächst seit der Postmoderne die Bewusstheit dafür, dass dies möglicherweise Schattenkämpfe in einer Scheinwelt sind. Immer mehr reift das Gespür, dass die hauptsächlich nach außen führende Bewegung der Suche nach Nähe zur Selbstentfremdung führt. Das Land, das sie das Leben nennen, ist vielleicht gar kein äußeres, sondern enthüllt sich, wenn wir mit der Suche in unserem Innenraum beginnen.
Erst kürzlich veröffentlichte der renommierte Suhrkamp-Verlag ein Buch, das die »Wiederentdeckung des Psychedelischen« feiert. Ein Ausdruck der Sehnsucht, die »Istigkeit« der Welt (Aldous Huxley) in sich selbst wieder zum Leben zu erwecken. Und der Versuch, im Innenraum des Ichs die Berührung mit der Ganzheit zu vollziehen, die im Außen so unmöglich geworden zu sein scheint. »Im Rausch wird die Ordnung der Dinge, die die Welt strukturiert und das Subjekt von den Objekten klar trennt, löchrig und erlaubt Übergänge. Der psychedelische Rausch ist für mich ›Erleben‹ schlechthin«, beschreibt ein LSD-Konsument seine Wahrnehmungen während eines Trips. Es ist die Erfahrung purer Intimität mit dem Leben, denn das Einzige, was in solchen Momenten bleibt, ist diese gespürte Lebendigkeit. Eine Verinnerlichung, die Bewusstsein unmittelbar mit Bewusstsein in Berührung bringt. »Ich hatte an jenem Abend, als es still war und sich die Sitzung am Höhepunkt befand, das Gefühl, dass alle zusammen im Raum einen Organismus bildeten, gemeinsam atmeten«, erzählt ein Teilnehmer einer Ayahuasca-Zeremonie.
Hier wird Leben wieder als Ganzheit von innen heraus zugänglich. Allerdings um den Preis, dass der alltägliche Lebensraum zu verschwinden scheint. Was bleibt von dieser intensiven Verbundenheit, wenn das Bewusstsein wieder in seinen Standardmodus zurückgleitet? Wenn die äußere Welt sich wieder vor uns auftut? Ich selbst fühlte mich über Jahre in diesem Dilemma gefangen. Meditation wurde für mich zu einem Rückzugsort, an dem ich der Welt, die mich abstieß, entfliehen konnte. Die Stunden der Stille waren wie ein Nach-Hause-Kommen, ein inniger Kontakt mit dem Sein. Um den Preis, dass mein »reales« Leben sich vor allem in der Fremde vollzog.
¬ HEUTE SIND WIR AUF DER WELT, STATT IN IHR ZU RUHEN. UND SEHNEN UNS DANACH, DER EINST ERFAHRENEN NÄHE ZUM SEIN WIEDER NÄHER ZU KOMMEN. ¬
Inmitten von Himmel und Erde
Bevor das Bewusstsein zur Vielheit erwachte, war unser Dasein eine einzige wahrhaftige Berührung der Welt. Heute versuchen wir diese Einheit durch den Gebrauch von Psychedelika oder auch die Praxis der Meditation wiederzuerlangen, wir suchen nach Transzendenz. Doch seit diesem Bewusstseinssprung »tendiert der spirituelle Pfad dazu, vom Irdischen wegzuführen, hin zu den himmlischen Gefilden«, so Ewert Cousins. Der Versuch, die vermeintliche Scheinwelt des Dinglichen hinter sich zu lassen, folgt dieser Dynamik. Und er läuft Gefahr zu scheitern, wenn er es dabei belässt, schlicht eine Gegenwelt zu kreieren. Dann haben wir nur die Wahl, auf der einen oder der anderen Seite zu leben. Und selbst wenn wir uns für die Seite entscheiden, die sich lebendiger anfühlt, lassen wir uns doch nicht Alles geschehen.
Cousins erkennt jedoch noch einen dritten Weg, um die heute so spürbare Zerrissenheit zu überwinden, Himmel und Erde, die Weite des Seins und die konkrete Schöpfung, in ihrer je eigenen Bedeutsamkeit auf einer höheren Ebene wieder miteinander in Berührung zu bringen: »Wo wir in der Vergangenheit ein selbstreflektierendes, analytisches, kritisches Bewusstsein entwickelt haben, müssen wir heute, während wir diese Werte beibehalten, in dieses Bewusstsein die kosmische Dimension wieder integrieren.« Dann ist uns vielleicht kein Gefühl mehr das fernste.
Radikale Inklusivität
Meditation mag hier wie eine Befreiung erscheinen, denn die Fokussierung der Achtsamkeit in dem, was gerade ist, versucht weder vor etwas zu entkommen noch etwas zu erreichen. Sie ist in sich selbst pure Berührung von allem und jederzeit möglich. Und doch haben wir auch beim Meditieren bisweilen die Wahrnehmung, wir müssten eine Kluft überwinden. Die Fähigkeit unseres Bewusstseins, alles in der Unterscheidung zwischen Ich und Welt wahrzunehmen, scheint sich immer wieder in den Vordergrund zu drängen, während wir Momente, in denen beide Dimensionen zusammenfallen, eher als Geschenk, als ein kurzes Glück der Unmittelbarkeit erfahren. Und wir wollen diese Unmittelbarkeit so sehr, dass wir uns, solange wir sie nicht spüren, wie in der Warteschleife fühlen. Ein Zustand, der uns von der ersehnten Berührung des »eigentlichen« Lebens fernhält. Wo aber ist in solchen Momenten »das Leben«?
In genau dieser Erfahrung. Der evolutionäre Aktivist und spirituelle Lehrer Jeff Carreira spricht vom »Paradox radikaler Inklusivität«. »Die Realisierung radikaler Inklusivität liegt im Erkennen, dass wir immer schon mittendrin sind. Es gibt kein Draußen, das nicht drinnen ist«, sagt er. Eine Annahme, die den Verstand rebellieren lässt ... Was ist mit der oft schmerzhaft erlebten Unvollständigkeit, die in uns immer noch nach Erlösung sucht? Was mit dem Gefühl, noch längst nicht angekommen zu sein? Etwas in uns scheint sich geradezu reflexhaft dagegen zu wehren, uns einfach Alles geschehen zu lassen.
»Keiner dieser Gedanken ist ein Problem; alles ist lediglich das, was gerade im Bewusstsein aufsteigt. Da ist schon ein Ort in unserem Dasein, ein Teil unserer gegenwärtigen Erfahrung, der völlig in Frieden ist mit der Weise, wie die Dinge sind. Vollständig eins mit dem, was auch immer sich im gegenwärtigen Moment zeigt«, so Carreira. Frieden zu finden in der vermeintlichen Abwesenheit von Frieden – für unsere gewohnte Wahrnehmung scheint dies ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Doch was geschieht, wenn wir uns für einen Moment darauf einlassen? Wenn wir das Unbehagen und die innere Abwehr, die sich vielleicht einstellen, einfach dasein lassen? Wenn uns wirklich kein Gefühl mehr das fernste ist?
Die Befreiung, die dieser Bewegung des Bewusstseins entspringt, lässt sich gedanklich nicht durchdringen. Wir müssen es wagen, die Erfahrung zu machen. Wo sind wir, wenn wir dem Schrecken wirklich ins Auge schauen? Wenn wir, und sei es nur für einen Augenblick, mit ihm verweilen, ohne ihm auszuweichen? Ohne woanders sein zu wollen? Was geschieht, wenn wir Schönheit auf uns wirken lassen? Wenn wir ganz mit ihr sind, ohne daran zu denken, wie fragil und vergänglich sie ist? Für mich gleichen Momente wie diese bis heute einem kleinen Wunder. Die authentische Freude, die sich in der Stille bisweilen einstellt, nicht festhalten zu können, tut manchmal weh. Und tiefer Schmerz hat immer noch auch etwas Überwältigendes. Doch wenn ich einfach damit bin und bleibe, in diesen seltenen Augenblicken, in denen ich wirklich hier bin, ist das Leben es auch. Und ich bin mir dessen sicher.
»Wir leben inmitten eines Mysteriums, das über unseren Verstand hinausgeht und schon in unserer Seele verankert ist«, so Jeff Carreira. In diesem Zwischenraum sind Ich und Welt in einer immerwährenden Berührung. Wenn uns dies bewusst wird, dann geben wir dem Leben wirklich die Hand.