Die Neuentdeckung des Menschen

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 17, 2017

Featuring:
Dr. Roland Benedikter
Yuval Harari
Bill Gates
Kevin Warwick
Bill Joy
Steve Wozniak
Mark Zuckerberg
Ramana Maharshi
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Issue 15 / 2017:
|
July 2017
Mensch & Maschine
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Wie uns die Technik zu uns selbst führenkann

Big Data, künstliche Intelligenz, Algorithmen sind die Synonyme, mit denen technologische Utopisten unser Menschsein grundlegend verändern wollen, indem wir immer mehr mit Maschinen verschmelzen. Bis das Menschsein, wie wir es kannten, der Vergangenheit angehört. Roland Benedikter beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit diesen Entwicklungen und sieht darin eine Gefahr für unser Leben und eine Chance für einen neuen Humanismus.

evolve: Wir befinden uns zurzeit in einer Big-Data-Revolution, in der wir eine Datenrealität schaffen, die unsere gesellschaftliche Realität radikal verändert. Dadurch stellt sich die Frage, was es überhaupt bedeutet, Mensch zu sein, neu. Wie siehst du diese Entwicklung, in der wir uns heute befinden?

¬Wo wir am Individuellsten und am meisten wir selbst sind, sind wir eigentlich der andere. ¬

Roland Benedikter: Wir erleben gerade den Aufstieg der Datenwissenschaft zu einer neuen Realität. Die Frage ist, ob diese Realität Kontext bleibt – oder uns als Menschen neu definieren wird. Ein Beispiel: Wenn man an einer seltenen Krankheit leidet, kann man im Internet durch Vergleichsanalyse alle Fälle dieser Krankheit innerhalb kürzester Zeit weltweit auffinden, erfolglose und erfolgreiche Heilversuche recherchieren, den jeweiligen Kontext vergleichen und die Bedingungen und Medikamente analysieren. Der Computer erledigt eine Vergleichsleistung, die bei einem Menschen 100 Jahre dauern würde, in wenigen Stunden. Die Voraussetzung ist, dass auch intimste Daten flächendeckend praktisch über jeden Menschen abgespeichert und global verfügbar sind, einschließlich ganzer biografischer Verläufe und persönlicher Schicksale. Das Ergebnis soll, wenn es nach der heutigen »Präzisionsmedizin« oder »Transformationsmedizin« geht, eine ganz individuelle Diagnose sein, die genau auf den Einzelfall eines einzigartigen, einmaligen und unwiederholbaren Individuums abgestimmt ist. Diese Daten­revolution durch die Automatisierung künstlicher Intelligenz wird durch absolute Verallgemeinerung möglich, also den Zusammenschluss – der Idee nach – aller Menschheitsdaten. Erst dies ermöglicht paradoxerweise, dass man Daten immer individueller kalibrieren kann. Das Individuellste ist hier also buchstäblich das Allgemeinste – und umgekehrt.

Geschäft mit dem Körper

e: Also die Verwirklichung von Goethes Menschheits-Maxime? Dass, wenn ich ganz individuell bin, ich alle anderen bin?

RB: Bis zu einem gewissen Grad scheint es so, und die Effekte können durchaus in diese Richtung gehen. Aber vergessen wir nicht: Wir befinden uns im Zeitalter Nietzsches, im Zeitalter »jenseits von Gut und Böse«, und zwar erstmals vollgültig in der Geschichte. Das heißt: Die Dinge sind ab nun immer ein zweischneidiges Schwert, sie tragen immer mehrere Möglichkeiten in sich. Das ist hier auch der Fall. Die Datenrevolution ist Teil des heute beginnenden nächsten »bigcivilizationalleap«, des großen zivilisatorischen Sprungs nach Internet und Computer in den 1990er Jahren: den in das globalisierte Geschäft mit dem menschlichen Körper. In das, was wir »Transformationsmedizin« nennen: Medizin als Sektor, der nicht mehr nur dient, sondern Zivilisation verwandelt. Transformationsmedizin eröffnet der Medizin in der Daten-Mobilität – quasi quer durch alle Bereiche der Erkenntnis und des Wissens – eine ganz neue Dimension, die sehr stark von nichtmenschlichen Faktoren abhängig wird. Die intelligente Maschine kommt hier erstmals in einer Weise ernsthaft ins Spiel, die wir bisher nicht kannten. Sie arbeitet immer schneller und exponentieller, abhängig von Automatisierungsprozessen und künstlicher Intelligenz. Laut der Hoffnung Ray Kurzweils, des Chef-Ingenieurs bei Google, kann und soll das in einen Gesamtprozess münden, der unsere Idee von Wissen und Erkenntnis, von Selbstbewusstsein und einem guten Leben umgestaltet. Durch diese Veränderung, die als »puttingpeople in context« mittels Vergleichsdaten bezeichnet wird, soll die größte Umgestaltung unseres Lebens stattfinden, die wir je hatten. Und damit soll ein Übergang von der heutigen humanistischen zu einer »transhumanistischen« Kultur verbunden sein. Die neuen Technologien sollen uns, genau am Schnittpunkt von »Das Individuellste ist das Allgemeinste« über den bisherigen Menschen hinausführen. Darin liegt die Tiefenambivalenz dessen, was vorgeht. Goethe und Nietzsche sind in der Gegenwart untrennbar geworden, obwohl sie an sich zwei entgegengesetzte Pole sind.

e: Du sagst, die »transhumanistische« Revolution, die mit der Transformationsmedizin einhergeht, will eine Umgestaltung unseres Menschseins vorbereiten. Was siehst du da auf uns zukommen?

RB: Die global gesammelten, auf das »Ich« sowohl als Quelle wie als Ziel zugreifenden Vergleichsdaten könnten in der Tat unseren Lebensraum, unsere Anonymität, unsere Privatsphäre komplett umgestalten. Ich sehe sozialen Druck, der auf uns zukommt, weil Menschen benachteiligt werden könnten, die nicht in diesen globalen Vergleichsdatensystemen und Integrationssystemen eingebunden sind, welche mit dem Anspruch auftreten, für »gute Zwecke« praktisch alles zu erfassen, was man tut. Ein Beispiel: Soeben ist eines der ersten »Sleeptracking«-Systeme, der »Hello Sense Bedroom Monitor«, bankrott gegangen, das mehr als 42 Millionen Dollar an Startinvestitionen anzog und zu den erfolgreichsten Crowdfunding-Projekten aller Zeiten gehörte. Man konnte ihn zuletzt für etwa 149 Dollar im Laden kaufen. Der »Schlafzimmermonitor« misst sowohl drahtlos als auch mittels eines am Kopfkissen angebrachten Sensors Bewegungsprozesse des Schläfers, ermittelt daraus die individuell unterschiedlichen Schlafphasen und teilt ihm dann mit, wie und wann er persönlich am besten schläft. Das System funktioniert über eine einfache Überwachungskugel, die man auf dem Nachtkästchen aufstellt. Alles andere besorgt der Computer. Das Versprechen ist, dass man dadurch viel fitter und leistungsfähiger wird, weil man »effizienter schläft«. Im Sinne von Aussagen wie »Der Schlaf ist die wichtigste Zeit des Tages« und »Wir verbringen ein Drittel unseres Lebens im Schlaf«. Aber dass damit auf die Intimität zugegriffen wird mit Einwilligung derjenigen, die »selbstoptimierungswillig« und arglos zugleich sind, wird dabei kaum thematisiert. Nach dem Bankrott von Hello arbeitet ein halbes Dutzend anderer Firmen wie Circadia weiter – etwa an einer an die individuellen Schlafprozesse gekoppelten »intelligenten Therapielampe« (Intelligent TherapyLamp), die die »Körperuhr«, also den Biorhythmus »perfektionieren« soll. In unserer gestressten Gesellschaft wird es wohl Menschen geben, die sich selbst den Biorhythmus automatisieren lassen.

e: Und daraus entsteht deiner Meinung nach früher oder später sozialer Druck.

RB: Möglicherweise. Wenn man eine seltene Krankheit hat, dann muss man in der Datenlogik der »Präzisionsmedizin« letztlich jede Bewegung des Lebens eines Menschen über 30 Jahre kennen, einschließlich der Ernährungs- und Schlafgewohnheiten. Erst wenn ich all diese Daten automatisiert vergleiche, kann ich eine individuelle Diagnose oder einen Heilungsvorschlag erstellen. Das bedeutet, dass ein sozialer Druck entsteht, denn wenn du an den Vorteilen dieser neuen elektronisch automatisierten Welt teilhaben willst, dann musst du auf deine bisherige Privatheit verzichten, ansonsten bekommst du z. B. keine Krankenversicherung mehr oder sie kostet dich das Doppelte. Ein Beispiel ist Googles neue, mit dem Supercomputer DeepMind verbundene »Streams«-Application für Spitäler. Sie soll für das britische Gesundheitssystem NHS bei Nierenversagen im frühen Stadium erste Warnsignale entdecken und greift dazu zu Vergleichszwecken auf die Daten von 1,6 Millionen Patienten zu – offenbar, ohne dass diese vorher informiert wurden. Die Information der Patienten ist aber gar nicht (mehr) das vorrangige Problem. Wie eine Untersuchung des Abkommens im Juni 2017 ergab, haben die Patienten ohnehin keine Möglichkeit, sich dem »Abkommen« über »wechselseitige« Datennutzung zu entziehen – außer, sie brechen ihre Behandlung ab oder gehen in ein privates Zahlungsmodell über. Das sind beunruhigende Signale.

Des Weiteren sehe ich den Übergang der Medizin von einem heilenden, sozialen Bereich, wo man den kranken Körper heilt, zu einem globalen Geschäft mit dem menschlichen Körper. Dabei geht es nicht mehr um das Heilen, sondern der Schwerpunkt verschiebt sich immer mehr zu einem Verbessern des gesunden Körpers, also vom Heilen zum sogenannten Human Enhancement. Das bedeutet wörtlich nicht »Selbstoptimierung«, wie es abschwächend und verharmlosend im Deutschen heißt, sondern durchaus wörtlich »Verbesserung des Menschen«. Ziel ist die Auf- und Umrüstung des menschlichen Körpers bis in seine Physis hinein. Dieser Trend wird in den kommenden Jahren die Diskussion um die Zukunft der humanistischen Kultur sehr beeinflussen.

Unantastbare Würde

e: Warum denkst du, dass sich durch diese Entwicklungen auch der Kontext des Humanismus verändern wird?

RB: Weil der bisherige Humanismus als die Weltanschauung im Zentrum der Demokratien von der Idee ausgeht, dass wir noch nicht sehr viel über den Menschen wissen. Wir wissen einerseits, dass er ein Bewusstsein von sich selbst hat, das man nicht einfach kausal von anderen Faktoren – auch nicht von transzendentalen – ableiten kann. Dieses »selbstbewusste Bewusstsein« stellt einen ­archimedischen Punkt im Kosmos dar, auf den nur das »Ich« ­Zugriff hat, aber niemand anderer. Wegen dieser Sonderstellung des »Ich« im Kosmos, sowohl kognitiv wie als existenzieller Prozess, ist für den Humanismus das Menschsein im Kern unantastbar. Diese Selbstgegebenheit, wo jeder nur zu sich selber »Ich« sagen kann und zu einem anderen »Du« sagen muss – wo also ein Geheimnis des Selbst, ein universaler Punkt gegeben ist, aus dem alles andere fließt –, ist seit der Geschichte der frühen Moderne auch für die ausdifferenzierte, zunehmend technoide Gesellschaft gewissermaßen ein heiliges Prinzip gewesen.

e: Und das hatte gesellschaftliche Folgen.

RB: Die Sichtweise des menschlichen Bewusstseins als Ich- und Selbstbewusstsein hat eine ganze Reihe von Folgewirkungen erzeugt, wie die Unantastbarkeit der Person, die Menschenwürde und die transzendentale Selbstgegebenheit des Menschen, die nicht von ideologischen Faktoren von links oder rechts angegriffen werden darf. Davon ausgehend, entstand die Dreiheit von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit als humanistisches Ausdifferenzierungs­prinzip moderner Gesellschaft. Die humanistische Sichtweise geht insgesamt davon aus, dass wir den Menschen vorsichtig behandeln. Dass wir, vor allem anderen, dieses Geheimnis des Ich schützen, das im Menschen wirkt und in dem sich das Subjektive und das Objektive auf einmalige und intime Weise verbinden.

Doch heute kommt der Transhumanismus mit seinen technischen Möglichkeiten und sagt, es gebe vielleicht gar kein Ich. Deshalb sei es legitim, den Menschen jetzt bis in seine Grundstruktur, sein Gehirn, seine Bewusstseinsprozesse, seine Physis hinein umzugestalten. Wozu? Um ihn zu vervollkommnen. Wohingegen der Humanismus den Menschen als unabgeschlossen sieht, ihn aus dem unendlich Berührenden seiner Endlichkeit, Begrenztheit und Verletzlichkeit im Bewusstsein begreift. Der Humanismus will den Menschen erst besser verstehen, bevor man etwas Grundlegendes im Menschsein verändert. Der Transhumanismus will den Menschen umgestalten, obwohl auch er ihn noch nicht ausreichend versteht, wie die meisten Transhumanisten zugeben. Einfach, weil wir es jetzt können.

Neue Götter

e: Im Kern dieser Fragestellung liegt der Respekt vor der Ich-Erfahrung, die von den Transhumanisten – und auch von einigen Hirnforschern – infrage gestellt wird: Ist dieses Ich nicht eine Illusion? In seinem viel diskutierten Buch »Homo Deus« schreibt zum Beispiel der israelische Autor Yuval Harari, dass eigentlich jeder Organismus ein Algorithmus ist. Wenn das tatsächlich der Fall ist, könnten wir einfach bessere Algorithmen entwickeln, die alles besser berechnen und effizienter funktionieren können. Die Problematik besteht darin, so verstehe ich dich, wenn wir Algorithmen-Systeme entwickeln, die so mächtig sind, dass sie uns in der Reaktion auf die Welt überholen, dass wir als Menschen von einem System ausgehebelt werden, das irgendwann die Frage nach dem Ich nicht mehr zulässt.

RB: Das ist eine Möglichkeit, die nicht nur vielen Humanisten Sorgen macht, sondern auch recht rationalen Technikbegeisterten wie den Erfindern der heutigen Technikrevolution, darunter Bill Joy (Sun Microsystems), Bill Gates (Microsoft) oder Steve Wozniak (Apple). Die Technik-Enthusiasten machen sich da weniger Sorgen, auch, weil sie sich naiver stellen. Nicht zufällig hat sich etwa Mark Zuckerberg (Facebook) in seinem jüngsten Manifest, in dem er auf seiner Facebook-Seite beschreibt, wie er sich die Menschheit der Zukunft vorstellt, direkt auf das Buch von Harari bezogen. Für ihn scheinen die sozialen Netzwerke letztlich dazu zu dienen, die Leistungsfähigkeit kollektiver Algorithmen zu steigern, bis wir über uns hinauswachsen und sozusagen zu Göttermenschen, zu transhumanen Wesen werden und eine höhere Stufe qualitativer und quantitativer Existenz erreichen. Bereits heute schon schlagen die großen Supercomputer Menschen in den meisten algorithmisch komplexen Operationen. Inzwischen verlieren auch die Go-Meister – das komplexeste Spiel Asiens – gegen Supercomputer. Wenn es zudem Realität wird, was man sich heute an einigen Forschungseinrichtungen erträumt – dass es möglich werden soll, mittels bildgebender Verfahren die prozessualen Abläufe des Bewusstseins und die Aktivierung von Gehirnarealen so darzustellen, dass sie auch als Prozess algorithmisch repliziert werden können –, stünde eine neue Stufe des Trends zur Technisierung des Menschen bevor. Damit könnte man einen individuellen mentalen Prozess kartografieren und seine Gesetzmäßigkeit in einen Algorithmus verwandeln, um das Ergebnis in ein Computerprogramm oder vielleicht sogar in das Internet herunterzuladen. Damit wäre, dem »transhumanistischen« Traum nach, eine Trennung des »reinen« Geistes vom Körper erreicht. Die meisten Transhumanisten streben mittels Technisierung des Menschen nach einem reinen selbstbewussten Geist, der dazu fähig wird, sich vom Körper abzutrennen und dadurch unsterblich zu werden. Solches Mind-Uploading würde aber gleichzeitig wohl auch bedeuten, dass wir einer zu Selbstbewusstsein erwachten Intelligenz technologischer Natur unterlegen wären. Wir würden uns als Menschen tatsächlich abschaffen und zu Göttern werden, d. h. zu intelligenten Maschinen. In diese Richtung kann man auch Hararis Argumentation in seinem Buch interpretieren.

e: Das Wort »Götter«, wie es Harari benutzt, klingt so, als würde der Respekt vor einem Mysterium angesprochen, aber eigentlich ist mit der Göttlichkeit nur die Allmacht gemeint.

RB: Ja. Es handelt sich beim Transhumanismus um einen materialistischen Idealismus oder idealistischen Materialismus. Der Begriff Göttlichkeit wird von den Trans­humanisten irreführend verwendet, weil sie damit eigentlich nur sagen wollen, dass wir etwas werden (müssen), das nicht mehr der bisherige Mensch ist und uns an Rechenkapazität und algorithmischer Intelligenz übersteigt.

¬Der Humanismus will den Menschen erst besser verstehen, bevor man etwas Grundlegendes im Menschsein verändert. ¬

Auch der Begriff Geist wird hier im Wesentlichen auf höhere Rechenleistung bezogen, die sich exponentiell steigern lässt und von ihrer eigenen Erfahrung selbsttätig lernen kann. Google zum Beispiel geht davon aus, dass bis 2045 Computer eigenständig Begriffe Wahrnehmungen zuordnen können. Damit würden die Computerprozesse dem menschlichen Denkprozess ähneln, der Ideen und Begriffe bilden kann und schöpferische Verbindungen zu Wahrnehmungen herstellt, die über das Bekannte hinausgehen. Sollte das der Fall sein, dann geraten wir in ein Spannungsfeld, in dem sich die Frage nach dem Menschen neu stellt. Der Transhumanismus findet eine sehr simple Antwort. Seine Idee ist, dass wir zu einer Art optimierter (Bio-)Maschine werden könnten, und dass das eigentlich nicht falsch ist. Mit diesem Blick betrachten sie die ganze Menschheitsgeschichte und argumentieren, dass alles auf diesen Punkt hinführt. Doch wenn wir vor dieser Entwicklung stehen und in sie hineingezogen werden, müssen wir ganz grundsätzlich verstehen, was der Mensch bisher war und was wir wirklich über ihn wissen. Wir müssen die Menschheitsgeschichte überprüfen, reflektieren und davon ausgehend die humanistische Position neu definieren. Dann wird man möglicherweise in besser als bisher argumentierbarer Weise herausfinden, dass der Mensch kein Algorithmus ist. Wie eine »Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«, könnte uns diese Entwicklung von fast einer Selbstverneinung des Menschen hin zu einer Selbstaneignung des Menschen, des wahrhaft Menschlichen, auf einer neuen Ebene führen.

Auf dem Grund des Ich

e: Wie könnte diese neue Selbstaneignung aussehen?

RB: Es gibt vor allem die Grundtatsache eines sich selbst bewussten Bewusstseins. Diese kann man mittels der Argumente, die die meisten Transhumanisten anführen, gar nicht in Frage stellen, weil all diese Argumente einen selbstreflexiven Bewusstseinsprozess bereits voraussetzen. Ein Beispiel dafür ist die Aussage des führenden, wenn auch umstrittenen Transhumanisten Kevin Warwick, eines Professors an der Universität Reading, dessen Ziel es ist, möglichst schnell und mit möglichst wenig Umwegen zu einem Cyborg zu werden. Warwick sagt: »Es gibt kein Ich.« Aber wenn man diesen Satz genau untersucht, dann ist er zwar formallogisch richtig, weil er eine Aussage darstellt, ein Prädikat und ein Subjekt enthält. Wende ich aber die ontologische Logik an, die maßgeblich der deutsche Idealismus entwickelt hat, wo man nicht den Inhalt, sondern auch den Akt der Aussage in die Güte des logischen Gesamtprozesses einbezieht, dann ist er nicht richtig. Denn es stellt sich die Frage: »Wer sagt das?« Soweit wir heute rein empirisch wissen, kann nur ein »Ich«, das schon da ist, sagen: »Es gibt kein Ich.« Der Satz setzt schon einen bewussten Ich-Prozess voraus. Damit aber hebt sich der Satz, während er gesprochen wird, selbst auf. Denn er lautet eigentlich: »Ich sage euch, es gibt kein Ich.« Dieser Satz ist logisch unmöglich.

e: Welche Schlüsse lassen sich aus diesem Experiment ziehen?

RB: Wenn man rein empirisch vorgeht, kann man beobachten, dass die Physiologie, die algorithmischen Hirnprozesse einen zentralen Anteil am Prozess des Bewusstseins haben. Wenn ich hirntot bin, spreche ich in der Regel keinen Satz, der mit »Ich« beginnt. Andererseits kann man aber nach heutigem Stand der Forschung nicht einfach sagen, das »Ich« ist deshalb nur ein Sekundär­effekt des Gehirns. Denn, um das zu sagen, muss ein »Ich« schon da sein. Das Bewusstsein scheint eher etwas, das einerseits aus sich selbst hervorgeht, und andererseits nicht. Das Bewusstsein ist seiner Natur nach auf jeden Fall auch ein »An-sich-Selbst«, das als solches nicht einfach kausal auf etwas anderes zurückgeführt werden kann. Das sollte uns zu denken geben. Davon ausgehend müssten wir neu und frisch fragen: Was ist eigentlich ein Mensch?

Verbirgt sich im Menschen eine transzendentale Dimension? Oder wie RamanaMaharshi ausdrückte: »Finde den Punkt, von dem aus alles aufsteigt, von dem das Ich aufsteigt.« Das Ich steigt offenbar aus einem Punkt auf, der noch nicht »psychisch ist«, sondern, um es so zu sagen, die Ich-Begabung oder Ichheit selbst darstellt. Eine überindividuelle Befähigung. Etwas, von wo aus das Allgemeinste das Individuellste wird – und von wo aus im Individuellsten auch erst das Allgemeinste als Wirklichkeit erscheinen kann. »Etwas«, das sich sehr real anfühlen kann. Zu solchen Wahrnehmungen kann man kommen, wenn man sich auf den eigenen Bewusstseinsprozess konzentriert. Das ist eine humanistische Dimension, die auch in allen Übungen der klassischen Traditionen säkularer Spiritualität in Europa eine zentrale Rolle spielt: das Innewerden des eigenen Bewusstseinsprozesses und seine Begründung in einem Urgrund, der ebenso subjektiv wie objektiv ist, oder in dem subjektiv und objektiv zusammenfallen.

Davon ausgehend gibt es auch einen Durchbruch nach außen, bei dem es letztlich um Liebe geht: Wo ich am meisten ich selber bin, bin ich du. Wo wir am Individuellsten und am meisten wir selbst sind, sind wir eigentlich der andere. Das ist der Ursprung einer ebenso persönlichen wie gesellschaftlichen Liebe, wo der Humanismus erst die Menschenrechte hervorbringt, die Gemeinschaft bildet oder Werte wie Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit proklamieren kann. Die Einsicht in die Liebe als der Individualität des Ich-Bewusstseins eingebildetes (das heißt, im wahrsten Sinn des Wortes informiertes) Weltwesen führt dazu, dass diese Werte in der Französischen Revolution als drei Ausdrucksformen derselben Verinnerlichung zum Durchbruch kommen – und die Demokratie als Form gesellschaftlicher Liebe gestalten konnten. Also, wie wir sehen, gibt es sehr vieles in unserem Menschsein, das gesellschaftliche Auswirkungen hat, was Computer nicht können und wo derzeit auch keine Anzeichen bestehen, dass Algorithmen dies von sich aus kreativ nachbilden können. Reduktionistische Aussagen über die Zukunft des Menschseins können wir nur treffen, wenn wir das Menschsein selbst reduktionistisch betrachten. Und das können wir nur, wenn wir uns selbst kleiner machen, als wir sind.

Widerstand gegen den Reduktionismus

e: Mit diesen tieferen Dimensionen des Menschseins im Blick: Was können wir angesichts des Aufstiegs dieser technologisch reduktionistischen Ideen tun?

RB: Wir müssen wieder sauber empirisch an unserem eigenen Bewusstsein entlang denken lernen, um mit der maschinellen Intelligenz umzugehen. Die maschinelle Intelligenz versteht Logik, die unabweisbar ist; sie versteht aber keine Ethik. Besonders wichtig ist, dass wir uns wieder stärker auf das Mit-Menschliche konzentrieren. Wenn die Maschinen uns einen Großteil vergleichender Logikarbeit abnehmen werden, wichtige Leistungen erbringen, unser Leben verlängern und angenehmer machen, uns vernetzen und damit möglicherweise dazu beitragen, in der He-rausbildung der sogenannten, von der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts ersehnten gemeinsamen »Noosphäre« (Erkenntnisraum) der Menschheit Fortschritte zu machen, wo jeder Gedanke von jedem anderen mitgedacht werden kann – was bleibt uns Menschen dann noch zu tun übrig?

¬Die meisten Transhumanisten streben mittels Technisierung des Menschen nach einem reinen selbstbewussten Geist, der dazu fähig wird, sich vom Körper abzutrennen. ¬

Was für den Menschen dann noch übrig bleibt, ist der andere Mensch. Das heißt, das Einzige, was wir künftig noch »bearbeiten«, der einzige Gegenstand, der für den Menschen übrig bleibt, ist der andere Mensch. Wenn das der Fall ist, dann werden wir möglicherweise über den Umweg der universalen Technologisierung dem anderen Menschen in seiner vollen Würde, seiner vollen Gestalt begegnen.

Wir sehen aber – konkreter und unmittelbarer – heute auch, dass es gegen die rein technologischen Visionen einen Widerstand gibt: von Bürgerinitiativen, nachdenklichen Menschen, spirituellen Traditionen. Der Widerstand gegen die Entmenschlichung des Menschen durch automatisierte Technologie wächst. Es gibt auf der einen Seite große propagandistische Bewegungen mit sehr viel Geld und sehr viel politischer Macht, die uns erklären wollen, dass der zukünftige Mensch halb Maschine sein sollte. Ich sehe nicht ein, warum an Menschenrechten und Demokratie orientierte Zivil­gesellschafter dagegen nicht andere Argumente ins Spiel bringen sollten, um mehr Vorsicht und eine andere Geschwindigkeit einzufordern.

Das Gespräch führte Thomas Steininger.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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