Die Erotisierung der Gleichheit

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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January 21, 2016

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Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
Ganz nah
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Eine neue Intimität in menschlichen Partnerschaften

Intimität suchen viele von uns in der Beziehung mit einem Partner/einer Partnerin. Aber was suchen wir dort eigentlich? Und wie finden wir zu einer umfassenderen Beziehung, die unseren sozialen Beziehungen eine neue Grundlage geben kann?

»Ich schaue in Deine Augen und sehe ein Universum, das noch nicht geboren ist.«

Intimität. Was ist das erste Bild, das Ihnen in den Sinn kommt, wenn Sie an das Wort »Intimität« denken? Die Berührung einer Hand? Oder das zarte Gefühl eines Atemhauchs auf der Wange oder im Nacken? Intimität bringt fast immer das Bild eines anderen Menschen hervor. Wir sind intim mit … Unsere Sprache für Intimität ist voller Anklänge an die Erfahrung von Liebe und sexueller Vereinigung. Der Wunsch nach sexueller Intimität ist vielleicht das tiefste Verlangen, das unsere gegenwärtige Kultur anerkennt und zum Ausdruck bringt. In einer säkularen Kultur bezeichnet das Wort Intimität eigentlich nur die körperliche Dimension, die von einer tiefen emotionalen Verbindung begleitet wird. Folglich neigen wir dazu, bei Intimität an Paare zu denken, an den Kult der Zweisamkeit, meist an heterosexuelle Beziehungen oder solche, die vom Tanz der Polaritäten des Männlichen und Weiblichen erfüllt sind. Diese ersehnte Bindung mit einem anderen Menschen ist oft der ganze Kontext für unsere tiefe Sehnsucht nach Vereinigung und Transzendenz. In dem Verlangen, wirklich gesehen und erkannt zu werden, suchen wir nach einem Ort, an dem wir mit unserem ganzen Selbst ankommen können, und riskieren es, uns in die Hände und Arme eines anderen Menschen zu begeben. Die Schimäre eines Seelengefährten, jener oder jene Eine, der oder die die chaotische Fülle unserer ungeformten Bedürfnisse und die zerbrechlichen Blüten unseres Potenzials sieht, kennt und trägt, ist der Lieblingsgott der postmodernen Kultur.

Der Gedanke, dass Intimität ein Tanz von zwei umschlungenen verkörperten Seelen in tiefer Hingabe ist, scheint so natürlich und normal zu sein. Aber das ist in der menschlichen Kultur eine sehr neue Entwicklung. Natürlich spielten Sex und Lust von Anfang an eine wichtige Rolle, aber die leidenschaftliche, exklusive Liebesbeziehung ist erst seit Kurzem ein akzeptierter Ausdruck der Sehnsüchte und Wünsche des Menschen. Erst seit dem Beginn der Moderne, seit ungefähr dreihundert Jahren, heiraten Männer und Frauen aus Liebe. Davor war die eheliche Beziehung mehr eine praktische Art von Kameradschaft und Versorgungsgemeinschaft für die unteren Gesellschaftsschichten und für die Aristokratie eine Rechtsangelegenheit im Zusammenhang mit dem Erhalt von Reichtum und Stand. Es ging nicht darum, den Seelenpartner zu finden. Woher kommt also unsere verzweifelte Sorge in Bezug auf persönliche intime Beziehungen? Wie können wir unsere Teilhabe an der Liebe und dem Leben vertiefen? Ist Polyamorie, also mehrere verbindliche sexuelle Beziehungen gleichzeitig, die Antwort? Für mich hängt die Antwort auf diese Fragen davon ab, wie wir Intimität verstehen und wie dieses Verständnis den Blick in die Zukunft öffnet.

»Wenn ich mich selbst liebe, liebe ich Dich. Wenn ich Dich liebe, liebe ich mich selbst.«

»Wenn ich sagen könnte, was ich denke und fühle«, sagt Iris nachdenklich, »dann würde niemand mehr mit mir zusammen sein wollen. Meine Stimme wäre zu laut.« Iris ist siebzehn und im letzten Jahr der Highschool, sie nahm an einer Studie mit Mädchen teil, die von meinen Kolleginnen Carol Gilligan und Lyn Mikel Brown durchgeführt wurde. Iris fügt ihrer ersten Bemerkung trotzig einen Einwand hinzu: »Aber man muss doch Beziehungen haben!« In »The Birth of Pleasure« (deutscher Titel: »Die Wiederentdeckung der Lust«) fährt Carol Gilligan fort:

»Ich stimme dem zu. Wir haben den aufrichtigen freimütigen Äußerungen von jungen Mädchen zugehört. Sie fragten: ›Aber wenn wir nicht sagen, was wir fühlen und denken, wo sind wir dann in diesen Beziehungen?‹ Iris erkennt, wie paradox ihre Aussagen sind: Sie hat Beziehung aufgegeben, um Beziehungen zu haben; sie brachte ihre Stimme zum Schweigen, damit ›sie‹ mit anderen Menschen zusammen sein konnte.«

Iris’ Beobachtung und ihre Sorge, dass man Beziehungen haben muss, ist grundlegender, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Unsere Forscherinnengruppe unter der Leitung von Carol ­Gilligan entdeckte, dass Mädchen beim Übergang von der Kindheit zum Frausein ein lebendiges Gespür für Bezogenheit hinter sich lassen, um individuelle Beziehungen mit anderen zu kultivieren – in Freundschaften und mit ihrem (festen) Freund. Mädchen entwickeln in der Adoleszenz ihre Fähigkeit zum abstrakten Denken, die schließlich zur Fähigkeit für selbstständiges Denken werden kann. Aber in diesem Prozess verlieren sie ihr Gefühl, in einer Beziehungswelt eingebettet zu sein. Eine Entspanntheit im Bezogensein wird häufig ersetzt durch Selbstverunsicherung und Anpassungsbemühungen. Es ist eine dieser unangenehmen Paradoxien des Prozesses, den wir Entwicklung nennen: Jeder Zuwachs in Richtung Selbstbewusstsein bringt einen Verlust mit sich.

Diesen Übergang bei Mädchen aus der Mittelschicht finde ich auffallend, weil hier in wenigen Jahren eine Entwicklung nachvollzogen wird, die in der westlichen Kultur innerhalb von Jahrhunderten geschah. Man könnte verallgemeinert sagen, dass wir individualisierten westlichen Rationalisten die Beziehung zugunsten von Beziehungen aufgegeben haben.

»Du bist fortgegangen und ich weinte blutige Tränen. Mein Kummer wird größer. Nicht nur, weil Du gegangen bist. Als Du gegangen bist, gingen meine Augen mit Dir. Wie werde ich jetzt weinen?«

Wenn wir auf unsere Vorfahren in den Stammeskulturen zurückblicken, dann können wir das, was wir verloren haben, in ihren Liedern und sozialen Praktiken wahrnehmen. Die Shipibo in Peru beispielsweise oder die Lakota Sioux in Nordamerika oder viele Ureinwohner Australiens besitzen wunderbare, das Herz öffnende Lieder und Klänge, die eine vibrierende und tiefe Beziehung mit dem Großen Geist, dem Himmel, der Erde und anderen Lebenskräften verstärken und feiern. Da die Menschen nah beieinander lebten, hatten viele Gebräuche das Ziel, ein friedliches Miteinander zu ermöglichen. Wer die Notwendigkeit, die Ressourcen miteinander zu teilen, oder andere Praktiken, um die Zusammengehörigkeit des Stammes aufrechtzuerhalten, missachtete, riskierte Bestrafung oder Ausschluss vom Stamm. Obwohl das nicht direkt eine Todesstrafe war, führte sie oft zum Tod. Die Lebensumstände waren rau, weshalb das Überleben schwierig war. Vielsagend ist aber, dass der schwere Schlag darin bestand, die Beziehungen verloren zu haben, was auch die Zerstörung des Selbstgefühls nach sich zog. Man kann vielleicht sagen, dass diese Ausgestoßenen an gebrochenem Herzen starben. Iris hat recht: Wir brauchen Beziehung.

Ich kann mir kaum die Erfahrung von Intimität vorstellen, die damals aus so einem nicht-selbstbewussten Feld lebendiger Beziehungen mit Menschen und allen Erscheinungen der Welt entsteht. Unser Wort »Intimität« berührt das nicht im entferntesten. Deshalb haben vielleicht viele Stammessprachen kein Wort für »Liebe« im Sinne von romantischer Sehnsucht oder Erfüllung. Die Idee von »Liebe« – als Wort für die Objektivierung der Erfahrung von Einheit und Verbundenheit miteinander und für die Sehnsucht danach – ist eine Abstraktion. An etwas wie »Liebe« zu denken, bedeutet bereits den Verlust einer Wahrheit, die uns näher ist als jede Nähe: ein Leben in Nicht-Getrenntheit, das die LIEBE selbst ist. Der Wandel von der »Intimität als Eingebettet-sein« zur »Intimität mit anderen« oder das Aufgeben von Beziehung für Beziehungen kreierte sowohl neue Formen von Liebe als auch Entfremdung. Besonders im Westen tauschten wir eine Intimität von Zugehörigkeit und Verwurzelung gegen persönliche Liebe und Freiheit.

»Ich komme weder aus dem Osten noch aus dem Westen, in meiner Brust gibt es keine Grenzen.«

Offenbar hatten die Japaner bis ins späte 19. Jahrhundert ebenfalls kein Wort für Liebe im Sinne exklusiver, sexuell aufgeladener Intimität. Zuvor betrachteten sie solch eine Leidenschaft als Verrücktheit. Angefangen mit den Griechen exportierte der Westen diese besondere Form von Intimität – und Verrücktheit. Die Griechen sprachen von drei unterschiedlichen Formen von Liebe: Agape, Eros und Philia. Zugehörigkeit oder das Leben in einem Beziehungsfeld ist eine Form von Liebe als Agape – wie eine fortdauernde mütterliche Umarmung der Kinder. Eros, was normalerweise eher als sexuelle Intimität verstanden wird, richtet sich auf eine persönliche Liebesbeziehung. (Philia entspricht der brüderlichen Liebe oder Freundschaft.) Im Westen verschob sich der dominante kulturelle Ausdruck der Intimität von Agape zu Eros. Gleichzeitig geschah zweierlei: zum einen ein Zuwachs an individueller Entfremdung verbunden mit einer Vertiefung zwischenmenschlicher Intimität und zum anderen eine Erotisierung von Herrschaft und Unterwerfung.

Je mehr die Welt entzaubert wurde, desto mehr Verzauberung entstand zwischen sexuellen Partnern. Im Laufe der Geschichte haben die Menschen zunehmend ihr Eingebettetsein in eine belebte Welt und einen belebten Kosmos verloren. Die alten Griechen und Römer lebten noch in einer Welt belebter innerer und äußerer Kräfte – Dämonen, Genien, Gottheiten. Die Entwicklung von Nomadenstämmen zu landwirtschaftlichen Gesellschaften brachte den Wunsch nach Ausdehnung mit sich, unterfüttert von der selbstbehauptenden Triebkraft des Eros zu Eroberung, Herrschaft, und Unterwerfung. Mit der Achsenzeit in der Antike (800 v. Chr. bis 200 v. Chr.) trat die Erfahrung der energetischen Belebtheit der natürlichen Welt in den Hintergrund, während die Menschen zu einer absoluten, transzendenten Wirklichkeit erwachten. Das Absolute, das die Grundlage aller großen Weltreligionen bildet, ließ eine neue Sprache von Intimität in der Poesie und im Gesang erblühen: die Intimität zwischen den Menschen und dem einen Gott. Gott ist, wie Rumi sagt, der höchste Geliebte. Rumis berührende Liebespoesie drückt seine schmerzvolle und ekstatische Liebe zu Gott und zu seinem spirituellen Bruder Shams-e Tabrizi aus. Erst mit den Minnesängern und den Trobadoren (und ihrem weiblichen Gegenstück, den Trobairitz) im 11. bis 14. Jahrhundert entstand ein ganzes Genre von Liebesliedern, die sich an den Geliebten oder die Geliebte als einen anderen Menschen richteten – der sexuell außer Reichweite war. Erst mit dem Zusammenbruch der Feudalherrschaft beim Aufkommen des Kapitalismus konnte diese Leidenschaft ihren konkreten Ausdruck finden und wurde zur kulturellen Basis von Liebesbeziehungen. Im 19. Jahrhundert, auf der Höhe der industriellen Revolution und der Vorstellung vom Universum als einem riesigen Uhrwerk, wurde die Liebesheirat – das verzauberte, seelenverwandte Paar – zum Ideal und zur Norm.

Als Menschen, die sich getrennt von einem Kosmos voller toter Objekte erfahren, wird das Verlangen nach Intimität mit einem anderen Menschen zur tiefsten Verbindung, die wir haben. Wir spüren verzweifelt, dass wir Beziehungen haben müssen – was ­natürlich auch stimmt. Das Ideal der Liebesbeziehung entstand in einer Zeit, in der die Rollen von Frauen und Männern idealisiert und als psychologische Gegensätze polarisiert wurden – die wahre Frau und der echte Mann; das aggressive, von Eros angetriebene Männliche und das passive, von Agape bewegte Weibliche. Vielleicht wohnt dem traditionellen westlichen Paradigma der Intimität ein Widerspruch inne. Wir fühlen uns von dem, was wir nicht haben und nicht sein können, angezogen. Und das geschieht in einer sozialen Hierarchie, in der die Männer historisch mehr soziale Macht hatten als Frauen. Auch heute, wo dies für viele von uns nicht mehr der Realität entspricht, suchen Frauen oft Männer, die sie beschützen und ernähren, und Männer fühlen sich oft unsicher in der Gegenwart von Frauen, die ihren Schutz nicht brauchen. In der Tat, die oft wiederholte Geschichte, dass Frauen von ihren männlichen Partnern wollen, dass sie wie »Freundinnen« sind, aber dann die sexuelle Spannung vermissen, die sie mit dominanten Männern erleben, verwirrt viele Männer und zerstört Beziehungen.

»Abschiede erleben nur die Menschen, die mit ihren Augen lieben. Denn für Menschen, die mit ihrem Herzen und ihrer Seele lieben, gibt es keine Trennung.«

Können wir unsere Entfremdung überwinden und Intimität erfahren, indem wir einen Seelengefährten und sexuellen Partner finden? Ich glaube nicht. Diese Perspektive ist weder tief noch weit genug. Es wird auch nicht gelingen, wenn wir mehrere Partner haben. Mein Gefühl ist, dass wir die Beziehung wiederentdecken müssen, um unseren Beziehungen eine Grundlage zu geben. Wir müssen das Beziehungsfeld mit allem Leben auf neue Weise lebendig werden lassen. Wenn wir diesen Möglichkeitsraum zwischen uns entdecken, kann ein neuer, subtilerer, intersubjektiver Eros zwischen uns erwachen, der aus der Intimität der gemeinsamen Lebendigkeit entsteht. Denn das verändert die Natur von Paarbeziehungen. Statt dass ein Mensch beim anderen die Ganzheit sucht, kommen zwei Menschen in der Ungetrenntheit des EINENzusammen und geben sich der verkörperten Dualität hin, die von einer Welle des Eros bewegt wird. Das erfordert einen gegenseitigen Respekt, der daraus resultiert, dass wir uns bewusst in dieses gemeinsame Potenzial hineinbegeben. Gleichheit muss dann nicht Langeweile bedeuten, sondern sie entsteht als Kraft einer erotischen Verbindung, die von der kreativen Lebendigkeit des Lebens durchdrungen wird.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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