Der Atem des Lebens

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Published On:

August 1, 2014

Featuring:
David Steindl-Rast
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 03 / 2014
|
August 2014
Maschinen meditieren nicht
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Mediation und Dankbarkeit

Es ist immer ein besonderes Erlebnis einer großen Seele begegnen zu dürfen. David Steindl-Rast ist ein Mensch, der durch seine Tiefe und Demut berührt. Vor einigen Wochen hatte ich die Gelegenheit, den bekannten spirituellen Lehrer im Benediktinerkloster mmmmmmmm zu besuchen und über die drei Aspekte spiritueller Praxis zu sprechen: Schweigen, Dankbarkeit und Handeln.


Tom Steininger: Wir leben in einer Zeit mit rasender technischer Entwicklung, der Internetkommunikation und Verbindung von Mensch und Maschine, in der sich die Frage nach dem Menschsein in einer neuen Dimension stellen wird. Was ist aus Ihrer Sicht die Bedeutung spiritueller Praxis für uns Menschen allgemein und im Besonderen im Kontext einer Zeit, die immer mehr ein technologisches Umfeld hat?

Bruder David: Vielleicht beginnen wir mit dem Kontext und mit dem Wort „Fortschritt“. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass Fortschritt nicht mehr bedeutet, als das Wort sagt: es ist ein weiterer Schritt. Bei den meisten Menschen schwingt mit dem Wort „Fortschritt“ mit, dass es immer besser wird. Fortschritt heißt aber einfach, ein Weitergehen, in dem wir das Leben aus einer neuen Perspektive sehen. In dieser Hinsicht sollten wir alle den Fortschritt wollen – er gehört zum Leben dazu –, aber nicht zu viel vom Fortschritt erwarten. Vor allem sollten wir keine Lösungen vom Fortschritt erwarten, denn die Lösungen liegen nicht im Weitergehen, die Lösungen liegen im Nach-Innen-Gehen, immer wieder. Wir Menschen konfrontieren uns immer mit einem großen Geheimnis, einem Mysterium von unauslotbarer Tiefe. Jeder Mensch wird früher oder später mit drei Fragen konfrontiert, die ins Geheimnis, ins Bodenlose führen: „Warum?“, „Was?“ und „Wie?“.

Wir sollten alle den Fortschritt wollen, aber nicht zuviel vom Fortschritt erwarten.


Die erste Frage ist die Frage nach dem „Warum“: Warum sind wir überhaupt da? Warum gibt es überhaupt irgendetwas? Warum kann ich überhaupt „Warum“ fragen? Dieses „Warum“ führt uns in eine Tiefe, denn wenn ich frage, „Warum?“, setzt das schon ein Du voraus. Ein Ich setzt immer ein Du voraus. „Ich bin“ ist sinnlos, wenn man nicht schon ein Du voraussetzt. Dieses „Warum?“ deutet auf das große, ewige DU. Und das ist nicht die Summe aller Du‘s, denen wir im Leben begegnen, unsere Eltern, Verwandte, Freunde etc. Wir erleben, dass wir in keinem dieser Du‘s – und sei es unser liebster Freund oder unsere liebste Freundin – wirklich finden, was wir in diesem DU suchen. Wir finden immer etwas von diesem größeren DU, aber nicht alles. Im Erleben zeigt sich das für viele Menschen darin, dass unser Leben erst dadurch zu einer Lebensgeschichte wird, dass wir sie erzählen. Wir erzählen ständig unser Leben diesem großen DU. Selbst den liebsten Menschen können wir das Wichtigste nicht ganz erzählen, es kommt nicht vollkommen an.

Warum? Was? Wie?

TS: Können Sie die beiden anderen Aspekte spiritueller Praxis, das „Was?“ und das „Wie?“ noch näher erläutern?

BD: Das „Warum?“ führt uns in die Stille, in den wortlosen Abgrund. In jeder Tradition ist das Eintauchen in diesen wortlosen Abgrund eine Form der spirituellen Praxis, aber besonders im Zen wird es sehr zentral praktiziert. In der christlichen Tradition ist es das „Gebet der Stille“. Die zweite Frage, mit der jeder Mensch konfrontiert wird, ist das „Was?“. Wenn wir uns wirklich, fragen, was es in dieser Welt gibt, kommen wir an kein Ende. Die Welt ist unergründlich und in ihrer Fülle unerforschlich. Aber es ist eine andere Unendlichkeit als die Tiefe des „Warum?“ in der schweigenden Versenkung. Das „Was?“ ist eine Bewegung in die Weite – unerschöpflich, Hier geht es in der spirituellen Praxis um Begegnung. Auch dies finden wir in jeder spirituellen Praxis: die Begegnung mit allem, was es gibt, mit Menschen, Tieren, Pflanzen, mit dem ganzen Kosmos.

Dankbar leben heißt, sich dem in diesem Augenblick Lebenzu stellen.


Die dritte Frage ist für die meisten die Wichtigste: „Wie?“ Auch sie führt uns in das Geheimnis, in das Unergründliche, aber nicht in die Tiefe oder in die Weite, sondern ins Dynamische des Lebens. Diese dritte Dimension spiritueller Praxis ist das Tun, das Handeln in der Welt.
Spirituelle Praxis beginnt mit dem Schweigen, denn nur aus dem Schweigen kann das rechte Hinhorchen kommen. Im Hinhorchen begeben wir uns mit einem „Was?“ mit all unseren Sinnen in die Wirklichkeit, die dritte Phase ist das „Wie?“, die ebenfalls aus dem Schweigen entsteht, das Tun. Aus dem Schweigen kommt das Wort und alles, was es gibt, wird als Wort verstanden, das uns anspricht. Jeder Mensch und jedes Tier, der oder das mir begegnet, ist ein Wort, das mich anspricht. Und mit dem Tun kommt das Verstehen, denn wir verstehen nur durch das Tun. Das Geheimnis hat also drei Dimensionen: das Schweigen, das Wort und das Tun.
Die spirituellen Traditionen haben hier unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: Der Buddhismus widmet sich hauptsächlich der Konzentration auf die Stille. Die letzte, große Predigt des Buddhas ist die „Blumenpredigt“, dabei sagt er kein Wort, er hält nur eine Blume empor. Sein Schüler Kashyapa lächelt und in diesem Lächeln wird die Nachfolge weitergegeben. Im Christentum, Judentum, Islam, in allen westlichen Traditionen ist es das Wort: Alles ist Wort, die ganze Welt ist Wort, das uns anspricht und dem wir antworten. Im Hinduismus hingegen geht es um das Verstehen. Prenkede Shananda sagt: „Yoga in allen seinen Formen ist Verstehen.“ Yoga heißt wörtlich: „zusammenjochen“ – es verbindet das Wort und das Schweigen durch das Verstehen. Verstehen bedeutet dabei, sich vom Wort ergreifen zu lassen, sodass es uns hineinführt in das Schweigen, aus dem es ursprünglich kommt.

Innehalten, Sehen, Handeln

TS: Die großen Traditionen haben einen eigenen Schwerpunkt auf diese drei Grundfragen „Warum?“, „Was?“ und „Wie?“ gefunden. Wie sehen Sie im Verhältnis dazu Ihren eigenen Schwerpunkt, die Praxis der Dankbarkeit? Diese Praxis unterscheidet sich von einer stillen Meditationspraxis insofern, dass Dankbarkeit als Praxis sich bezieht; wir wissen vielleicht nicht, worauf wir uns beziehen, aber diese Praxis ist sozusagen eine Herzensbewegung, die sich auf das gleiche Mysterium bezieht, in dem das Schweigen ruht.

BD: Ja, aber die Praxis der Dankbarkeit entfaltet sich auch in einem Dreischritt, spielerisch zusammengefasst könnte man sagen: Stop – Look – Go. Um wirklich dankbar zu leben, um Dankbarkeit zu einer Lebenspraxis zu machen, müssen immer wieder lernen, innezuhalten. Dieses Innehalten hilft, immer wieder aus dem Strom, aus dem Automatismus, in den wir hineingezogen werden, herauszukommen. Der zweite Schritt ist das Sehen und Sich-Öffnen für alles, was uns gerade begegnet: Was bietet mir das Leben gerade jetzt an? Der dritte Schritt besteht darin, diese Gelegenheit – das Geschenk, das jedem Augenblick innewohnt – anzunehmen und etwas damit zu tun, wobei dieses Tun auch darin bestehen kann, uns am Leben zu freuen.

TS: Wenn ich Sie richtig verstehe, meinen Sie, dass man diese drei Aspekte eigentlich gar nicht trennen kann. Diese Öffnung der Dankbarkeit ist erst möglich aus dem Innehalten heraus, und kommt eigentlich erst zu ihrer Vollendung im Tun, im Ergreifen der Möglichkeit, die sich aus dem heraus ergibt, was uns als Leben begegnet.

BD: Ganz genau. Wenn man das das richtige Tun praktiziert, dann führt dies wiederum zu einer „Stillung“, denn es ist die Antwort auf das, was das Leben uns bietet. Dann sind wir synchronisiert mit dem Leben und das kann eine Stille sein – die Stille eines Rades, das sich sehr schnell dreht, eine dynamische Stille. Aber dieses dynamische Gleichgewicht können wir schnell wieder verlieren, dann müssen wir wieder innehalten. Es ist ein Prozess, den wir immer wieder durchlaufen.

Spiritualität in all ihren Formen ist Lebendigkeit.

TS: Dieser Prozess verlangt von uns eine Tiefe, die nicht selbstverständlich ist. Wirklich innezuhalten ist ja etwas, das existenziell sehr herausfordernd sein kann. Jeder, der Meditation einmal probiert hat, weiß, wie schwierig es ist, einfach anzuhalten, wie alles in einem einfach weiter machen möchte. Es braucht einen großen Willen zum Loslassen, um überhaupt loslassen zu können. Es ist auch deshalb so herausfordern, weil es mich in meinem eigenen Selbstverständnis radikal in Frage stellt.

BD: Ja, die Schwierigkeit kommt eben nicht nur daher, dass es selbstverständlich ist, sondern dass ich mich eben als der ständig Tuende und nie Innehaltende verstehe und daher das Innehalten mein ganzes Leben in Frage stellt. Ich identifiziere mich so mit meinen Gedanken, dass die Gedanken nicht aufhören, aber das heißt nicht, dass ich denke, sondern dass „es mich denkt“. Die Praxis der Meditation ist eine tiefe existenzielle Auseinandersetzung, so wie es auch die Praxis der Dankbarkeit ist. Denn mit Dankbarkeit meine ich nicht die normale Höflichkeit, wo man sich bedankt, wenn man etwas bekommt. Dankbar leben heißt vielmehr, sich dem Leben stellen, in diesem Augenblick. Daran zeigt sich auch, das Dankbarkeit eine echte spirituelle Praxis ist, denn jede spirituelle Praxis will uns in das Jetzt führen, aus der Zeit heraus, aus dem Gefangensein in der Vergangenheit und aus der Vorwegnahme der Zukunft in das Jetzt. Denn wir sind nur im Jetzt – alles andere ist wie Traum. Die Dankbarkeit führt uns in das Jetzt, sie bezieht sich auf die Gelegenheit, die das Leben mir jetzt in diesem Augenblick anbietet – mit der ich etwas tun muss.

Dankbar für das Leben

TS: Diese Dankbarkeit bezieht sich auch auf etwas anderes, weil die übliche Dankbarkeit eher ein oberflächliches Nutzenverhältnis meint. Diese Dankbarkeit als Praxis ist, wie Sie einmal gesagt haben, keine naive Dankbarkeit. Man kann nicht für alles dankbar sein: man kann nicht für Verbrechen oder Krieg dankbar sein, aber – und das führt wahrscheinlich wieder zu dem Augenblick, den Sie betont haben – man kann für den Augenblick dankbar sein, selbst wenn es der herausforderndste ist, weil er eine Gelegenheit für etwas ist. Wenn ich so über Dankbarkeit nachdenke, bin ich eigentlich mit der ganzen Größe des Lebens konfrontiert. Eigentlich ist es die Dankbarkeit, auf das Leben antworten zu dürfen.

BD: Richtig. Es ist eine Konfrontation mit diesem großen Geheimnis, und der für die meisten Menschen zugänglichste Name für dieses Geheimnis, mit dem sich die spirituellen Traditionen schon seit Jahrtausenden beschäftigen, ist: das Leben. Das Leben ist etwas so Geheimnisvolles, selbst für den Wissenschaftler. Man kann manches darüber sagen, wie es funktioniert, aber das Leben ist in sich zutiefst geheimnisvoll. Das „Warum“ führt uns zur Quelle, zum Ursprung des Lebens, der völlig unerklärlich ist: das lebendige Leben entspringt in jedem Augenblick neu. Das „Was“ konfrontiert uns mit allem, was es gibt, und das „Wie“ mit der Lebendigkeit in uns und um uns. Die Dankbarkeit konfrontiert uns mit dem Leben. Das Wort „spirituell“ ist für mich gleichbedeutend mit lebendig, denn „Spiritus“, der Heilige Geist, ist der „Atem des Lebens“. Spiritualität in all ihren Formen ist Lebendigkeit. Es ist gelebtes Leben, sich dem Leben völlig hingeben, auf allen Ebenen.

Wir müssen unsere Werkzeuge mit Leben erfüllen, sonstwerden wir selber mechanisch.

TS: Das führt mich auch zu meiner letzten Frage: Spiritualität hat immer für unser Menschsein eine tiefe Bedeutung. Denken Sie, dass es in dem jetzt entstehenden 21. Jahrhundert eine spezielle Bedeutung für spirituelle Praxis gibt, in dem Sinne, dass sie auch eine spezielle Antwort auf diese Zeit gibt?

BD: Ja, wir leben in einer Zeit, in der das Mechanische immer reicher an Möglichkeiten wird. Wir leben in einer Zeit, in der wir die Werkzeuge, die unsere Großeltern oder Urgroßeltern noch verwendet haben – so etwas wie ein Rechen oder eine Schaufel oder ein Leiterwagen – ersetzt werden durch Computer. Das ist eine Mechanisierung und ich bin sehr positiv eingestellt gegenüber dieser Mechanisierung, sie ist ja einfach eine Erweiterung unseres Lebens, unserer Lebensbasis. Wir sehen, wie viel mehr sie uns ermöglicht. Aber wir müssen sie mit Leben erfüllen, sonst werden wir selber mechanisch. Wir sind eben vor diese Alternative gestellt: Entweder das Mechanische, das wir erfunden haben, reißt uns weg, und wir werden selber mechanisch. Oder wir erfüllen diese große Aufgabe und machen das Mechanische, das wir erfunden und entwickelt haben, wirklich lebendig. Wir erfüllen es mit Leben, verwenden es, um Leben zu fördern, um Leben zu bereichern, erfüllen es mit Lebenskraft. Wenn ich noch länger leben darf, wäre das etwas, worüber ich mich freuen könnte.

Author:
Dr. Thomas Steininger
Share this article: