Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 31, 2019
Ruth Langford kommt aus der viele Jahrtausende alten Tradition der Aborigines Tasmaniens. Ihre Vorfahren überlebten zwei Eiszeiten und glaubten zutiefst an die Regenerationsfähigkeit unserer Erde, trotz aller offensichtlichen Zerstörung. Wie sieht der Blick, der bis zu den Anfängen der menschlichen Geschichte zurückreicht, die weitere Entwicklung des Göttlichen?
evolve: Du stammst aus einer lebendigen Tradition, die weiter zurückreicht als jede Religion der Welt. Verstehst du die Weltsicht und Lebenspraxis, mit der und in der du lebst, als Religion?
Ruth Langford: Es ist unser Geburtsrecht als Menschen, in Verbindung zu sein, uns zugehörig zu fühlen und zu verstehen, dass wir im Ganzen eine wichtige Rolle innehaben. Zu diesem Geburtsrecht gehört auch die Fähigkeit, aus allen uns zugänglichen Quellen der Weisheit zu schöpfen. Religiöse Systeme können uns dieses Geburtsrecht zugänglich machen oder sie können dazu genutzt werden, es zu ersticken. Nach dem Verständnis der Aborigines leben wir in einer neuen Zeit, die als die Pause zwischen Ein- und Ausatmen bezeichnet wurde. Seitdem sich die Menschheit ihres Menschseins bewusst wurde, entstand in uns das Wissen, dass wir als das Eine verbunden sind. Während der letzten Jahrtausende haben wir uns von diesem Wissen entfernt. Weltweit haben wir uns in Stämme aufgespalten, in tektonische Platten, in Länder und Staaten. Das war das große Ausatmen in Richtung Unterscheidung und Trennung. Religion ist nur eine Manifestation dieser vielfältigen Formen von Trennung.
Wir können beobachten, wie die Religionen in den vergangenen fünf- bis zehntausend Jahren die Trennung als Konzept der Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht haben und sich dies in unterschiedlichen Formen zeigte. Der Große Kosmos hat sich auf diese Weise entfaltet. Aber es führt die Menschheit auch an diesen Punkt der Krise, wo die Menschen die beschränkte Sichtweise einer einzelnen, separaten Religion tatsächlich glauben. Wir verstehen nicht mehr, dass wir multidimensionale Wesen mit vielschichtigen Wahrheiten sind und dass es in Wirklichkeit nur das Eine gibt. Wenn wir die Oberfläche anschauen, sehen wir diese große Trennung. Aber wir können in eine andere Wirklichkeit eintauchen, in diese Pause vor dem großen Einatmen, bevor wir uns wieder mit dem Wissen verbinden, dass wir multidimensionale spirituelle Lebensformen in dem Einen sind.
Diese Lehren erhielt ich schon als junge 23-jährige Aktivistin. Ich spürte, dass die Welt sich ändern muss, weil alles im Chaos versinkt. Doch die Ältesten meiner Tradition sagten mir, dass ich nur die Oberfläche sehe. Wenn ich tiefer blickte, könnte ich sehen, dass wir uns in dieser Zeit befinden, in der das Netz der Menschheit wieder zusammengeknüpft wird. Die Lieder, die wir singen, stammen aus allen Teilen der Welt, wir tanzen Tänze von überall her auf dem Globus. Es gibt diese andere Wirklichkeit, die tatsächlich auf dem ganzen Planeten wirkt, um uns an die Verbundenheit zu erinnern. Die machtvollste Manifestation dieser Wiederverbindung ist die Tatsache, dass wir Kinder mit gemischter genetischer Herkunft gebären. Diese genetischen Abstammungslinien kommen zusammen und manifestieren sich physisch in den Kindern.
Religionen und spirituelle Ideen manifestieren sich ebenfalls in dieser neuen Weise der Wiederverknüpfung. Vielfältige Strömungen und Ideen, die in unseren Religionen weitgehend getrennt erschienen, kommen nun zusammen. Ich war bei Versammlungen, wo man ein Didgeridoo zusammen mit einer tibetischen Klangschale hören konnte. Die Menschen sitzen zusammen und erleben die Verbindung zu unterschiedlichen Gottheiten, die nicht zu ihrer ursprünglichen Abstammungslinie gehören. Wir wissen, dass wir in dieser neuen Zeit leben. Es gibt die neue Ausformung alter Weisheiten, die eine neue Art von Ursprünglichkeit für diese neue Zeit erweckt und uns auf das Einatmen vorbereitet. Wir sind noch nicht im Einatmen, aber die Vorbereitung dazu läuft im gegenwärtigen Moment.
e: Kannst du erklären, was du mit »einer neuen Art von Ursprünglichkeit « meinst?
RL: In vielen Prophezeiungen und Zeremonien sehen wir das Erwachen des Mysteriums. Verborgene schöpferische Wesen, Gedankenformen, spirituelles Wissen oder uralte Geheimnisse überall auf der Welt, die bislang überwiegend im Schlummer lagen, erwachen. Sie lassen neue Formen der Wiederverbindung entstehen und bilden neue Formen des Dialogs, die die Ursprünglichkeit wieder erwecken werden. Wir sprechen von »Aboriginality«, der Weisheit der Aborigines, der indigenen Völker, um damit den ursprünglichen Weg zu beschreiben, auf dem wir Menschen unser Geburtsrecht der Verbundenheit kennengelernt haben. Wir kommen nun in eine neue Zeit, in der wir eine neue Ursprünglichkeit erwecken werden. Es gibt keinen Weg zurück, wir können die uralten Traditionen nicht wieder aufnehmen, wir müssen unsere eigene Ursprünglichkeit finden.
e: Diese indigene Weisheit war also das ursprüngliche Erkennen unserer Verbundenheit als Menschheit.
RL: Sie ist die ursprüngliche Erkenntnis, dass es eine Dualität gibt: Ich bin ein Selbst, aber ich stehe immer in Verbindung. Das ist keine Abspaltung. Ursprünglichkeit ist eine Dualität, die in ein und derselben Form existiert. Es gibt indigene Völker, die heute noch diese Wahrheit leben, für sie gibt es keine Abspaltung. Nur während der ausgedehnten Epoche des Ausatmens haben wir uns vereinzelt. Deshalb existieren wir nicht als multidimensionales Wesen, wir sind nur ein Selbst.
e: Und die neue Ursprünglichkeit wird diese Verbundenheit auf neue Weise wiederbringen?
RL: Ja, aber wir sind noch nicht so weit, wir können also noch nichts definieren. Es ist ein Ganzes – nichts, das man konkret benennen kann, denn es ist erst noch im Entstehen. Meiner Ansicht nach werden uralte Prinzipien und die Vereinigung des Wissens der Urvölker mit der modernen Technik und der modernen Bewusstseinsforschung mit dem Ziel des Erwachens eine wichtige Rolle spielen.
WENN MAN EIN BLATT ANSIEHT, KANN MAN ES ALS GETRENNT BETRACHTEN, UND DOCH WÄCHST ES AM BAUM.
e: Mir scheint, es gibt eine neue Bewegung, die durch die Wiederverknüpfung dieser Mysterien und dieses Wissens möglich wird.
RL: In der Tat. Das Interessante an diesem neuen Zugang zur Religion ist, dass die meisten Weisheitstraditionen sehr strenge Regeln und Gesetze rund um die Initiation in die Mysterien hatten. Durch die moderne Technologie gibt es nun die Möglichkeit, das zu beschleunigen und aus mehreren Abstammungslinien zu schöpfen. Es ist eine unglaubliche Zeit, in der wir auf diesem Planeten leben, niemals zuvor hatten wir Zugang zu all diesem Wissen. Es ist, als ob der Ruf des Planeten in den Kosmos hinausschallt: »Bitte kommt und helft uns!« All die Weisheitstraditionen, all die Abstammungslinien sind gekommen und sagen: »Wir sind hier und werden euch so gut wir können helfen. Kommt und verbindet euch mit uns!« Dieser Wandel wird natürlich eine gewisse Zeit dauern, aber wir leben in einer optimistischen Zeit auf diesem Planeten.
e: Das ist faszinierend, denn viele Menschen würden sagen, wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Lage. Wir fügen unserer Mutter Erde ernsthaft Schaden zu, wir sind rücksichtslos und wir glauben so sehr an unser Getrenntsein, dass wir im Begriff sind, Lebensformen auszurotten, die von elementarer Bedeutung für das Weiterbestehen des Lebens auf diesem Planeten sind. Aber du hast dieses Gefühl nicht.
RL: Nein, keineswegs. Natürlich ist da eine tiefe Trauer angesichts all der Gräuel, die unserem Planeten widerfahren. Gleichzeitig spüre ich diese tiefe Resonanz einer unbegrenzten Hoffnung, die sich gerade entfaltet. Wir verlassen gerade den Zyklus der Apokalypse, aber auch das ist nur ein Blick auf die oberflächliche Realität. Ich lebe in einem Land und in einer Gemeinschaft, wo die Menschen zwei Eiszeiten überlebt haben. Wir wissen um die unglaubliche Regenerationskraft unserer Mutter und den Prozess von Tod und Wiedergeburt. Es ist nicht so, dass wir den gegenwärtigen Zustand der Welt nicht beklagen, es gibt Zeiten, da falle ich einfach auf die Knie vor Kummer. Aber es gibt dieses tiefe Wissen darum, dass wir auf die Periode des Einatmens zugehen.
Ein Beispiel: Letzte Woche habe ich an einem Forum teilgenommen, in dem es um Alphabetisierung und die Bedeutung von Kommunikation mit Herz und Verständnis ging. Der Leiter des australischen Justizvollzugssystems war anwesend, mehrere Minister, Ingenieure und viele andere Menschen, denen bewusst war, wie wichtig Freundlichkeit und Verantwortlichkeit sind, die aus dem Herzen kommen. Sie wussten um die Bedeutung der spirituellen Kraft, Menschen zu bewegen. Wir sprachen darüber, wie wichtig es ist, dass Kinder verstehen lernen, wer sie selbst sind – jenseits der Rolle, die sie in der Gesellschaft einnehmen werden.
e: Welche Qualitäten und Fähigkeiten siehst du in dieser neuen Ursprünglichkeit von Religion oder Spiritualität?
RL: Bei der verborgenen, im Erwachen begriffenen Weisheit handelt es sich um erdverbundene Praktiken, die die Hierarchien auflösen werden. Wissenstraditionen und Religionen setzen oft voraus, dass wir unsere Autorität an jemand oder etwas anderes abgegeben. Heute sehen wir eine neue Schwingung, ein Aufbrechen zur direkten Erfahrung. Unsere innere Weisheit, unsere Fähigkeit, dieser Ursprünglichkeit eine Stimme zu geben, spielt eine entscheidende Rolle.
In vielen indigenen Gesellschaften lebt die Überzeugung, dass jeder das Recht hat, der Weisheit der Wahrheit Ausdruck zu verleihen. Sie kann durch jeden beliebigen Menschen in die Welt kommen. Das ist eine eher flache Struktur, auch wenn wir Hilfe von den schöpferischen Wesen, den Ahnen oder Gottheiten bekommen können. Aber der innere Ausdruck kann von jedem von uns kommen. Nur wenige Religionen bringen diese Wahrheit zum Ausdruck. Die meisten Religionen haben eine Struktur entwickelt, die unser Wissen organisiert. In vielen der alten Traditionen, in der Weisheit der Urvölker geht es tatsächlich um diesen neuen Weg, demzufolge alle Lebewesen und alle Lebenskräfte wahre Ausdrucksformen des Lebens sind.
e: Wir unterscheiden zwischen Wissenstraditionen, die hierarchisch in den Religionen verankert sind, und jenem erdverbundenen Impuls, einem religiösen, spirituellen oder verbindenden Impuls, durch den jeder Mensch die Möglichkeit hat, der Wahrheit und Schönheit des Lebens Ausdruck zu verleihen. Denkst du, dass die Religionen noch eine Weisheit in sich tragen, die es zu vermitteln gilt, oder läuft ihre Zeit aus?
WIR SIND DIE KINDER DER ERDE UND WIR STEHEN AUF, WENN SIE UNS ZU HILFE RUFT.
RL: Ich kann nur aus dem antworten, was ich sehe, und es ist offensichtlich, dass diese Strukturen zerfallen und sich auflösen. Die Menschen hinterfragen diese Autoritäten. Ich war bei der australischen Kommission zur institutionellen Aufarbeitung der Fälle von sexuellem Missbrauch beteiligt. Die Mitglieder gingen davon aus, dass sich sexueller Missbrauch vornehmlich innerhalb der christlichen Kirchen ereignet. Aber wir haben festgestellt, dass sexueller Kindesmissbrauch in jeder religiösen Institution vorkommt. Innerhalb der hierarchischen Strukturen haben die Menschen nicht aufbegehrt, weil sie sich der Autorität unterordneten. Wer sie hinterfragte, wurde geächtet und verlor alles, er war ausgeschlossen. Die Kommission konnte zeigen, dass diese Struktur für schweres Leid verantwortlich war. Solche autoritären Strukturen dienen nicht den Kindern und ihren Familien. Deshalb gibt es viel Wut und Ablehnung. Ich denke, wir brauchen diese Ablehnung äußerer Autoritäten, um zu einer Autorität des Mysteriums im Innern zurückzufinden.
e: Das ist das Einatmen.
RL: Ja, es ist das Wissen, dass deine Weisheit nur eine Manifestation meiner Weisheit ist. Ich habe meine eigene Autorität, aber es gibt ein größeres, verbindendes Wissen, in dem, durch das und über das hinaus ich lebe.
VIELFÄLTIGE STRÖMUNGEN UND IDEEN, DIE IN UNSEREN RELIGIONEN WEITGEHEND GETRENNT ERSCHIENEN, KOMMEN NUN ZUSAMMEN.
e: Und einige von uns sind ein größerer Ausdruck für Aspekte dieses Mysteriums und wir respektieren das gegenseitig.
RL: Aber es geht nicht um »Ich habe Recht und du nicht!«
e: Genau. Es war vorhin sehr bemerkenswert, als du sagtest, dass dein Volk zwei Eiszeiten erlebt hat. Kannst du etwas mehr über deine Herkunft und dein Volk sagen? Denn die Geschichte Tasmaniens ist ziemlich brutal und doch gibt es dort einen sehr kräftigen Lebensimpuls in den indigenen Traditionen.
RL: In meiner Jugend habe ich von Aborigines-Familien, die an unserem Küchentisch saßen, viel über Abstammungslinien und die Geschichten über große Zerstörungen gehört. Ich habe auch stolze Geschichten über die Widerstandsfähigkeit und das Wissen unseres Volkes gehört. Diese Widerstandsfähigkeit kam aus dem Wissen, dass die Aborigines im südlichen Australien gut vernetzt sind. Wir haben zwei Eiszeiten überlebt, in denen das Eis das gesamte Land bedeckte und man über Landbrücken gehen konnte, die jetzt unterm Wasser verschwunden sind. Die alten Völker verstanden es, auf Veränderungen zu reagieren. Die Weisheitstraditionen und unser Verständnis haben uns die Fähigkeit gegeben, uns im Einklang mit der Mutter selbst zu bewegen, während sie diese Stadien des Übergangs durchläuft.
Wir sind die Kinder der Erde und wir stehen auf, wenn sie uns zu Hilfe ruft. Es ist für uns ganz natürlich, uns mit einem Felsen, einem Baum, einem Stern oder mit unseren Ahnen zu verbinden. In den vergangenen fünf oder sechs Generationen wurde dieses Wissen derart unterdrückt, dass Menschen ins Gefängnis kamen, nur weil sie ihre Sprache sprachen, oder gefoltert wurden, weil sie ihre Kultur ausübten. Ich habe das Glück, in einer Zeit geboren zu sein, in der meine Leute ihr Selbstbestimmungsrecht wieder einfordern. Bei uns gibt es nicht diese Trennung von der Mutter, als sei sie ein separates Wesen, wie im westlichen Verständnis. In unserer Vorstellung bin ich die Mutter, bin ich das Land. Es ist wie bei einem Baum: Wenn man ein Blatt ansieht, kann man es als getrennt betrachten, und doch wächst es am Baum.
e: Das ist eine ganz andere Orientierung als die, die das westliche Bewusstsein entwickelt hat.
RL: Ich denke, dadurch konnten wir diese Wachstums- und Veränderungsprozesse der Erde überleben. Wir verstehen, dass wir mit etwas viel Größerem verbunden sind. Der Westen dagegen sucht nach Lösungen auf der Grundlage unserer Fähigkeit, uns aus dem Zusammenhang dieser Dinge herauszudenken. Das ist lächerlich. Wenn wir eine ökologische, die Umwelt schützende Nachhaltigkeit entwickeln wollen, brauchen wir ein spirituelles Erwachen. Wir müssen unsere Beziehungen neu verstehen lernen. Wir können aktiv den Ruf beantworten, auf diesen Impuls reagieren und die natürlichen Wege beschreiten, wo unser empfindsames Wesen einfach weiß, wie wir leben können. Wir wissen, dass wir die Verbindung zu unseren Ältesten wieder aufnehmen und auf ihre Stimme hören müssen. Wir wissen, dass wir von den fossilen Brennstoffen loskommen müssen. Da können wir uns keine Apathie leisten. Wenn der Impuls auf eine entsprechende Motivation zum Handeln trifft, können wir den Grund für diese neue Wirklichkeit bereiten. Ich kann unmöglich etwas über den Zeitrahmen für diese Prozesse sagen, denn ich bin immer wieder erstaunt, wie schnell sich im Erwachen der Ursprünglichkeit positive Möglichkeiten eröffnen.