Die Kunst, Leid in Schönheit zu verwandeln

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Published On:

January 23, 2023

Featuring:
Ngugi Wawer
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 37 / 2023
|
January 2023
Re-Generation
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Ein Interview mit Ngugi Waweru vom Wajukuu Art Project


Das Wajukuu Art Project wurde 2004 im Mukuru-Slum gegründet, der in einem Industriegebiet Nairobis liegt. Viele Jugendliche versuchen zu überleben, indem sie die nahgelegene Mülldeponie nach verkäuflichen Gegenständen durchsuchen. Oft landen sie dabei in Armut, Kriminalität, Drogenhandel, erfahren Gewalt und sexuellen Missbrauch. Die Künstler des Wajukuu Art Project, die selbst unter diesen Bedingungen aufgewachsen sind, wollen mit ihrer Kunst und ihrem sozialen Engagement die Resilienz und die menschliche Fähigkeit stärken, Leid in Schönheit zu verwandeln. Durch Kunstunterricht, eine öffentliche Bibliothek, Filmvorführungen und Anregungen zur Wandmalerei werden Kinder und Jugendliche darin unterstützt, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, die ihnen auch Chancen auf Beschäftigung eröffnen. Wir sprachen mit Ngugi Waweru über Kunst, soziales Engagement und Erfahrungen des Künstlerkollektivs bei der documenta 15.

evolve: Wie haben Sie den Prozess erlebt, in dem Sie Ihr Kunstwerk bei der documenta entwickelt haben?

Ngugi Waweru: Für uns als Künstler-Kollektiv bestand der Prozess darin, die Kunstwerke zu entwickeln, Materialien zu sammeln, sie zu formen und die Ideen untereinander und mit dem Lumbung-Kollektiv zu besprechen. Zunächst haben wir als gesamtes Kollektiv überlegt, was unser Anliegen mit diesem Projekt ist, und das Konzept unter uns diskutiert. Auf dieser Grundlage haben dann verschiedene Künstler Vorschläge für eigene Werke gemacht. Wir besprechen die Werke als Kollektiv, arbeiten aber individuell und unterstützen uns gegenseitig.

Für uns ist es das Wichtigste, bei unserer Authentizität zu bleiben und Kunstwerke aus unserem Herzen zu schaffen. Wir wollen keine Kunstwerke schaffen, die auf Sympathie abzielen, sondern Kunstwerke, die mit allen Menschen in Resonanz stehen, egal woher sie kommen.

e: In der Arbeit auf der documenta haben Sie die gleichen Wellblechplatten verwendet, aus denen die Häuser bestehen, in denen Sie leben. Welche Absicht steckt dahinter?

NW: Der Titel oder das Thema der gesamten Installation ist »Wakija Kwetu«, ein Swahili-Wort. Das bedeutet, nach Hause zu kommen. Wir dachten, wenn wir die Welt zu uns nach Hause einladen, dann lernt man uns besser kennen. In unserem Kunstwerk für die documenta betrat man die documenta-­Halle durch einen Tunnel, in dem es dunkel war, und hörte die Straßengeräusche von Mukuru. Wenn man weiter hineinging, sah man die Wellblechplatten, die wir für die Wände unserer Häuser benutzen.

Die Themen in unserer Installation bezogen sich auf Ereignisse in der Welt, nicht nur in Mukuru, denn die Welt ist ein großes Dorf und wir haben die gleichen Herausforderungen, die uns alle als Menschen betreffen, wie Klimawandel, Krieg, wirtschaftliche Not, gescheiterte Systeme, Krankheiten und so weiter.

Eine zerbrechliche Welt

e: Die Werke, die Sie ausgestellt haben, sprechen von der Härte und Brutalität, in der Sie leben, aber auch von der Schönheit und Resilienz. Wie empfinden Sie diese Spannung?

NW: Die Welt, in der wir heute leben, ist zerbrechlich und gefährdet. Aber es gibt auch positive Bewegungen. Das ist auch das Thema meiner Arbeit, bei der ich alte Messer verwendet habe. Viele Besucher sagten, dass diese Arbeit auf sie schön und brutal wirke. Das Werk strahlt etwas Beängstigendes aus, denn es sind scharfe Messer. Genau so ist unsere Welt. Es ist beängstigend, von Tod und Krankheit umgeben zu sein.

¬ WAS AUCH IMMER DU TUST ODER WELCHE ENTSCHEIDUNG DU TRIFFST, ES KANN AUF DICH ZURÜCKKOMMEN. ¬

Für die documenta-Arbeit habe ich angefangen, die Messer zu sammeln, die in den Metzgereien verwendet werden. Die Metzger schärfen sie immer wieder, bis sie abgenutzt sind. Ich sammelte sie, ohne zu wissen, was ich mit ihnen machen würde. Und als wir anfingen, über die Ausstellung in Kassel zu sprechen, stieß ich auf dieses Sprichwort: »Wenn ein Messer zu scharf ist, schneidet es den Besitzer.« Ich erinnerte mich daran, dass ich diese scharfen Messer habe. Ich begann, über das Sprichwort und die Messer nachzudenken. So kam ich auf diese Idee.

Das Sprichwort besagt Folgendes: Was auch immer du tust oder welche Entscheidung du triffst, es kann auf dich zurückfallen und dich verfolgen. Wenn du dein Messer zu sehr schärfst, wirst du derjenige sein, der sich bei der Arbeit damit schneidet.

Das menschliche Streben nach Fortschritt in verschiedenen Bereichen – Technologie, Bildung, Religion, Wirtschaft, Kolonisierung anderer Planeten usw. – führt zu einer zunehmenden Trennung von den Qualitäten, die uns zu Menschen machen: unsere Fähigkeit zur Liebe, Freundlichkeit, Fürsorge, zu Verständnis, Teilen und Gemeinschaft. So wie ein Messer abgenutzt wird, wenn es immer wieder geschliffen wird, damit es seine Funktion besser erfüllen kann, so verlieren wir durch unsere Anstrengungen, in der gegenwärtigen Gesellschaft zu überleben, immer mehr an Menschlichkeit.

Aber es gibt Auswege aus dieser Sackgasse. Bei der documenta wollten wir auch zeigen, wovon wir träumen und was wir tun, um als Künstler und als Gemeinschaft unsere Probleme zu lösen. Ich glaube, die Welt kann von uns lernen, denn wir müssen zusammenkommen und Lösungen finden. Das ist auch der Geist von Lumbung: Zusammenkommen, Teilen, Lösungen finden.

Gemeinsam Lösungen finden

e: Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern aus der ganzen Welt bei diesem Lumbung-Projekt erlebt?

NW: Die Idee von Lumbung ist das Teilen. Es spielt keine Rolle, was man teilt: Geschichten, Essen, Materialien oder Werkzeuge. In der documenta-Halle teilten wir unsere Werkzeuge, saßen mit anderen Künstlern, den Helfern oder den Besuchern zusammen und diskutierten. Wir arbeiteten mit Instar aus Kuba, dem Britto-Arts Trust aus Bangladesch und Wakali Wood aus Uganda in einer Halle zusammen und diskutierten mit der Jatiwangi Art Factory. Es war wie eine Familie. Bei unserer Arbeit geht es nicht nur um Afrika oder Mukuru, sondern um das, was uns verbindet, die menschliche Geschichte, die menschliche Erfahrung.

Mein Kunstwerk basiert auf einem Sprich­wort, das uns mitgegeben wird. Diese Weisheit unseres Stammes verbindet uns mit dem Geist, der von den Kolonialherren unterdrückt wurde. Indem wir diese Weisheit auf einer internationalen Plattform zum Ausdruck bringen konnten, wurde uns etwas von dem zurückgegeben, was uns genommen wurde: unsere Sprache, unser Glaube, unsere Götter, unsere Religion, unsere eigenen Wege der Anbetung, unsere eigene Art der Bildung.

Das ist auch der Kern unseres Kün­stler­kollektivs: Wenn wir uns zusammenschließen, können wir leichter eine Lösung finden, weil wir eine Herausforderung als gemeinsame Aufgabe erfahren. Das leben wir als Künstler, aber auch in unserem Engagement in der Gemeinschaft oder wenn wir Kinder und Jugendliche unterstützen.

e: Wie kam es zu diesem Engagement in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen?

¬ WENN WIR UNS ZUSAMMENSCHLIESSEN, KÖNNEN WIR LEICHTER EINE LÖSUNG FINDEN.¬

NW: Als wir als Künstler anfingen, kamen viele Kinder zu uns ins Atelier. Zunächst haben wir sie verjagt, aber sie kamen immer wieder, die Kunst zog sie an. Und wir erkannten, dass sie die gleichen Schwierigkeiten durchmachen würden wie wir, wenn wir sie nicht mit einbeziehen würden.

Wir wollen ihnen nicht beibringen, Künstler zu sein, sondern eine Plattform schaffen, auf der sie sich als Kinder ausdrücken können. Als wir Kinder waren, mussten wir arbeiten, um uns zu ernähren, wir hatten keine Zeit, Kind zu sein. Wir wollen dazu beitragen, dass sie mit Liebe und Kreativität aufwachsen. Als unser Projekt größer wurde, luden wir auch Jugendliche ein. Wir haben eine Bibliothek gebaut und ein Mentorenprogramm ins Leben gerufen. Wir hoffen, dass wir in Zukunft mit Berufsausbildungsprogrammen beginnen können, um ihnen Fertigkeiten zu vermitteln, die sie brauchen, um Arbeit finden zu können.

Wir hoffen, durch unsere Kunst Mittel für den Kauf von Land zu beschaffen, um dort Landwirtschaft zu betreiben. So können wir den Kindern beibringen, wie man den Boden, die Pflanzen, die Bäume und die Umwelt pflegt. Das unterstützt uns alle darin, uns wieder mit unserer Spiritualität und unseren Wurzeln zu verbinden.

Wir lehren Kinder unsere Traditionen, die alten Geschichten, die von ihren Großeltern erzählt werden. Die Kinder gestalten zum Beispiel Comics aus diesen Geschichten. Wir haben traditionelle Tänzerinnen und Tänzer und Musiker mit traditionellen Instrumenten eingeladen, damit unsere Traditionen wieder lebendig werden können.

Die Wurzeln wiederentdecken

e: Wie sehen Sie Ihre Arbeit als Künstler, denn die Kunst wird sehr stark vom westlichen Kunstverständnis dominiert, das einen bestimmten historischen Hintergrund in Europa hat. Haben Sie das Gefühl, dass es eine andere Art und Weise gibt, sich auf den künstlerischen Prozess einzulassen oder ein Künstler mit Ihrem eigenen historischen und spirituellen Hintergrund zu sein?

NW: Als die Kolonialherren kamen, nahmen sie uns die drei wichtigsten Dinge: unser Land, unsere Freiheit und unsere Religion. Als sie gingen, gaben sie uns unser Land und einen Teil unserer Freiheit zurück, aber sie gaben uns nie unsere Religion zurück. Was der weiße Mann uns hinterlassen hat, ist der Kapitalismus. Mit dem Kapitalismus gibt es keine Möglichkeit, sich mit unseren Göttern und unserem Planeten zu verbinden. Der Kapitalismus schafft Hunger nach Profit und damit zerstören wir unsere Heimat und die Erde auf der Suche nach Reichtum. Das kapitalistische System unterdrückt überall auf der Welt unsere Spiritualität, unsere Kreativität und unser Menschsein. Es macht die Menschen zu Arbeitern, nicht zu freien Menschen oder freien Denkern. Was wir als Wajukuu-Künstler tun, ist ein kleiner Beitrag, um einen Funken zu entzünden, der uns mit unseren Wurzeln verbindet.

¬ FRÜHER WAR DAS, WAS WIR HEUTE ALS KUNST BEZEICHNEN, UNSERE TRADITION, UNSERE KULTUR, UNSERE LEBENSWEISE. ¬

Bevor der weiße Mann kam, vor der Kolonisierung, war die Kunst Teil unseres Lebens. Wenn ein Kind geboren wurde, gab es ein Ritual, einen Tanz. In anderen Traditionen wurde das Haus bemalt. Als die Weißen kamen, sagten sie, das sei böse. Sie zwangen uns, ihr Leben zu leben. So lernten wir in der Schule zwar etwas über Picasso und Leonardo da Vinci, aber nichts über afrikanische Künstler. Aber es gab Meister der afrikanischen Kunst, deren Werke uns gestohlen wurden. Seit wir durch die Bildung des weißen Mannes gegangen sind, definieren bekannte Namen oder Kunstrichtungen, was als Kunst gilt. So wurde Kunst zur Ware. Früher war das, was wir heute als Kunst bezeichnen, unsere Tradition, unsere Kultur, unsere Lebensweise. Wir als Künstler in der Gemeinschaft wollen diese Praxis am Leben erhalten, damit die Menschen diese künstlerischen Ausdrucksmittel praktizieren, sich daran erfreuen und damit interagieren.

Als Künstler sehen wir uns als Stimme unserer Gemeinschaft. Wir sind hier aufgewachsen und konnten nur gemeinsam überleben. Es ist nicht so, dass man sich in einer perfekten Gruppe wiederfindet oder mit Leuten, die alle gleich viel beitragen. Das Zusammensein ist ein Kompromiss, der aus dem Verständnis entsteht, dass wir unterschiedliche Fähigkeiten haben. Jeder gibt sein Bestes. Selbst derjenige, der wenig tut, tut sein Bestes. Aus dieser inneren Haltung heraus ist es einfach, zusammen zu sein.

e: Wie gehen Sie dabei mit Konflikten um?

NW: In der Unternehmenswelt wird man gefeuert, wenn man nicht das tut, wozu man sich verpflichtet hat. Aber in einer Familie feuert man seinen Bruder oder seine Schwester nicht. Man vertreibt sie nicht, man bleibt bei ihnen. In einem Kollektiv ist es das Gleiche. Konflikte werden durch Kommunikation gelöst. Wenn jemand in dieser Situation scheitert, heißt das nicht, dass er auch in der nächsten Situation scheitern wird. Jeder Tag ist ein Experiment.

e: Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer künstlerischen Arbeit?

NW: Wir engagieren uns sozial in unserer Gemeinschaft im Slum und sind professionelle Künstler. Für die Zukunft hoffen wir, Ausstellungen zu machen und uns als Künstler behaupten zu können. Wir wollen die Gelder aus der Kunst verwenden, um unsere sozialen Aktivitäten zu unterstützen, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, das Mentorenprogramm und vieles mehr. Wir wollen unsere Nachhaltigkeit durch die Farm und den Verkauf der Kunstwerke sicherstellen. Auf der Farm hoffen wir, ein künstlerisches Austauschprogramm zu schaffen, um Künstler aus der ganzen Welt zu beherbergen und auch unsere Künstler in Institutionen in der ganzen Welt unterzubringen. Auf diese Weise wollen wir ein Zentrum für Kunst und Kultur schaffen.

Author:
Mike Kauschke
Share this article: