Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 21, 2016
Nähe: ein offenbares Geheimnis. Sie bestimmt unser Leben, aber oft fehlen uns die Worte, sie zu beschreiben. Jelle van der Meulen unternimmt den Versuch, die Nähe gedanklich zu umkreisen und einige Aspekte einer Kunst der Nähe ausfindig zu machen.
Wir alle haben schon Nähe gespürt. Wir alle kennen sie, zwischen uns und unseren Geliebten, unseren Freunden, unseren Kindern, vielleicht auch zwischen uns und unseren Feinden. Wie die Nähe als Phänomen zu deuten ist – nicht nur psychologisch erklärt –, wissen wir trotzdem nicht so recht. Die Nähe ist wie ein offenes Geheimnis: Sie ist uns allen vertraut, die Begriffe, um sie einzuordnen, fehlen uns aber in der Regel. Wenn wir Nähe erleben, träumen wir in ihren Weiten und ihren Verdichtungen, wir sind in diesem Zustand nicht imstande, eine beobachtende Distanz zu halten.
Auch in gewichtigen philosophischen Texten über Beziehung und Freundschaft, von Aristoteles über Montaigne und Nietzsche bis zu Jacques Derrida, wird das Phänomen der Nähe nur selten erwähnt, schon gar nicht eingehend beschrieben. Es gibt, soweit ich das überblicke, nur zwei Ausnahmen: Es sind die beiden Philosophen Martin Buber und Emanuel Lévinas. Ansonsten scheinen nur Dichterinnen und Dichter das Reich der Nähe zu betreten, nur sie scheinen ihren Zauber zu entfalten und ihre Wirkung zelebrieren zu wollen. Sucht man im deutschsprachigen Bereich nach Texten über die Nähe, endet man unvermeidlich bei den Werken von soft poets wie Erich Fried oder Hilde Domin.
Ich werde in diesem Beitrag versuchen, dem Phänomen der Nähe etwas näher zu kommen. Der Versuch ist unvollkommen, holprig und tastend, was vor allem daran liegt, dass uns – dir als Leser und mir als Autor – gemeinsame Begriffe fehlen. Die Nähe selber ist als Begriff unklar, unscharf, deshalb verbindet sie sich nicht selbstverständlich mit anderen Begriffen. Sie bleibt »unverortet«, schwebt in einem Raum, der (noch) nicht fest ist. Ich denke also, dass die Nähe zu den Phänomenen gehört, zu denen wir (noch) eine vorbegriffliche Beziehung haben.
Innigkeit und Trennung
Also: Was ist Nähe? Nähe kann man zu allem Möglichen erleben: zu lebenden oder verstorbenen Menschen, zu anderen Lebewesen, Orten und Landschaften, zu natürlichen Gegenständen, Kunstwerken, Texten, »göttlichen« Gestalten (Jesus Christus, Allah, Buddha, zu Engeln oder zu Naturwesen), zu Begriffen, Idealen und Vorsätzen, zu Ereignissen. Es gibt im Grunde genommen keine Erscheinung in der Welt, zu der wir keine innige Beziehung haben könnten.
Auch zu uns selbst können wir eine Nähe erleben. Wenn ich auf mich schaue, in mich gehe, bei mir bin und mit mir rede oder auch mit mir schweige, erlebe ich eine Nähe zu mir selbst. Gerade diese Tatsache sagt etwas Wesentliches über das Phänomen der Nähe aus: Wenn »ich« eine Nähe zu »mir« (was ja heißt: zweimal »ich«) erlebe, gibt es offenbar eine Spaltung, die allerdings im Zustand der Innigkeit sofort aufgehoben wird. Um den Begriff der Nähe zu beschreiben, braucht man zwei Instanzen: ein »Ich« und eine Erscheinung außerhalb von mir, einen Menschen, einen Baum, ein Lied oder eben »mich«, von der ich getrennt bin. In der Nähe verschmelzen beide Instanzen und die Distanz wird mehr oder weniger aufgehoben.
Um Nähe zu erleben, ist Distanz eine Bedingung. Ganz kleine Kinder erleben meistens – nicht immer – noch keinen Abstand zu den Menschen und den Dingen um sie herum; sie schwimmen in ihrer Umgebung wie Fische im Wasser. Was hier mit Nähe gemeint ist, kennen die ganz kleinen Kinder deswegen nicht. Erst wenn sich das Drama der Trennung von der Welt in der Biografie vollzogen hat – was natürlich kein einmaliges Ereignis ist, sondern in zahlreichen kleineren und größeren Schritten und Dramen geschieht –, entsteht die Möglichkeit, die Nähe zur Welt und den Menschen bewusst zu erfahren.
Das Spüren von Nähe ist aus diesem Grunde auch als ein religiöses Geschehen zu verstehen. Das Wort »Religion« kommt bekanntlich vom lateinischen religare, was so viel wie »zurückbinden« bedeutet. Theologisch gesehen geht es dabei um eine Zurückführung zu Gott; die direkte und lebendige Beziehung zu Gott, den Göttern oder dem Göttlichen ist verloren gegangen, wird aber mithilfe von Ritualen, Gebeten, Meditationen und Übungen wiederhergestellt. Über den entstandenen Abgrund zwischen Menschen und Göttern wird eine Brücke gebaut, die eine neue Beziehung ermöglicht. Philosophisch und in Bezug auf die biografische Entwicklung gesprochen, bezieht sich die Trennung aber nicht nur auf die Götter, sondern sie betrifft die ganze Welt, egal, wie wir meinen sie zu verstehen und bewerten zu wollen.
Zur modernen Biografie gehören Selbstbewusstsein und Selbstbewusstheit. Um zu sich selbst zu kommen, ist Isolierung und Trennung vonnöten. Gelegentlich schmerzt das: Der heutige Mensch erlebt die Welt manchmal als leer und bedeutungslos, als ein Brachland ohne Baupläne und Baugenehmigung. Der moderne Mensch steht alleine da, a rebel without a cause, schaut auf sich und auf die Welt und stellt fest: Zwischen mir und der Wirklichkeit um mich herum gibt es keine Verbindung (mehr) – ich bin aus der Welt herausgeworfen worden, stehe grundsätzlich »daneben«.
Sich selbst in dieser Isolierung zu ergreifen und zu gestalten – was erst einmal heißt: sich cool zu verhalten –, ist im Sinne der philosophischen Bedeutung des Wortes ein erster »religiöser« Akt der Nähe. Der zweite besteht darin, die Sehnsucht nach einer Zurückbindung zuzulassen, ja, sie als Ausgangspunkt des Handelns zu nehmen. Die Nähe zur Welt wiederzufinden – vielleicht ganz anders, als sie einmal war, neu, und von mir in Freiheit gewollt und gepflegt, gar von mir »konstruiert« –, ist die eigentliche Verwandlung, die in modernen Biografien geschehen will.
¬ ES GIBT KEINE ERSCHEINUNG IN DER WELT, ZU DER WIR KEINE INNIGE BEZIEHUNG HABEN KÖNNTEN. ¬
Eine kostbare Erfahrung
Das Wort Nähe bezieht sich auf einen seelischen Zustand, der sich leicht andeuten, aber schwerer beschreiben lässt. Nähe wird gespürt, erfahren, erlebt. Sie ist ein Zustand des Seins, den wir sofort erkennen, wenn er eintritt, den wir meistens gern mögen, manchmal auch scheuen. Ihm sprachlich und begrifflich auf die Spur zu kommen, geschieht selten. Nähe untersucht man nicht, man redet nicht über sie, man lässt sie das sein, was sie ist: eine kostbare Erfahrung.
Nähe meint: nahe sein. Wenn es allerdings um die Nähe zwischen zwei Menschen geht, ist damit nicht unbedingt ein räumliches Dicht-beieinander-Sein gemeint. Nähe kann es auch zwischen zwei Menschen geben, die geografisch oder manchmal sogar zeitlich weit voneinander entfernt sind. Und umgekehrt: Zwischen zwei Menschen, die sich ständig im gleichen Raum aufhalten, können sich Abgründe befinden. Das physische Zusammensein oder auch die physische Berührung führen nicht zwangsläufig zu Nähe, ganz im Gegenteil: Sie können genauso gut Ärger, Abscheu und reinen Hass erzeugen.
Nähe ist ein innerer Zustand. Sie kann zwar stark von einer körperlichen Begegnung bestimmt sein, geht jedoch trotzdem darüber hinaus. Nähe bedeutet eine Steigerung von Innigkeit. Wenn es einmal einen Zustand der Nähe zwischen zwei Menschen gegeben hat, bleibt er wie ein Geheimnis vorhanden, wie eine Erinnerung, die mehr als eine Erinnerung ist: Nähe prägt definitiv eine Verbindung. Momente von Nähe sind gleichzeitig Ankunft und Ausgangspunkt, wir kommen in ihr an, wir treten in ihre Umhüllung ein, empfinden sie dann als Kraftquelle, als Ansporn zum Weiterleben. Durch Nähe werden wir immer ein bisschen neu geboren und in dem angeregt und bestätigt, was in uns noch nicht vollendet ist, was noch unklar in uns schwingt – und vielleicht schweigt.
Manchmal sind es körperliche Berührungen, die Nähe erzeugen. Das Urbild dafür ist vielleicht die Vorstellung einer Mutter mit ihrem Baby in den Armen. Das kleine Kind ist in der Wärme der Mutter aufgenommen, wird von ihren sanften Bewegungen und vertrauten Gerüchen umflutet, befindet sich in einer Art hautlosem Gemeinsamkeitszustand, einer Fortsetzung der Gebärmutter außerhalb des mütterlichen Körpers. Die Erfahrung der Nähe ist für das kleine Kind allerdings noch eine unbewusste Angelegenheit – da es das Gegenteil noch nicht kennt, genau wie ein Fisch sich des Wassers um ihn herum nicht bewusst ist.
Mit seiner wunderschönen Skulptur, die in der Kathedrale von Brügge steht, zeigt Michelangelo eine Mutter (Maria), die ihr Kind (Jesus) bei seinen ersten Schritten in die Welt begleitet. Das Kind ist zwar noch von den Armen und Beinen der Mutter umgeben, steht aber schon auf seinen eigenen Füßen und will sich in die Welt hineinbegeben. Der Blick des Kindes richtet sich nach vorne, während die Mutter auf etwas Inneres zu blicken scheint. Wenn man auf die Skulptur schaut, stellt man sich unwillkürlich die nächste Szene vor: Das Kind hat sich von der Mutter losgelöst und sich von ihren Bestimmungen frei gemacht. Was die Skulptur meisterhaft sichtbar macht, ist allerdings die Kraft der Nähe. Man spürt: Auch wenn die körperliche Berührung aufhört, wird die Nähe bestehen bleiben. Zwischen Mutter und Kind gibt es einen Innenraum, der tragen – nicht bestimmen – wird, egal was kommt.
Nähe kann auch ohne körperliche Berührung entstehen. Sie entsteht dann über Blicke, die getauscht, Worte, die gesprochen und Gebärden, die gelebt werden. Dieses rätselhafte Entstehen einer Nähe findet immer wieder statt, unerwartet, unverhofft, überraschend.
Ich erinnere mich beispielsweise an eine Begegnung mit einem Geschäftsmann in einem Restaurant in Chicago, der mich quasi nebenbei fragte, was ich denn in dieser knallharten Metropole zu suchen hätte. Als ich ihm sagte: »Ich bin ein Journalist aus Holland und habe morgen einen Termin mit dem Schriftsteller Saul Bellow«, schaute er mich an und sagte: »Bellow ist der geheime Schatz von Chicago!« Wir redeten eine Stunde miteinander, flossen ineinander über wie zwei Wasserströme, und noch heute kann ich die Nähe zwischen uns, ausgelöst durch den Namen Saul Bellow, hervorrufen. Man kann diese Nähe eine »geistige« nennen.
Im Raum der Nähe
Im Ereignis der Nähe dringt ein Mensch durch meine physisch-seelische Haut und erscheint in einer seelischen Gestalt in meinem Innenraum. Nähe heißt, dass jemand sich in mir bewegt, sich in mir fortsetzt. Nähe heißt, dass jemand in meiner Innenwelt angekommen ist. Der andere Mensch erscheint in mir, findet mich und gleichzeitig etwas von sich selbst, holt sich in mir ab, als ob er schon in mir vorhanden wäre, bevor wir uns in Raum und Zeit begegnet sind. Und umgekehrt: Er oder sie bringt etwas von mir, das immer schon zu mir gehört hat, aber nur durch den anderen Menschen geborgen oder erweckt werden kann. In der Nähe spüren wir, dass die Trennung zwischen »Ich« und »Du« nicht so eindeutig ist, wie wir das manchmal denken. In einem Nähe-Raum kommt ein Teil meines »Ichs« quasi von außen auf mich zu und findet in mir eine Nische, die sofort erleuchtet und erwärmt wird.
Im Ereignis der Nähe ist vor allem erkennbar, dass jede Beziehung einzigartig ist. Die Themen, Fragen, Ziele und Intentionen, die Flechtwerke der Gefühle und Stimmungen, Hoffnungen und Ängste, die in einem Nähe-Raum zwischen zwei Menschen von den beiden Beteiligten gespürt werden können, sind wie Landschaften, die von ganz bestimmten Charakteristiken geprägt werden. Wir spüren sofort, ob wir uns eher in der Toskana, in der ungarischen Puszta, im Schwarzwald, in den Anden oder in einer amerikanischen Großstadt befinden – das Gleiche gilt für die inneren Landschaften von Nähe. Die Nähe als vertiefte Beziehung offenbart das einzigartige Schicksal, das zwischen zwei Menschen webt.
Manchmal trauen wir uns die Sphäre der Nähe nicht zu, weil wir Angst vor Schmerzen haben, nicht nur vor denen, die vielleicht entstehen könnten, sondern auch vor den Wunden, die schon in uns vorhanden sind. Sich auf die Nähe eines Menschen einzulassen, bedeutet deswegen auch immer, sich in seine Vergangenheit hineinzubegeben. In einem Nähe-Raum ist etwas möglich und wird etwas berührt, was wir manchmal lieber unberührt lassen. Mit den Narben in unserer Seele sind Erfahrungen verbunden, die – auch wenn wir sie vergessen haben – zu einer Erzählung werden wollen oder als persönlicher Mythos ihre Rechte fordern, sobald man sich ihnen nähert. Nähe verlangt nicht nur, sich für den anderen Menschen zu öffnen, sondern auch für die verborgenen Ecken und Schatten der eigenen Person.
Ein Schritt zu dir ist immer auch ein Schritt zu mir. Aber genauso stark weckt Nähe die großen und wunderbaren Erfahrungen der Vergangenheit, die uns mit Leben und Kraft erfüllen, wie zum Beispiel das Ereignis unserer Geburt. In der Nähe kehren wir wieder in die freudige Sphäre der Natalität zurück, die Geborgenheit bedingungslos voraussetzt, Umhüllung und Nahrung bietet, Wärme und Flüssigkeit bringt, manchmal aber auch durch schmerzvolle Geburtswehen eingeleitet wird. In der Nähe wird uns klar, dass wir immer wieder neu geboren werden können, prinzipiell »im Kommen« sind, uns an der vibrierenden Schwelle zwischen jetzt und gleich, Gegenwart und Zukunft aufhalten können, wenn wir das wollen. Der Innenraum der Nähe ist auch als eine Gebärmutter zu verstehen.
Die heilige Kapelle
Nähe hat einen eigenen Willen, der zwar nicht zwingend ist und leicht negiert werden kann, sich aber sofort zeigt, wenn man ihn zulässt. So hat die Nähe zum Beispiel den Willen zur Treue inne, der nicht mit der fortgesetzten Zuwendung zu einer Person gleichzusetzen ist, sondern sich auf den Zustand der Nähe selber bezieht. Nähe will nicht wieder komplett verschwinden, nein, sie will sich weiter entfalten, ja, eine eigene Biografie gestalten – braucht an dieser Stelle aber Unterstützung. Sie bietet die Möglichkeit zu einer Vertiefung und einer Verinnerlichung, die allerdings seitens der Betreffenden bewusst ergriffen werden muss. Man könnte diesbezüglich von einer noch nicht existierenden Technik der Nähe sprechen, die eine eigene Kunst wäre, die es zu entwickeln gilt.
Zwischen einem meiner Freunde und mir läuft schon seit Jahren ein zartes und tastendes Gespräch, das meistens nur innerlich geführt wird. Wenn wir uns – physisch – treffen, versuchen wir zwar über die Sachen, die uns wichtig sind, zu reden, wissen aber, dass das Wesentliche gar nicht in Worte gefasst werden kann, muss oder eben darf. Dass das Eigentliche nicht das Offenbare, sondern das Dazwischenliegende ist. Der Zustand der Nähe zwischen uns ist von einer delikaten Distanz geprägt. Sie erscheint als ein doppelter Raum, der sich vielleicht so beschreiben lässt: Mein Freund befindet sich in mir, ich habe ihm also ein »Zimmer in mir« bereitet, wo ich ihn aufsuchen und »innerlich« mit ihm sprechen kann. Und umgekehrt befinde ich mich in ihm, in einem Zimmer, das er für mich eingerichtet hat.
Die beiden Zimmer, in ihm und in mir, sind aber eins. Sie sind ineinander geschoben, als ob über die physischen Räume und Zeiten hinaus ein Zeitraum entstanden ist, den wir als unsere gemeinsame »heilige Kapelle« betrachten. Nicht erkennbar für andere Menschen, arbeiten wir in diesem Raum vorsichtig tastend, lauschend, leise sprechend, manchmal auch schweigsam, aber immer zelebrierend. Die Kapelle ist das Ergebnis einer Nähe, die nicht nur als einmaliges Ereignis erschienen und dann wieder verschwunden ist, sondern aktiv gestaltet wird. Sobald Nähe zwischen zwei Menschen behütet und gepflegt wird, bekommt sie die Gelegenheit, ihre Treue zu zeigen.