Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 30, 2020
Als ich an einem strahlenden Winterabend auf dem Weg zum Interview mit NILS-UDO auf dem Fahrrad durch den Chiemgau fahre, spüre ich, wie die Beschäftigung mit seiner Kunst meinen Blick verändert hat. Die Naturkunst des bekannten Landart-Künstlers hat meine Wahrnehmung geschärft für die Farben, Formen, Stimmungen und Bewegungen der Landschaft, der Berge, Bäume und Wiesen. Und in unserem Gespräch in seinem Atelier wird NILS-UDO nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die Natur für ihn das eigentliche Kunstwerk ist und er und seine Kunst nur der Vermittler.
evolve: Als Erstes möchte ich fragen, wie Sie überhaupt zur Kunst gekommen sind und dann zur Kunst in oder mit der Natur?
NILS-UDO: Wie kam ich zur Kunst? Oder besser: Wie kam ich zur Natur? Ich hatte das Glück, die wichtigsten Jahre meiner Kindheit auf dem Land zu verbringen, auf einem Schloss in Unterfranken über dem Maintal. Dort waren wir das ganze Jahr über draußen, in den Obstgärten um das Schloss, im Wald, im Main und in den Weihern. Diese Jahre haben mich für mein Leben geprägt.
Wie ich zur Kunst kam, das kann ich Ihnen nicht sagen. Das hat sich ergeben. Ich wusste schon sehr früh, dass ich Maler werden möchte. Entsprechend habe ich meine ganze Existenz und Laufbahn daraufhin ausgerichtet. Damals in diesen Jahren war es noch so, dass man als Maler nach Paris gehen musste. So ging ich 1960 nach Paris und habe dort neun Jahre lang Malerei betrieben. In den letzten ein, zwei Jahren begann ich langsam, mit Naturmaterialien zu experimentieren. Ich brachte zum Beispiel Laub und kleine Zweige aus dem Schlosspark von Versailles mit, die ich in die Malerei integrierte. Oder ich setzte lebende Pflanzen neben oder vor die Leinwand und erklärte sie konzeptuell zum Teil der Arbeit.
e: Wie kam der Schritt, mit der Kunst in die Natur zu gehen?
NU: Das geschah dann 1972. Ich war damals mit meiner Malerei in einer Sackgasse. Ich wusste nicht mehr recht, wie ich weitermachen könnte. Buchstäblich von einem Tag auf den anderen beschloss ich, in die Natur zu gehen und mit und in der Natur zu arbeiten. Ich wollte nicht mehr länger Bäume malen, sondern ich wollte Bäume pflanzen. In meinem Dorf unweit von hier in Oberbayern pachtete ich von den Bauern Ländereien, auf denen ich zum Teil große Baumund Strauchpflanzen anlegte. Diese Arbeiten begleitete ich mit der Kamera, denn es stand von Anfang an fest, dass ich alle Arbeiten mit der Kamera dokumentiere. Nachdem ich von der Malerei herkam, wollte ich nicht nur Dokumentationsfotos erstellen, sondern es sollten »Fotografische Bilder«, also Kunstwerke im eigentlichen Sinne entstehen. Ich hatte keine Ahnung von Fotografie und kaufte mir ein kleines Taschenbuch über Fotografie. Zunächst fotografierte ich in Schwarz-Weiß und vergrößerte die Fotos selbst. Unzählige Nächte verbrachte ich im Labor, um meine Schwarz-Weiß-Fotos zu produzieren. Das war damals eine sehr aufregende und spannende Zeit. Dann kam der Schritt zur Farbe, denn die Natur ist farbig, und so haben sich die Dinge schrittweise entwickelt.
e: Das war zu einer Zeit, wo es Landart in dem Sinne noch gar nicht gab.
NU: Nach langen Jahren in Paris zurückgekehrt nach Oberbayern, entdeckte und erlebte ich die Natur völlig neu. Ich lebte mit meiner Frau, ohne Kontakt zu anderen Künstlern, am Rande eines Dorfs, umgeben von Bauernhöfen und Kühen.
e: Sie haben viele Jahre mit der Natur gearbeitet. Wie würden Sie den Entstehungsprozess Ihrer Arbeiten beschreiben und was empfinden Sie, wenn Sie mit der Natur arbeiten?
NU: Aus einem Erlebnis in der Natur entsteht entweder eine Installation in der Landschaft oder eine Malerei in meinem Atelier. Die Malerei wurde in der Folge zur zweiten Hälfte meines Werks. Lange Jahre arbeitete ich nur in der Natur und hatte die Malerei völlig aufgegeben. Ich ging und gehe ohne jedes vorgefasste Konzept in die Natur. Die Arbeit besteht immer darin, auf eine angetroffene Situation zu reagieren. Ich gehe auf die Topografie, das Licht, die Farbe, die Pflanzen, die Mineralien ein – alles, was diesen Naturraum konstituiert und ausmacht. Und aus und mit diesem Naturraum geschieht eine Arbeit, die immer auf eine schon existierende Situation antwortet. Ich bin kein Bildhauer, ich bin kein Künstler, der die Natur mit irgendwelchen vorgefertigten Objekten möbliert. Das Thema ist die Natur und das Kunstwerk ist die Natur selbst! Das ist der große Unterschied zum Beispiel zu manchen amerikanischen Landart-Künstlern, die zum Teil mit großen Betonblöcken in die Wüste gegangen sind. Ich verwende für meine Arbeit lieber den Begriff ART IN NATURE.
e: Wie finden Sie die Orte, mit denen Sie arbeiten? Gehen Sie in bestimmte Regionen und suchen nach Orten, die Sie ansprechen?
NU: Wenn ich zuhause bin, finde ich sie in unserer oberbayerischen Landschaft. Da begann ich damals mit meinen Pflanzungen. Aber schon bald bekam ich Einladungen und war inzwischen in etwa 40 Ländern, um dort zu arbeiten. Jede für mich neu zu entdeckende Landschaft kann als Antwort zu einer neuen Arbeit führen. Die Thematik ist immer wieder eine andere. Als ich zum Beispiel auf einer vulkangeprägten Insel im Indischen Ozean war, wollte ich natürlich den Vulkanismus thematisieren. Oder als ich in Namibia in der Wüste war, arbeitete ich mit den Dünen. Oder in Irland, wo es sehr viel Torf gibt, habe ich mit Torf gearbeitet, in Venezuela mit Mangroven und an der Nordsee mit den Gezeiten. Jeweils als Antwort auf eine existierende Natursituation entstehen spezielle Arbeiten.
e: Wie erleben Sie die Arbeit an einem solchen Ort? Ist das ein Eintauchen oder Sich-Verbinden mit dem Ort, um herauszufinden, was die richtigen oder die passenden Materialien sind, die Sie nutzen wollen, um auf diesen Ort zu antworten?
Ich bin kein Künstler, der die Natur mit irgendwelchen vorgefertigten Objekten möbliert.
NU: Ich arbeite immer mit den vor Ort existierenden Naturmaterialien. Als ich auf La Réunion im Indischen Ozean war, stieg ich auf einen Vulkan, den Piton de la Fournaise. Bei der Umrundung entdeckte ich einen Riss in der Lava. Blitzartig hatte ich die Idee, aus dieser Lava rote Blütenblätter züngeln zu lassen, die auf der Insel Feuerzungen heißen. So bin ich hinunter an die Küste, wo ich lebte, und habe in einem Eimer diese roten Blütenblätter gesammelt.
Allerdings war es mir nicht möglich, mit diesem Wassereimer auf den Berg hinaufzusteigen, ich war gezwungen, einen Hubschrauber zu nehmen, um dort oben diese Arbeit zu verwirklichen.
e: Ihre Kunst in der Natur ist vergänglich. Wie gehen Sie damit um?
NU: Diese Vergänglichkeit ist von Anbeginn Teil des Konzeptes. Mir bleibt als Trost oder als Beleg für die Arbeit meine Fotografie, die als eigenständiges Kunstwerk konzipiert ist. Aber alle Aufnahmen können notgedrungen nur Momentaufnahmen sein und entsprechend versuche ich, die Dreidimensionalität, den Geist und Charakter der Arbeit möglichst gut auf die zweidimensionale Fläche der Fotografie zu bringen. Deshalb ist das Ergebnis oftmals nicht nur eine Aufnahme, sondern es entstehen Diptychen, Triptychen oder achtteilige große Sequenzen, die dann zehn bis fünfzehn Meter lang sein können. So entsteht das fotografische Werk aus meiner Arbeit in der Natur, wobei das Herzstück meiner Arbeit die Arbeit in und mit der Natur ist. Die Fotografie kommt in einem zweiten Schritt hinzu und beide zusammen bilden das Werk.
e: Wie entsteht die Idee dafür, welche Gestaltung Sie an einem Ort umsetzen möchten?
NU: Das ist jedes Mal ein anderer Prozess. Grundsätzlich gilt, dass ich die Intention habe, auf das Angetroffene zu reagieren. Aber es kann auch dazu führen, dass das Angetroffene weitergeführt wird mit zusätzlichen Gedanken und Materialien, die hineingebracht werden. Das ist jedes Mal ortsspezifisch etwas anderes. Es gibt keine generelle Vorgehensweise. Wenn ich in die Natur gehe, bin ich ohne jedes vorgefasste Konzept. Ich reagiere immer. Ein Beispiel: Ich habe einmal einige Arbeiten in der Region Donauried an einem kleinen Fluss gemacht, der in die Donau mündet. Dieser Fluss war sehr klar und hatte wunderbare leuchtendgrüne Wasserpflanzen. Das war eine ganz fantastisch schöne Situation. Ich wollte unbedingt diese wunderbare blaugrüne Wasserlandschaft thematisieren. Ich sah mich um und da wuchsen wilde Sonnenblumen, Pfaffenhütchen und rote Beeren. Die habe ich geschnitten bzw. gesammelt und von den Sonnenblumen die Blätter entfernt. Auf mehreren Blüten legte ich dann die Beeren aus, zuerst eine rote Fläche, dann eine orange-gelbe, die ich dann auf den Fluss aufbrachte und hinuntertreiben ließ – die Komplementärfarben rot und orange zum leuchtenden Grün des Flusses. Das sind Schritte, wie eine Arbeit entstehen kann.
e: Wie erleben Sie das Eingreifen in die Natur?
NU: Unvermeidlich greife ich ein. Viele meiner Arbeiten thematisieren Existierendes, unterstreichen es und heben es hervor. Aber es ist natürlich immer mit einem Eingriff verbunden. Aber diese vielen kleinen Arbeiten wären nicht möglich, wenn ich brutal vorgehen würde. Ich muss mich einfügen in das Existierende und behutsamst vorgehen.
e: Eine Erfahrung, die ich beim Anschauen Ihrer Arbeiten gemacht habe, ist, dass sie nicht der Natur aufgedrückt sind, sondern aus der Natur zu entstehen scheinen und dadurch einen Blick in das Wesen eines Ortes oder einer Landschaft ermöglichen. Steht dahinter Ihr Anliegen, der Natur einen Ausdruck oder eine Stimme zu geben?
NU: Ich habe nichts zu sagen, ich habe überhaupt nichts zu sagen. Sie sollten die Natur hören, die Natur spricht zu uns und sie spricht zu Ihnen! Ich bin nur ein Vermittler im Hintergrund.
e: Hat sich dieses Lauschen auf die Natur und damit Ihre Arbeit in den vielen Jahren verändert?
NU: Es gibt eigentlich keine Veränderung, die man auf Anhieb erkennen könnte. Freilich gibt es bestimmte Themenkomplexe, die wiederkehren, wie das Nest. Aber es gibt nie zweimal das Gleiche, auch wenn ich in verschiedenen Ländern verschiedene Nester baue. Mit unterschiedlichen Materialien, in anderen topografischen Natursituationen entsteht automatisch immer wieder eine völlig neue Arbeit.
e: Das Nest kehrt als Motiv immer wieder. Was bewegt Sie daran?
NU: Der Ausgangspunkt war ganz simpel. Ich hatte den Auftrag, für eine Galerie in einem Dorf in der Lüneburger Heide eine Arbeit zu gestalten. Ich wanderte durch die Wälder um dieses Dorf herum und sammelte Vogelfedern. So bemerkte ich, dass es dort viele Vögel gibt. Das führte zum ersten großen Nest in der Lüneburger Heide im Jahre 1978. Damals hatte ich das Glück, dass die Bauern in diesen Wäldern die Birken herausgeschnitten hatten, weil es in ihren Augen ein minderwertiges Holz ist. Damit habe ich gearbeitet und mein erstes großes Nest gebaut. Als Metapher für Geburt und Leben kann ich mit diesem Thema immer wieder arbeiten.
e: Entstehen Ihre Gemälde im Einklang mit den Arbeiten in der Natur oder ist das ein eigener Vorgang?
NU: Das ist ein ganz eigener Arbeitsprozess. Dabei ist die Farbe (ebenso wie bei meiner Arbeit in der Natur) häufig ein entscheidender Faktor in meinem malerischen Werk. Eine Malerei kann durchaus mit der Stimmung und einem Erlebnis in der Natur zu tun haben, aber ich bin dann sehr schnell völlig frei und unabhängig. Blätter und Bäume sind zugleich Elemente der Natur und abstrakte Formen auf der Fläche. Im Gegensatz zur Arbeit im Natur-RAUM übernimmt hier die Disziplin der Malerei mit ihren eigenen Gesetzen der Organisation der FLÄCHE die Regie. Aber wirklich zu verstehen ist meine Malerei erst in der Zusammenschau mit meinem Werk in der Natur! Arbeit in der Natur und Malerei im Atelier betreibe ich seit vielen Jahren parallel. Ausgangspunkt und Thema sind identisch. So wie eine Malerei nach der klassischen Definition von Mauris Denis »eine Fläche ist, welche in einer bestimmten Anordnung von Farben und Formen bedeckt ist«, organisiere ich den Raum der Natur, indem ich »in einer bestimmtem Anordnung« Farben und Formen setze. Und in diesem kleinen Absatz »in einer bestimmten Anordnung« liegt die ganze Kraft sowohl einer Malerei als auch einer Arbeit in der Natur!
e: Sie haben auch Arbeiten im urbanen Raum gestaltet. Wie unterscheidet sich diese Form von der Arbeit in der Natur?
Die Natur spricht zu uns.
NU: Das ist ein völlig unabhängiger Komplex. Wenn ich im urbanen Raum arbeite, bin ich im gebauten Umfeld und habe mit Firmen und Auftraggebern zu tun. Deshalb muss ich zum Beispiel ein Modell anfertigen, maßstäbliche Pläne zeichnen und mir den Ort vorher ansehen. Die Arbeit entsteht wie immer speziell für eine bestimmte Örtlichkeit. Das ähnelt meiner ursprünglichen Arbeit in der Natur als Antwort auf eine örtliche Situation oder einen Innenraum, wie bei meiner aktuellen Arbeit in Paris. Auch bei diesen Arbeiten ist das Thema Natur immer präsent; Natur ist in meinem Werk immer der zentrale Inhalt.
e: Reflektieren Sie Ihre Arbeit mit der Natur auch im Kontext der ökologischen Krise, die sich ja in den Jahren, in denen Sie gearbeitet haben, verschärft hat?
NU: Eine wichtige Frage. In meinen ersten Jahren gab es die Fragestellung so explizit wie heute noch nicht. Allerdings war ich von Anbeginn meiner Arbeit in der Natur davon ausgegangen, dass ich parallel mit und in der Natur nicht nur arbeite, sondern auch lebe. Ich lebe in und mit ihren Kreisläufen, daraus entsteht mein Werk. Das sollte von Anbeginn eine Einheit bilden. Dieses Leben ist für mich seit Jahrzehnten alltägliche Praxis, insofern kann ich mir ein anderes Leben eigentlich gar nicht vorstellen. Meine Gedanken kreisen ständig um neue Arbeiten in der Natur oder im Atelier.
Im Laufe der Zeit kam freilich das zunehmende Bewusstsein der ökologischen Krise dazu, die sich katastrophal verschärft hat. Das führte dazu, dass ich mir bewusst wurde, ein zum Teil widersprüchliches Leben geführt zu haben. Die Tatsache, dass ich mit meinen Arbeiten in etwa 40 Ländern unterwegs war und deshalb entsprechend viele Flugreisen unternahm!
e: Gibt es ein Projekt, das Ihnen für die Zukunft besonders am Herzen liegt?
NU: Das hängt zusammen mit meiner aktuellen Installation für die Fondation EDF in Paris, die bis zum 2. Februar läuft. Ausgehend von diesem Werk werde ich in Zukunft auch große Projekte für Innenräume in Museen schaffen. Das ist ein Arbeitsfeld, das ich innerlich stark weiterbewege. Ich habe eine Reihe von Skizzen und Entwürfen angefertigt, die ich in Zukunft umsetzen werde. In Paris ist es eine Installation in einem mehrgeschossigen Gebäude. Die Wände, die Decken und die Böden im Parterre und im ersten Stock wurden schwarz gefärbt, sodass ich einen großen neutralen schwarzen Raum gestalten konnte. BLACK BAMBOO nenne ich das Projekt, es besteht aus einem Gelege aus großen schwarzen Marmoreiern auf weißem Marmor-Kies und ist umgeben von einem hohen, vom Boden bis zur Decke des ersten Stocks reichenden »Wald« aus Bambusstangen.
e: Sie sind also in Ihrer Arbeit immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen?
NU: Ich suche nicht, ich finde, hat schon Picasso gesagt! Die Natur ist unausschöpfbar. Ich könnte mehrere Leben in und mit ihr arbeiten.
Das Gespräch führte Mike Kauschke.