Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 14, 2015
Seit fünfzig Jahren hat die Frauenbewegung unsere Gesellschaft verändert, aber von der Vision, die am Anfang stand, ist oft wenig zu spüren. Elizabeth Debold reflektiert anhand ihres eigenen jahrzehntelangen Engagements für die Transformation unserer Geschlechterbeziehungen, woher ein tieferer Aktivismus kommen könnte.
Ich weiß nicht mehr, was die »Gleichberechtigung der Geschlechter« eigentlich bedeutet. Es ist so seltsam, dass sich nach 50 Jahren Frauenbewegung für die Gleichstellung der Geschlechter zwar sehr viel geändert hat, und dennoch die soziale Transformation, die ich mir erhofft hatte, ausgeblieben ist. In der Tat sind wir weit davon entfernt.
Vielleicht bin ich zu idealistisch, weil ich mehr erwartet hatte. Aber ich hatte nicht gedacht, dass die Gleichstellung darauf reduziert wird, das gleiche Recht zu haben, das zu tun, was immer man/frau tun möchte – wann immer möglich die eigenen Wünsche zu erfüllen, unabhängig von der Auswirkung auf andere. Irgendwie ist selbst die Idee der Gleichberechtigung zu einem Mittel des Status quo geworden, um ein Spiel zu spielen, in dem es nur Verlierer gibt – Männer und Frauen, die um Würde, Selbstachtung und Unabhängigkeit konkurrieren. Meine ursprüngliche Inspiration, mich für soziale Transformation zu engagieren, kann ich mit dem Titel des neuen Buches von Charles Eisenstein beschreiben: »Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich.« Meine Sehnsucht kam aus einer Vision, die keinem Bild im Kopf entsprang, sondern einem Ruf aus dem Herzen: in unserer Unterschiedlichkeit eine neue Ganzheit und gegenseitige Wertschätzung zu finden. Wie erreichen wir eine tiefere Gleichberechtigung, die uns über den Status quo hinausträgt – angesichts der komplexen, ja irritierenden Welt, in der das überwiegende Ziel der Gleichstellung auf eine in gewisser Hinsicht schamlose, individuelle Gleichheit von Erfolg und Konsum reduziert wurde? Wie funktioniert tiefere soziale Transformation?
Die neoliberale Übernahme
Meine erste Frage ist: Können sich die Systeme, welche die geschaffene, real existierende Welt hervorriefen, jemals in etwas Neues verwandeln? Die Geschlechterzweiheit männlicher und weiblicher Personen und die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Bereich entstanden zusammen und ergänzen sich gegenseitig. Der Kapitalismus entwickelte sich mit dieser modernistischen Aufteilung der Welt und unseres Menschseins. Wir können die Mechanismen von rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Systemen, die auf der Basis von Trennung entstanden sind, nicht gebrauchen, um eine neue Ganzheit zu schaffen. Die Idee, dass wir einfach Frauen ins öffentliche Leben »hinzufügen und umrühren« müssen, um die Welt zu verändern, war naiv. Die Werte im öffentlichen Leben und die Führungsstile in Politik, Wirtschaft, Recht und Bildung wurden dadurch nicht verändert. Mehr noch: Die Privatsphäre der menschlichen Intimität und Fürsorge wurde erschreckend abgewertet.
Ebenso wenig kann tiefe Veränderung von Frauen kommen, die den Wert von Intimität und Fürsorge betonen – obwohl die meisten Menschen ohne diese Fürsorge nicht überleben könnten. Im Rahmen einer marktorientierten Wirtschaft haben Fürsorge, Pflege und Intimität buchstäblich keinen Wert mehr. Diejenigen, die solche »Arbeiten« verrichten, haben in unserer Gesellschaft fast keine Stimme mehr. Die Frauen der Mittel- und Oberschicht haben den häuslichen Bereich verlassen, um arbeiten zu können, wodurch ein Vakuum entstanden ist. Dadurch etablierte sich ein Schwarzmarkt für gering bezahlte Betreuungsarbeiten wie Reinigungsdienste, Kinderbetreuung, Kochen, Altenpflege und auch sexuelle Dienste. Diese Tätigkeiten, die unsere menschlichen Beziehungen unterstützen und von der Basis her tragen, werden als niedrige Arbeit erachtet, die oft Menschen mit Migrationshintergrund überlassen wird oder Menschen, welche mit wenig Rechten am Rande der Gesellschaft leben.
Seit dem Fall der Berliner Mauer ist der Neoliberalismus – die Ideologie, welche den Kräften des Marktes eine gottähnliche Verfügungsgewalt gibt – fast überall auf der Welt zum einzigen »Betriebssystem« geworden. Und es hat auch den Feminismus erreicht. Dieser Feminismus betont die individuelle Wahlfreiheit und Ermächtigung, lässt aber den Kapitalismus unverändert und kritiklos stehen. Inwieweit unsere Entscheidungen durch den Markt geformt werden, wird nicht hinterfragt. Dem neoliberalen Feminismus wird in den Medien viel Platz eingeräumt. Er segelt unter der Fahne der Gleichstellung in Wirtschaft und politischer Führung, wie etwa bei Facebook-COO Sheryl Sandberg mit ihrem Slogan »Lean In«. Dabei werden Frauen ermutigt, Teil des Systems zu sein, statt es zu kritisieren. Aber wie die Dichterin und Essayistin Audre Lorde so kraftvoll sagte: »Des Meisters Werkzeug wird des Meisters Haus niemals zerstören.«
Liebe & Vision
Die Memoiren einiger früherer Aktivistinnen der Frauenbewegung aus den 60er Jahren in Amerika bieten einige Anhaltspunkte. Ihre Strategien waren inspiriert, aber oft abenteuerlich: Proteste bei der Miss-Amerika-Wahl oder die Inszenierung eines Sitzstreiks in den Geschäftsräumen einer der führenden Zeitschriften für Hausfrauen, dem »Ladies Home Journal«. Aber daneben engagierten sie sich in der Bewusstseinsbildung: Progressive junge Frauen, die sich von ihren männlichen Kollegen bei der politischen Linken herablassend behandelt fühlten, verbündeten sich. Sie sprachen über ihre Erfahrungen als Frauen und begannen, die Welt anders zu sehen und auch anders darüber nachzudenken. Eine Frau beschrieb, wie sie erstaunt über sich selbst war, als sie bei einem chaotischen Antikriegsprotest auf einen Tisch sprang und mit einer Kraft und Begeisterung sprach, die sie bisher nicht kannte. Andere sprachen von einem Erwachen, einer tiefen inneren Klärung, die für immer ihre Erfahrung veränderte. Und fast jede von ihnen sprach von Liebe. Nicht die Liebe zwischen Mann und Frau, die ihnen als Ziel ihrer Sehnsüchte beigebracht wurde, sondern eine Liebe, die alle Trennung erschütterte und eine Tür zu neuen Möglichkeiten öffnete.
Es mag seltsam erscheinen, über Liebe zu sprechen, da Feministinnen oft als bittere Antagonisten im Geschlechterkrieg angesehen werden. Aber am Anfang war es Liebe. Diese jungen Frauen erforschten zusammen, sie kämpften, diskutierten und warfen ein neues Licht auf das unbekannte Gebiet ihrer Erfahrungen – Mädchen, Frauen, Töchter, Schwestern, Liebende, Arme, Frauen aus der Arbeiterklasse, Reiche, Lesben, Weiße, Schwarze, Latinas und Asiatinnen. Keine dieser jungen Frauen hatte einen konkreten Plan, wie die Welt sein könnte oder sollte. Aber sie stießen einen Wandel an, nicht überall und in jeder Frau, aber ausreichend, damit sich alles veränderte – wie der Titel von Gail Collins’ Buch lautet (»When Everything Changed«).
¬ MEINE SEHNSUCHT KAM AUS EINER VISION, DIE KEINEM BILD IM KOPF ENTSPRANG, SONDERN EINEM RUF AUS DEM HERZEN. ¬
Es mag sich nicht genug verändert haben, aber der Wandel war dramatisch: Der Ruf nach Gerechtigkeit und gleichem Respekt für Frauen breitete sich rasch über den ganzen Globus aus. Was geschah hier wirklich? Es ist nicht leicht zu erklären. Aber ich vermute, dass es mit dieser Liebe zusammenhängt, die es uns ermöglicht, wahrzunehmen, dass die Welt anders sein könnte. Diese Liebe ist visionär, voller Potenzial – trotzt aller Trennung. Ich meine nicht, dass man mit einem geistigen Auge »sieht«, wie die Zukunft sein könnte, aber man erkennt, dass eine neue, ganzheitliche und menschliche Welt richtig, wahr und möglich ist.
Woher kommt der Wandel?
Historiker neigen dazu, den Ursprung von epochalem gesellschaftlichem Wandel in materiellen Ursachen – Entdeckung von neuen Ressourcen, Kontrolle der Produktion, Krieg – zu suchen. Aber in Wahrheit wissen wir es nicht. Hätte sich beispielsweise das Christentum zur Religion des Westens entwickelt, wenn nicht so viele Frauen und Sklaven Jesus’ Botschaft der Freiheit gefolgt wären, die sie vom Apostel Paulus hörten? Ihre Leidenschaft besiegte die Römer und entflammte eine Bewegung, die nicht mehr aufzuhalten war, weil sie die Herzen der Menschen mit einer unerreichten Möglichkeit erfüllte. Die Renaissance, die laut einigen Historikern von nur etwa fünfhundert Menschen initiiert wurde, entstand kurz nach der brutalen Inquisition. Diese Wiedergeburt einer klassischen Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben stellte den dogmatischen Verweis der Kirche auf die »Wünsche« Gottes infrage. War das ein weiterer Ruf aus dem Herzen?
In seinem Buch »Radical Evolution« argumentiert der Zukunftsforscher Joel Garreau, dass anscheinend eine Lehre aus der Geschichte der Menschheit gezogen werden kann: »Die Entwicklung der Menschheit war ein heldenhaftes und erstaunliches ›Durchwurschteln‹.« In Situationen, die das Überleben gefährdeten, konnte die Gesamtsumme der menschlichen Antworten das Überleben sichern – aber nicht nur das Überleben, sondern auch ein positives Weitergehen für uns als Menschen. Die Fähigkeit, sich in wachsender Liebe und Gerechtigkeit zu entfalten, kann nicht als eine lineare Fortschreibung von Ursache und Wirkung verstanden werden. Auch können diese Liebe und Gerechtigkeit nicht einfach auf wundersame Weise alle Probleme lösen. Aber irgendwie haben wir die Fähigkeit, uns mit dem Leben zu verbinden und weiterzugehen, wodurch ein Teil der Menschheit den nächsten Schritt setzen kann – oft in eine sich widersprechende, komplexe und verwirrende Richtung, die wir nicht vollständig durchschauen.
Des Meisters Werkzeuge wegwerfen
Angesichts der Komplexität einer globalisierten Wirtschaft, die Wünsche und Begierden formt und schafft und dabei unsere politischen Systeme beherrscht, werden wir nie in der Lage sein, soziale Transformation mittels »Ursache und Wirkung« zu planen. Denn dabei sind wir in jeder Hinsicht unterlegen. Wir müssen andere Werkzeuge nutzen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter, auf die ich in meinem Herzen hoffe, kommt aus einer tiefen Erkenntnis unserer Einheit, jenseits aller scheinbaren Trennung, und aus dem Interesse an der schöpferischen Kraft unserer Unterschiede. Ich weiß nicht, wie dies in unserem gemeinsamen sozialen und kulturellen Zusammenleben konkrete Realität werden kann. Ich kann nur versuchen, nach dieser Einsicht zu leben – auch wenn ich immer wieder daran scheitere.
Wenn ich meine Vorgängerinnen in der Frauenbewegung betrachte, kann ich bestimmte Qualitäten erkennen, die entscheidend sind, um aus dem Potenzial unserer Herzenssehnsucht heraus zu leben. Viele dieser frühen Pionierinnen schienen erfüllt von einer Verzweiflung über die großen sozialen Fragen ihrer Zeit: der Vietnam-Krieg, Rassendiskriminierung, Gewalt und ihre eigene Ohnmacht, weil sie als Frauen nicht ernst genommen wurden. Ihr Interesse an den unterschiedlichen vielfältigen Erfahrungen als Frauen war wie ein mächtiger Durst. Und dann war da diese Liebe: die Seele durchdringend und jegliche Trennung übersteigend in Richtung Offenheit für ein Potenzial, das aus radikaler Hoffnung und aus der Begegnung mit anderen kommt. Dies sind nicht mehr »die Werkzeuge des Meisters«.
Für mich und für uns alle stellt sich die Frage: Wage ich, Verzweiflung und Fürsorge zu spüren? Wage ich, nicht zu wissen? Und sind wir bereit, dies gemeinsam zu tun? Wenn ich junge Frauen sehe, die ihre Freiheit und Selbstbestimmung mit Alkoholexzessen und Pole-Dancing feiern, während sich zugleich die Berichte über ihre Angst, über Depression und den Mangel an Selbstvertrauen häufen, dann verzweifle ich. Wenn ich Videos sehe, in denen junge Feministinnen junge Männer beschimpfen, weil sie an einem Vortrag über Männerrechte teilgenommen haben, dann verzweifle ich auch. Wenn ich die neuesten Schriften von Männerrechtlern lese, worin sie junge Frauen als »leere kleine Narzisstinnen« bezeichnen, die es verdienen, dass man sie vergewaltigt, ist das auch ein Grund zur Verzweiflung. Und ebenso geht es mir mit dem Frauenhass und dem Cyber-Stalking, die das Internet wie ein Virus infiziert haben. Ich finde es schwer, mich dem auszusetzen, ohne andere zu beschuldigen oder Scham zu empfinden – und auch die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse und Wünsche zu spüren, die hinter solchen schmerzhaften Reaktionen stehen. Kann ich eine innere Dringlichkeit spüren, mich diesem komplexen Chaos zuzuwenden, ohne zu wissen, wie ich darauf antworten kann? Vertraue ich auf die Intelligenz des Lebens selbst, um selbst eine Öffnung für die Liebe zu sein, die mich übersteigt? Kann neben der Verzweiflung gleichzeitig Hoffnung keimen?
Des Meisters Haus abreißen
Einem Teil von mir ist nicht wohl mit dem »weichen« Aktivismus und der subtilen Veränderung, von der ich spreche. Es ist so einfach, die Werkzeuge des Meisters zu nutzen, weil wir sie so gut kennen. Das ist jedoch ein hintergründiger Zynismus. Es ist ein Zweifel an der kreativen Intelligenz, welche die Systeme und Prozesse des Lebens geschaffen hat, von denen wir uns getrennt haben und die wir beherrschen wollen.
Gleichzeitig spüre ich eine Dringlichkeit, unsere gemeinsame Fähigkeit zu stärken, uns zu begegnen – jenseits von allem, was uns historisch getrennt hat. Eine Begegnung in der Liebe, in der wir eins und einzigartig sind – das ist für mich die wahre Gleichberechtigung. Wir brauchen dringend neue Räume, um die unterdrückenden Strukturen in unserer Gesellschaft und in uns selbst auf der Basis der Einheit abzubauen. Dabei verändern wir etwas in einer anderen Dimension der Wirklichkeit, im Bewusstsein selbst, der Grundlage unserer Lebendigkeit, unseres Gewahrseins und unserer Liebe. Durch eine größere Sensibilität und Offenheit gegenüber dieser Dimension können wir uns bewusst und kreativ in das Potenzial für Veränderungen hineingeben, das auch die Pionierinnen der Frauenbewegung entdeckten und das sie trug. Dann können wir das in die Welt bringen, von dem unser Herz weiß, dass es möglich ist.