Der Anfang von allem

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Buch/Filmbesprechung
Published On:

January 24, 2022

Featuring:
David Graeber
David Wengrow
James C. Scott
Robin Wall Kimmerer
Steven Pinker
Tyson Yunkaporta
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 33 / 2022
|
January 2022
Wir leben zwischen den Zeiten
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Eine Rezension des Buches »Anfänge« von David Graeber und David Wengrow

Das neue Buch des verstorbenen David Graeber (1961 – 2020) und seines Kollegen David Wengrow hat eine heftige Debatte ausgelöst – und das aus gutem Grund. Das Produkt einer zehnjährigen Zusammenarbeit zwischen dem Anthropologen Graeber und dem Archäologen Wengrow, »Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit«, ist ein fesselndes transdisziplinäres Werk, das sein ehrgeiziges Versprechen, die Geschichte neu zu schreiben, weitgehend einlöst.

Auf einer Ebene funktioniert das Buch wie ein »kritisches Update« für die öffentliche Vorstellungskraft, ähnlich wie James C. Scotts »Die Mühlen der Zivilisation«, Robin Wall Kimmerers »Geflochtenes Süßgras« und Tyson Yunkaportas »Sand Talk«. Diese populärwissenschaftlichen Werke sind an einer bedeutenden kulturellen Wende beteiligt. Nennen wir es die Dezentrierung der Moderne. Anstatt der Moderne als Ausgangspunkt eine herausragende Stellung zu geben, von der aus man die Menschheits-geschichte – oder gar die Zukunft – betrachten kann, arbeiten viele dieser Denker daran, dieses aufklärerische Narrativ infrage zu stellen oder ganz zu dekonstruieren. Die Bedeutung von »Anfänge« für unsere Zeit liegt in einer neuen menschlichen Ursprungsgeschichte, die nicht nur die großen Geschichtsnarrative aktualisiert, sondern auch daran arbeitet, die ganze Menschlichkeit unserer Vorfahren wiederherzustellen und zu würdigen.

In gewisser Weise ist die gewagteste Idee in »Anfänge« nicht die »neue« Geschichte, die darin erzählt wird (obwohl wir gleich dazu kommen werden), sondern das Gedankenexperiment, das sich durch das ganze Buch zieht: Was wäre, wenn die Menschen in der Vergangenheit in den wichtigsten Aspekten genauso komplex (sprich: kompliziert) und in vollem Sinne Mensch waren wie wir? Wenn wir die Mauern niederreißen, die wir errichtet haben, um uns von der Vergangenheit zu trennen, wird die Vergangenheit zu etwas, das weit mehr ist als bloße Fakten, die wir in unseren Büchern lesen. Wenn wir die Vergangenheit lesen können, dann kann die Vergangenheit uns lesen. Geschichte ist eine Straße, die in beide Richtungen führt. Sie wird zu einer Beziehung, die sich gegenseitig verwebt, wie vielleicht alle Dinge, die in Form eines Rhizoms oder Pilzgeflechts exzitieren. Die Toten haben den Lebenden etwas zu sagen, und vergangene soziale Möglichkeiten können auch zu zukünftigen werden.

Dieses Gedankenexperiment mag zu sehr nach Poesie klingen, aber es ist genau das, was der integrale Philosoph Jean Gebser als die notwendige Bedingung eines neuen Bewusstseins ansah. Die integrale Mutation würde, so schlug Gebser vor, das Prinzip der »Diaphanität« oder eine Transparenz sowohl der Zeit als auch des Raums aufweisen. In seinen tiefgründigsten, wenn nicht gar herausforderndsten Passagen beschreibt Gebser eine Art lebendige Wechselbeziehung zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. In dem allgegenwärtigen Mysterium teilen die Lebenden, die Toten und die Ungeborenen eine undenkbare Kontinuität. In den Schriften von Graeber und Wengrow ist etwas von diesem neuen Bewusstsein zu spüren. In dem Maße, in dem sie unsere Vorfahren zu modern gemacht haben, haben sie auch eine Tür geöffnet, die wahrscheinlich nicht wieder geschlossen werden kann – und die Vergangenheit antwortet vielleicht schon.

Wenn wir die Vergangenheit lesen können, dann kann die Vergangenheit uns lesen.

Was sagt uns also diese aktualisierte Version der Geschichte? Werfen wir einen kurzen Blick auf dieses neue, verblüffende Gesamtbild. Die Menschen haben sich nicht von einfachen egalitären Gruppen zu komplexen hierarchischen Staaten entwickelt. Was wir stattdessen sehen, ist ein erstaunliches Maß an Variation und nichtlinearer Komplexität, wie ein Mosaik der Entwicklung, das sich über die Weite von Geografie, Klima und Zeitläufen hinweg unterschiedlich entwickelt hat.

Paläolithische Jäger- und Sammlergesellschaften waren keine einfachen egalitären Gruppen, sondern organisierten ihre Gesellschaften dynamisch um eine Form von »saisonalem Dualismus«, der zwischen egalitären und hierarchischen Gesellschaftsordnungen hin- und herpendelte. Diese archäologische Erkenntnis bietet Übereinstimmungen mit integralen Ansätzen – Gebser wies nämlich darauf hin, dass die mythische Struktur des Bewusstseins von der rhythmischen Komplementarität der Gegensätze lebt, die wie Winter und Sommer ein relationales Ganzes bilden.

Kleine Gruppen waren nicht unbedingt egalitär, größere Populationen nicht unbedingt hierarchisch. Auch hier scheint es Unterschiede gegeben zu haben. Neolithische Gesellschaften, wie die Menschen, die -Göbekli Tepe errichteten, bauten lange vor der Erfindung der Landwirtschaft monumentale Architektur. Wie ihre paläolithischen Vorgänger waren sie auch in der Lage, sich von solchen Zentren zu entfernen. Göbekli Tepe wurde von seinen eigenen Bewohnern absichtlich begraben. »Hierarchien wurden in den Himmel gehoben«, schreiben -Graeber und Wengrow, »nur um schnell wieder abgerissen zu werden«. 

Die ersten Städte scheinen weitgehend egalitär gewesen zu sein und existierten schon erstaunlich viele Jahrtausende vor dem Aufkommen der ersten Staaten. Einige Gesellschaften gaben den Ackerbau ganz auf (siehe das faszinierende Kapitel über die Mississippi-Stadt Cahokia), während andere, vor allem die urbanen Zentren im mesopotamischen Überschwemmungsgebiet, abwechselnd Ackerbau betrieben und als Jäger und Sammler lebten.

Viele Gesellschaften entwickelten sich durch kulturelle »Schismogenese«, eine Art bewusster Differenzierung der sozialen Möglichkeiten im Gegensatz zu ihren Nachbarn. Nehmen wir die indigene Republik Tlaxcala, einen Stadtstaat östlich des Aztekenreichs. Ihre Führung bestand aus einem gewählten Rat (dem teuctli), dessen Mitglieder sich einer initiatorischen und selbsterniedrigenden Prüfung unterzogen, die öffentliche Demütigung, asketische Praktiken wie Fasten und Isolation sowie ethische Unterweisung beinhaltete, bevor sie ihren Platz im Rat einnahmen.

Es gibt noch viele weitere Beispiele in »Anfänge«, aber sie alle haben in gewisser Weise mit der Wiederaufnahme der »indigenen Kritik« zu tun, den enorm populären Dialogen, die unter den Denkern der französischen Aufklärung kursierten. Diese -Dialoge wurden eher als Erfindung denn als Tatsache abgetan – bequeme Fiktionen, die die Kritik an der europäischen Gesellschaft unter dem Deckmantel indigener Charaktere in ein exotistisches Licht setzten und ihren Autoren gleichzeitig erlaubten, kontroverse Ideen zu Geschlecht, Gleichheit und Wirtschaft vorzustellen. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass dies nur eine Teilwahrheit ist: Wir wissen zum Beispiel, dass der indigene Staatsmann Kandiaronk ein kluger Sozialphilosoph war und dass die indigenen Kulturen Nordamerikas die persönliche Freiheit schätzten. Graeber und Wengrow legen überzeugend dar, welche Rolle die indigene Kritik für die Aufklärung gespielt hat.

Sie zeichnen auch die Geschichte der konservativen Gegenreaktion nach. Sozialphilosophen konnten die Kritik der Eingeborenen mit einem evolutionären Bezugsrahmen abtun, der sie auf eine frühere, einfachere und kindliche Stufe der Geschichte stellte, in der Freiheit und Gleichheit nur möglich waren, weil sie sich einfach noch nicht zu höheren und komplexeren Gesellschaftsordnungen entwickelt hatten. »Anfänge« ist eine Art Widerlegung dieses evolutionistischen Denkens, das auch heute noch von Autoren wie Jared Diamond und Steven Pinker vertreten wird (Graeber und Wengrow haben eine gewisse Freude daran, diese Autoren zu verunglimpfen, was nicht unbegründet ist).

Wo führt uns das hin, und was sagt uns das Gesamtbild, wenn überhaupt? Erstens, dass unsere Entstehungsgeschichte nicht so verstanden werden kann, dass es ein Fall aus dem Paradies eines einfachen Egalitarismus war, der sich in der Entwicklung zu immer hierarchischeren und komplexeren Gesellschaften vollzog. Komplexität gab es von Anfang an (das war wirklich der Anfang von allem). Komplexität durchdringt alles.

Gesellschaften entwickeln sich, aber sie tun es symbiotisch. In Beziehung. Wenn wir diese Entwicklung in diskrete Phasen der menschlichen Geschichte einteilen, verlieren wir diese Beziehung. Obwohl sich viele Gesellschaften in bestimmte Richtungen entwickelt haben, gibt es zahlreiche Fälle menschlicher Gesellschaften, die sich zwischen den vermeintlichen Stufen des Evolutionsschemas hin- und her-bewegt haben, und zwar im Laufe eines einzigen Jahres (z. B. die nordamerikanischen Plains-Gesellschaften).

Was bedeutet das für die integrale Philosophie, die Metamoderne oder das entwicklungsorientierte Denken? Andere Theoretiker mögen ihre eigene Meinung zu diesem Buch haben, aber die Frage ist zu wichtig, um sie in dieser Rezension unbehandelt zu lassen. 

Eine Neubetrachtung der Geschichte des Bewusstseins ist sicherlich angebracht. In meinem eigenen, demnächst erscheinenden Buch »Fragments of an Integral Future« schlage ich vor, dass wir die komplementären Komplexitäten der indigenen und modernen Weltsicht betrachten sollten. Die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und der Kultur ist zweifelsohne weitaus nichtlinearer und pluralistischer, als wir es uns vorgestellt haben, und unsere Modelle müssen unbedingt diese ganzheitlichere Sicht der Geschichte widerspiegeln. 

Die Zeitmythologien, die die Moderne begleitet haben – jene, die mit dem Fortschritt in Verbindung gebracht werden – entfalten sich zu einem breiteren und komplexeren menschlichen Gewebe. Das ist gut so. Es verheißt Gutes für die Zukunft des Meta-Denkens, solange wir in der Lage sind, jede dieser Realitäten zu verarbeiten und nicht vor ihnen davonzulaufen.

In einer Zeit der planetarischen Krise, in der neue soziale Möglichkeiten nicht nur eine gute Idee, sondern ein existenzieller Imperativ sind, täten wir gut daran, uns eine neue Form der Geschichte zu eigen zu machen. Zeit als Rhizom. Diese integrale Geschichte würde die volle und reiche Menschlichkeit unserer Vorfahren und der indigenen Komplexität gleichermaßen anerkennen und uns beginnen lassen, die richtigen Fragen zu stellen: Wenn die Moderne dezentriert wird und andere Komplexitäten und ihre Geschichten für unser gemeinsames planetarisches Überleben von Bedeutung sind, was könnten wir dann gemeinsam werden? Hier könnte ein Hinweis auf das neue integrale Bewusstsein zu finden sein: Wenn die Geschichte transparent gemacht wird, kann die Vergangenheit neue Zukünfte eröffnen, anstatt sie zu verschließen.  

Author:
Jeremy D. Johnson
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