Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 7, 2019
Wo finden wir Heimat? In einem inneren Gefühl? In der Vergangenheit oder der Zukunft? Die Autorin Susanne Scharnowski hat sich eingehend mit dem Heimatbegriff auseinandergesetzt und sieht alle Versuche, ihn von einer Verortung zu trennen, kritisch. Wir sprachen mit ihr über ein Verständnis von Heimat, das Vergangenheit und Zukunft verbindet.
evolve: Was sind aus Ihrer Sicht die gängigen Missverständnisse beim Begriff Heimat und wovon reden wir eigentlich, wenn wir von Heimat sprechen?
Susanne Scharnowski: Die Missverständnisse in der deutschen Debatte bestehen vor allem darin, dass diejenigen, die den Heimatbegriff kritisch sehen, eine Linie von der Romantik über die Heimatbewegung von 1900 und der völkischen Bewegung über den Nationalsozialismus in die Gegenwart ziehen und Heimat in dieser verengten Lesart mit Nation, Nationalismus, Ausgrenzung und völkischen Ideen konnotieren. Aber der Heimatbegriff ist weitaus vielschichtiger. Das althochdeutsche Wort »heimōti« bezeichnete zunächst den Wohn- oder Geburtsort, die Bindung an einen ganz bestimmten Ort. Aber schon im Althochdeutschen war der Gegenbegriff dazu das »Elend«: Elend war nicht nur die Fremde oder das Exil, sondern auch, im religiösen Sinn, die Erde als Ort der Verbannung für den Sündigen. Für das Christentum des Mittelalters und der frühen Neuzeit ist der Himmel die eigentliche »Heimat« der Christen. Von Anfang an also hat das Wort einen Bezug zur Ortsbindung – die Bindung an etwas ganz Irdisches und Materielles, an Vaterhaus oder Vaterland – bezeichnet aber auch die Auflösung der Bindung an diesen Ort.
e: In Ihrem Buch schreiben Sie etwas, was ich sehr spannend fand: Der eigentliche Gegensatz zur Heimat sei nicht die Fremde, sondern die Entfremdung.
SSch: Ich habe damit auf die politischen Debatten seit der Gründung des Heimatministeriums reagiert, in denen Heimat oft einseitig mit dem Begriff der Ausgrenzung von Einwanderern, von Fremden überhaupt in Verbindung gebracht wurde. Daraufhin habe ich mir die Geschichte des Heimatbegriffs angeschaut und festgestellt: Heimat erlebt seine Konjunkturen immer in Umbruchzeiten. Vor allem bei raschen oder plötzlichen Veränderungen oder Neuerungen, und immer dann, wenn Fortschritt als Ideologie dominiert, wird Heimat als das Vertraute, zu Bewahrende gegen das Neue, Unbekannte ins Feld geführt.
e: Ist solch ein Rückbesinnen auf das Vertraute notwendigerweise regressiv?
SSch: Das Wort regressiv ist ja Teil eines Gegensatzpaares: Auf der anderen Seite steht das Progressive. »Regression« als Rückfall in kindliche Verhaltensweisen kommt eigentlich aus der Psychologie. Wer regressiv ist, klammert sich an Zustände, die der Realität nicht mehr gemäß sind. Wenn wir gesellschaftliche Tendenzen als »regressiv« beschreiben, sehen wir die Entwicklung der Gesellschaft quasi analog zur Entwicklung des Individuums und implizieren damit, es gäbe den einen, natürlichen, linearen Verlauf. Was dieser Entwicklung entgegensteht, wird dann als regressiv charakterisiert.
Wenn man Fortschritt generell als Synonym für Verbesserung begreift, markiert man diejenigen, die an Althergebrachtem festhalten wollen, als Verhinderer einer besseren Welt. Dabei werden nicht nur die Kollateralschäden des Fortschritts ausgeblendet, sondern auch, dass möglicherweise unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten, Alternativen existieren, über die zu diskutieren wäre. Aber bei der Entwicklung der Gesellschaft sind Streit und Debatte notwendig, auch darüber, was bewahrt und was verändert werden sollte.
e: Jetzt kann man natürlich historisch schon behaupten, dass die Romantik als Reaktion auf die Radikalisierung der Moderne in der Französischen Revolution den Heimatbegriff ins Feld geführt hat. Man kann auch bei der Heimatliteratur des 20. Jahrhunderts sagen, dass dies eine Reaktion auf den deutschen Industrialismus war, und die Heimatfilme der 50er-Jahre haben sicher auch mit einem verlorenen Weltkrieg und mit einer völlig neuen Verortung der Deutschen zu tun. Das heißt, darin liegt schon eine Tendenz, nicht mit dem Neuen zurechtkommen zu wollen und ins Überschaubare, Kleine zu flüchten.
SSch: Ich würde Ihnen Recht geben, dass Heimat in der Tat fast immer als Reaktion auf bestimmte Entwicklungen zum Thema wird, insofern ist sie im buchstäblichen Sinn »reaktionär«. Allerdings: Die Frühromantik bringt zwar den Heimatbegriff ins Spiel, aber diese romantische »Heimat« hat nun gerade wenig mit dem Vertrauten und Bekannten zu tun, im Gegenteil: Heimat ist für die Romantik ein Raum der Fantasie und des Wunderbaren und fungiert eher als Gegenbegriff zur Rationalität der Aufklärung, weniger als Gegenbegriff zur Französischen Revolution. Die Romantiker haben die Philister verabscheut: Der sesshafte Erwerbsbürger oder der Bauer, der an seiner Scholle klebt, hat eben keinen Sinn für das Wunderbare. Heimat als Alltäglichkeit, Normalität und Überschaubarkeit war gerade kein Thema der Romantik.
Heimat ist eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Der Heimatdiskurs um 1900 ist in der Tat eine Reaktion auf die Industrialisierung. Im 19. Jahrhundert wurde die Gesellschaft, wurden aber auch Landschaft und Landwirtschaft von Grund auf umgestaltet. Parallel gab es verschiedene Migrationsbewegungen – Auswanderung und Binnenmigration –, die aus heutiger Sicht vielleicht marginal erscheinen, aber damals drastische Auswirkungen hatten. Allein fünf Millionen Deutsche sind im 19. Jahrhundert in die USA ausgewandert. Zudem wurde die Landschaft durch Staudämme, Flussbegradigungen, Kanalbauten radikal umgestaltet. Was in der Realität nicht geschützt werden sollte, wurde in der Literatur bewahrt.
Und die Heimatfilme nach dem 2. Weltkrieg (allerdings gab es das Genre schon seit dem Kaiserreich) thematisierten weniger den Verlust der Territorien im Osten, sondern insbesondere Migrationsbewegungen: In den Heimatfilmen der 50er-Jahre gibt es bemerkenswert viele Vertriebene und Flüchtlinge. Ironischerweise war der Heimatfilm das einzige Medium, in dem dieses Thema tatsächlich behandelt werden konnte, weil es enorme politische Sprengkraft hatte.
e: Ich möchte an Ihren Gedanken über die vermeintliche Alternativlosigkeit anschließen. Wir gehen häufig davon aus, dass dieser Gegensatz zwischen der vertrauten Vergangenheit und der uferlosen Zukunft, wie sie vielleicht in der Globalisierung wahrgenommen wird, alternativlos ist. Aber Zukunft ist ja auch anders gestaltbar, als sich im Uferlosen zu verlieren.
Ernst Bloch sucht in seinem Heimatbegriff die Heimat im »noch nicht«. Dann kann Heimat etwas sein, was aus dem menschlichen Streben in der Zukunft erschlossen werden kann. Das dreht den Heimatbegriff ja völlig um.
SSch: Die Formulierung, nach der Heimat etwas ist, »worin noch niemand war«, sehe ich kritisch. Denn was oft ausgeblendet wird: Auch Bloch unterfüttert seine Vorstellungen von Heimat als eine Vorstellung von nicht entfremdetem Leben mit Bildern aus der Vergangenheit, genauer: aus dem bäuerlichen Leben, wie man sie in literarischen Texten des 19. Jahrhunderts findet. Ich glaube ebenfalls, dass die Erfahrung von Heimat ohne Bezug zur Vergangenheit nicht auskommt. Denkt man sich Heimat als einen erst herzustellenden Zustand, als Utopie, und betont man das in die Zukunft Weisende, wie z. B. der Bundespräsident in seiner Rede zum 3.10.2017, dann ist das eine sehr einseitige Vorstellung. Dem möchte ich entgegensetzen: Heimat ist eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen dem Vertrauten und dem Neuen; eine Verbindung zwischen dem zu Bewahrenden und dem neu zu Gestaltenden. Reiner Zukunftsbezug ist mindestens so problematisch wie starres Festhalten an der Vergangenheit.
Reiner Zukunftsbezug ist mindestens so problematisch wie starres Festhalten an der Vergangenheit.
Mit Hinblick auf die Alternativlosigkeit habe ich mich in meinem Buch auf die Gedanken des Historikers Thomas Rohkrämer gestützt. Mit Blick auf die Reformbewegungen um 1900 hat er die überzeugende Hypothese aufgestellt, dass es den Lebensreformern und Heimatschützern nicht um eine Verweigerung von Modernität schlechthin ging, sondern um eine alternative Moderne. Das heißt, dass »Moderne« vielleicht nicht unausweichlich als stets fortschreitende Technisierung, totale Entgrenzung und ungebremste Mobilität begriffen werden muss. Die Idee einer anderen Moderne bietet in der Tat eine Alternative zu der starren Dichotomie von »Moderne« und »Antimoderne«.
e: Wie könnte eine solche alternative Moderne aussehen?
SSch: Ich kann nur Zusammenhänge nachzeichnen; eine Expertin für Zukunftsentwürfe bin ich nicht. Sagen wir es so: Eine alternative Moderne würde zum einen nicht primär oder gar ausschließlich auf technische Weiterentwicklung setzen und hätte zum anderen vielleicht eine weniger lineare Vorstellung von Entwicklung. Denn es ist ja so: Wenn Menschen mit der Gegenwart unzufrieden sind, setzen sie ihre Hoffnungen oft auf die Zukunft, auf technische oder gesellschaftliche Reformen oder Revolutionen, bei denen das Alte zerstört wird. Doch auf Revolutionen folgt oft Enttäuschung und auf diese wiederum Nostalgie. Dann sucht man Inspiration in Tradition und Vergangenheit. Eine alternative Moderne würde solche Faktoren berücksichtigen.
Die Zukunftsentwürfe am Ende des 19. Jahrhunderts bezogen sich fast ausschließlich auf Technik und Ökonomie. Vor allem mit neuen Technologien wollte man die Lebensbedingungen und die Produktivität verbessern. Dabei gab es ziemlich radikale Ideen: Man konnte z. B. die Produktivität der Landwirtschaft durch neue Techniken, Maschinen und Methoden steigern, wenn auch nicht so stark wie erhofft. Doch glaubten manche Wissenschaftler, die Chemie würde in Zukunft die Landwirtschaft überflüssig machen, alle Nahrungsmittel könnten bald in chemischen Fabriken erzeugt werden. Die Frage, was das für die Bauern, für die Gesellschaft und für die Ernährung bedeuten würde, kam in solchen Technik- und Wissenschaftsutopien gar nicht vor. Man verließ sich darauf – das gilt ganz besonders auch für die Sozialdemokratie –, dass die Fortentwicklung der Gesellschaft und der Menschen durch den technischen Fortschritt automatisch befördert würde. Eine »alternative« Moderne hätte wohl weniger einseitig auf Technik gesetzt.
e: Ich würde gerne auf eine eher ungewöhnliche Heimatbewegung zu sprechen kommen, die Sie in Ihrem Buch erwähnen: Die Heimatbewegung der 70er-Jahre mit dem Anfang der grünen Alternativbewegung, die sich ja nicht als reaktionär versteht. In welchem Sinne spielte hier Heimat eine Rolle?
SSch: Es freut mich sehr, dass Sie danach fragen. Denn auch diese Bewegung war in gewisser Weise reaktionär, denn sie reagierte ja auf bestimmte Entwicklungen – vor allem auch auf die Pläne, Atomkraftwerke zu bauen, die damals Inbegriff des Fortschritts waren. Diese Bewegungen, für die übrigens Bloch sehr wichtig war, suchten tatsächlich nach »Alternativen« und wurden ja auch so bezeichnet. Durch sie floss ein emotionaler »Wärmestrom« in die zuvor rationale Analyse der ökonomischen Verhältnisse ein; Träume und Hoffnungen der Menschen kamen auch in der Suche nach Gemeinschaft zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang wurden vorher gemiedene Begriffe wie »Provinz« und »Heimat« nun von der politischen Linken besetzt. Gegen das Atomkraftwerk Whyl haben zum Beispiel Freiburger Alternative und Wissenschaftler gemeinsam mit Winzern und Bauern protestiert, die aus Sicht der 68er gewiss als Spießer gegolten hätten.
e: Sie haben anfangs angesprochen, dass Heimat sich nicht nur auf Verortung bezieht, sondern auch eine jenseitige Dimension hat. Wie sehen Sie die Versuche, Heimat von der geographischen Verortung zu befreien, und in innerliche Welten zu verlagern.
SSch: Die Vorstellung, das Individuum brauche keine räumliche Heimat, sondern finde Heimat in sich, wie sie in dem Satz »Heimat ist ein Gefühl« zum Ausdruck kommt, finde ich problematisch, ebenso wie die Überzeugung, Heimat sei für jeden etwas anderes. Durch diese Individualisierung und Verinnerlichung wird Unabhängigkeit von der materiellen Umwelt suggeriert. Dabei sehen wir doch gerade – denken Sie an den Klimawandel –, wie abhängig wir von der materiellen, vor allem der natürlichen Umwelt sind.
Dagegen behaupte ich, dass die Rede von Heimat auf den Bezug zu konkreten Orten angewiesen ist. Damit ist weniger die Nation gemeint – das ist eine politische Größe, ein Rahmen –, sondern vor allem das konkrete Lebensumfeld. Im Verständnis dieser Verortung beziehe ich mich z. B. auf den Bioregionalismus, der betont, wie wichtig es ist zu wissen, woher unser Wasser kommt, was für Pflanzen in der Region wachsen usw. Hinzu kommt ein Wissen über andere materielle, menschengemachte Faktoren.
e: Sie sprechen hier von einer Entwurzelung der hyperindividualisierten postmodernen Jet-Set-Gesellschaft, für die Orte irrelevant sind. Sie plädieren für eine neue Wertschätzung der Verortung, die auch mit Erdhaftigkeit zu tun hat. Etwas provokativ gefragt: Braucht Heimat die Erdscholle?
SSch: Zunächst möchte ich das Wort Scholle verteidigen. Es ist ja nur ein – wenn auch altmodisches und archaisches – Wort für Ackerboden oder Erde. Und den Bezug zur Erde brauchen wir gewiss, darauf weist z. B. auch Bruno Latour in seinem »Terrestrischen Manifest« hin. Aber ich plädiere wieder gegen das Entweder-oder und für einen kosmopolitischen Provinzialismus. Einer meiner Bezugspunkte dabei ist Gilbert White, der Urvater des englischen »nature writing«. Gilbert White verbrachte den meisten Teil seines Lebens in seinem Geburtsort und hat – in Briefen an andere Naturforscher – seine Naturbeobachtungen aufgezeichnet und dabei aber als Erster entdeckt, wie wichtig Regenwürmer für die Fruchtbarkeit des Bodens sind. Sein Blick war ungeheuer umfassend. Er sah, was die Ökologen seit dem 19. Jahrhundert festgestellt haben: dass alles mit allem zusammenhängt. Bei aller Ortsbindung war er aber alles andere als isoliert und abgeschottet; er war eingebettet in seine Dorfgemeinschaft wie auch in eine »scientific community«.
Eine alternative Moderne würde nicht primär auf technische Weiterentwicklung setzen.
e: Zeigt sich für Sie in der Auflösung dieses Gegensatzes auch eine Perspektive, in der Heimat progressiv gedacht werden kann?
SSch: Paul Collier, ein englischer Wirtschaftswissenschaftler und Migrationsforscher, betont in seinem neuen Buch »Sozialer Kapitalismus. Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft« die integrative Bedeutung des Ortes. Der Ort ist es, der den Bezugspunkt darstellt, auf den sich Menschen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam beziehen können. Eine Politik, die zu sehr auf die Unterschiede zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen abzielt, wirkt erosiv. Der Ort als gemeinsamer Bezugspunkt, als Lebensort, bietet eine Chance, der Fixierung auf die Herkunft zu entkommen.
Zum Ort gehören aus meiner Sicht die materiellen Bedingungen, sowohl die natürlichen als auch die menschengemachten – Boden, Luft, Wasser, Müllentsorgung, Architektur und Mietpreise –, aber auch Geschichte und Besonderheiten, z.B. Landschaften oder Dialekte. Darüber hinaus geht es um Identifikation, eine Art Bekenntnis: Ich lebe hier, und ich will auch hier bleiben. Und ich erkläre mich mitverantwortlich, ich bin nicht bloß Konsument, sondern ich will mitgestalten. Ich verpflichte mich in gewisser Weise diesem Ort. Das wäre vielleicht eine Vorstellung von Heimat, die Vergangenheit und Zukunft verbindet, aber auch Alteingesessene und Neuhinzugekommene.