Die Schönheit leben

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 31, 2019

Featuring:
Pir Zia Inayat Khan
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Ausgabe 21 / 2019:
|
January 2019
Die Zukunft der Religion
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Die Sehnsucht und das Unbeschreibliche

Pir Zia Inayat Khan steht in der Tradition des Sufismus, der Mystik des Islam. Als moderner Mystiker reflektiert er über die Rolle unserer religiösen Sehnsucht in einer säkularen Gesellschaft. In diesem Interview beleuchtet Pir Zia die gegenwärtige Lage der Religion und spricht über die überraschende Rolle der Schönheit in einer zunehmend säkularen Gesellschaft, in der wir uns weiterhin nach dem Unbeschreiblichen sehnen.

evolve: Welche Rolle spielt Ihrer Ansicht nach heute die Religion in der säkularen westlichen Gesellschaft?

Pir Zia: Wir sehen, dass in den säkularen Gesellschaften die institutionalisierte Religion an Einfluss verliert. Gleichzeitig gibt es weiterhin, und ich glaube, das wird immer so sein, eine Anziehungskraft des Heiligen als eine Erfahrung des Lebens, die über das rein Rationale hinausgeht und das tiefere Mysterium respektiert, in das wir alle eingebettet sind.

Wir alle profitieren von den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft und nutzen sie zu unserem Vorteil. Aber wir spüren intuitiv, dass es eine Dimension des Lebens gibt, die die Wissenschaft nicht erfasst. Das ist die Erfahrung der inneren Dimension des Kosmos und unsere eigene innere Erfahrung dieser Dimension, die wir in Momenten der Glückseligkeit erleben. Diese Erfahrung vertieft sich durch Hingabe und kontemplative Konzentration auf Inhalte, die subtile Erkenntnisfähigkeiten wecken.

Obwohl viele Fragen über die Natur der materiellen Welt zunehmend von der Wissenschaft beantwortet werden, bleibt ein Bereich, in dem Inspiration unersetzbar ist. Religion hat das Potenzial, die Türen zur Inspiration zu öffnen. Auch wenn institutionelle Formen an Einfluss verlieren, nimmt die Anziehungskraft dessen, was durch Inspiration erfahren werden kann, nicht ab, sondern wird nur noch größer.

DIE GESAMTHEIT DER HISTORISCHEN ERSCHEINUNGSFORMEN DES GEISTES BILDET EINE EINZIGE WELTWEITE OFFENBARUNG.

Das Prinzip des Organischen

e: Je weniger Antworten unsere Gesellschaft auf diese tieferen Fragen hat, desto stärker scheint die Sehnsucht nach dem Unbeschreiblichen zu werden. Was wird durch diesen andauernden religiösen Impuls in uns Menschen entstehen?

PZ: Es scheint immer mehr in Richtung einer direkten Erfahrung zu gehen. Einige der Bedürfnisse, die in früherer Zeit von religiösen Institutionen erfüllt wurden, werden heute durch Demokratie, Wissenschaft und die verschiedenen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft abgedeckt. Das heißt, dass die Religion ihre Energie auf das Wesentliche fokussieren kann, nämlich die direkte Beziehung zwischen dem Menschen und dem Absoluten, und die Kultivierung dieser Beziehung mit Methoden der Reflexion und Praxis, die die Unmittelbarkeit dieser Erfahrung verstärken. Deshalb wird die Konstruktion einer religiösen Identität – einer kollektiven Identität, die auf einer religiösen Ideologie basiert – nicht mehr so wichtig sein.

Denn der wirkliche Beitrag der Religion ist nicht die Identitätspolitik für bestimmte Gruppeninteressen, sondern die mystische Transformation der Identität. Dies wird möglich durch das völlige Umstülpen unserer Persönlichkeit, indem wir unser Eingebettetsein nicht nur in einer sozialen Gruppe, sondern mehr und mehr in der Erde, im Kosmos und schließlich im göttlichen Mysterium entdecken.

e: Wie muss sich die säkulare Gesellschaft wandeln oder was muss in unsere Kultur eingebracht werden, um diesen tieferen Dimensionen jenseits der Identität Raum zu geben?

PZ: Das neu entstehende Paradigma unserer Zeit ist das Verstehen des Organischen. Wenn wir das Wesen des Körpers tiefer verstehen, dann erkennen wir, dass unser Körper ständig Materie aus der Umgebung in sich aufnimmt, die in seine Substanz integriert wird. Wenn wir unseren eigenen Körper betrachten, sehen wir eine Form, die an einer bestimmbaren Grenze endet: Das Äußere ist das andere, das Innere bin ich. Aber bei tieferer Reflexion erleben wir den Körper als einen Wirbel, in den die ganze Umgebung hinein- und wieder herauswirbelt. Das trifft für jede Ebene unseres Seins zu, für unseren Geist, unser Herz und unsere Seele.

Wir müssen uns nicht auf eine Leugnung des Körpers zurückziehen, um uns auf den Flug zur reinen Seele zu begeben und den Egoismus zu transzendieren. Stattdessen können wir unsere gegenseitige Abhängigkeit erkennen. Denn genauso wie ein Körper viele Teile beinhaltet, die unterscheidbar sind und gleichzeitig harmonisch zusammenarbeiten, beschreibt das Prinzip des Organischen unseren Platz in der Welt und im Kosmos. Wir sind alle ein eigenes Wesen, aber dieses Eigensein muss uns nicht vom größeren Ganzen trennen. Tatsächlich ist es die Natur des Organischen, dass das Ganze durch die Harmonie der verschiedenen Teile bereichert wird.

Shirin Abedinirad
Von den Tönen zur Symphonie

e: Sehen Sie das gleiche Prinzip des Organischen und Holistischen in der spirituellen Weisheit, die wir von den verschiedenen Traditionen auf dem Planeten erhalten haben?

PZ: Mein Großvaters Hazrat Inayat Khan sprach von den verschiedenen Religionen als klare und wahre Töne. Aber erst, wenn alle Töne zusammen erklingen, hört man Musik. Um diese Musik zu hören, ist es notwendig, dass jeder Ton seine eigene Tonart erklingen lässt. Wenn alle Töne auf die gleiche Tonart gestimmt wären, dann gäbe es keine Musik. Deshalb müssen wir die Vielfalt der Religionen nicht beklagen. Aber wenn man die eigene Religion für absolut richtig und die anderen für absolut falsch hält, kann man nur einen Ton hören. Wenn man die Musik aller Töne hören kann, offenbart sich die große planetare Symphonie der himmlischen Sphären, die unser Menschsein durchdringt und ihre Musik durch alle Zeiten hindurch erklingen lässt.

e: Die säkulare Kultur scheint ihre Fähigkeit verloren zu haben, uns zu verbinden und uns mit geteilten Werten zusammenzuhalten. Sie deuten auf etwas hin, das in der Kultur als Ganzes wirksam sein kann. Wie können wir uns in diese Richtung bewegen?

PZ: Oftmals nehmen religiös Gläubige die Offenbarung – die Übermittlung der göttlichen Allgegenwart durch die Propheten – so ernst, dass sie andere spirituelle Offenbarungen ausschließen. Im Gegensatz dazu nimmt der säkulare Verstand keine dieser Offenbarungen ernst und räumt ihnen allen einen Platz ein. So haben wir also zwei Paradigmen, von denen eins Religion äußerst ernst nimmt, aber auf eine ausschließende Weise, während das andere sehr offen und kulant ist, Religion aber überhaupt nicht ernst nimmt. Mir scheint, dass wir das Gemeinsame oder das Beste aus beiden Welten brauchen. Das bedeutet, Offenbarungen wirklich ernst zu nehmen, sich ernsthaft mit dem Sinn für das Heilige in der menschlichen Geschichte zu befassen und damit, wie er sich in unserer Zeit weiter entfaltet – aber nicht auf eine fragmentierende Weise, sondern holistisch. Darin erkennen wir, dass die Gesamtheit der historischen Erscheinungsformen des GEISTES eine einzige weltweite Offenbarung bildet.

IN SEINER ESSENZ BEDEUTET ETHISCHES HANDELN DIE KULTIVIERUNG VON SCHÖNHEIT IM EIGENEN VERHALTEN.

e: Wie können wir auch für die Menschen, die sich keiner Religion oder Spiritualität verbunden fühlen, einen Zugang zu dieser Ganzheit finden? Wissenschaftler zum Beispiel sprechen immer wieder über Ehrfurcht und Schönheit, die sie in ihrer Arbeit erfahren.

PZ: Sie betonen hier die Schönheit. Ich glaube auch, dass Schönheit eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Religion ermöglicht. Schönheit verbindet auch die ethische Seite der Religion, die sich mit unserem Verhalten befasst, mit der theologischen Seite, bei der es um unsere Wahrnehmung von Gott geht. In seiner Essenz bedeutet ethisches Handeln die Kultivierung von Schönheit im eigenen Verhalten. Dieses Verständnis geht über das formale Verständnis von Gesetzen hinaus. Das höchste moralische Handeln entsteht nicht durch das, was im Gesetz steht, sondern ist vielmehr durch Schönheit inspiriert – von dem, was am anmutigsten ist, am feinsten, was uns und andere am ehesten glücklich macht.

Es ist dieser Sinn für Schönheit, der uns dazu inspiriert, Gott immer tiefer zu erkennen. Dann wird Theologie zum Streben nach vollkommener Schönheit. Im Hadith heißt es: »Gott ist schön und liebt die Schönheit.« Nach diesem Verständnis ist der Sinn der Religion das Verstehen der Schönheit Gottes und ihr Ausdruck auf der Erde. Da Schönheit viele Formen annehmen kann, ist diese Art des Seins nicht einschränkend. Jeder Augenblick bietet eine neue Möglichkeit, eine weitere steigende Welle des Unaussprechlichen in seiner Manifestation zu erfahren und darauf zu antworten.

Eine Kultur der Schönheit

e: Und diese Wertschätzung von Schönheit ist keine individuelle Antwort, richtig?

PZ: Nein, im Gegenteil. Schönheit ist die Frucht von Harmonie. Mein Großvater sprach oft von Liebe, Harmonie und Schönheit: Liebe erzeugt Harmonie und aus Harmonie geht Schönheit hervor. Schönheit kann also nicht in Isolation verwirklicht werden. Schönheit offenbart sich durch Harmonie, durch unser Zusammenwirken mit anderen, mit dieser lebendigen Welt, wenn wir ihr im Geist der Liebe begegnen.

e: Das bedeutet, dass Menschen, die sich gemeinsam darauf einlassen, eine tiefere Bedeutung von Kultur aufzeigen könnten.

PZ: Ja, stellen Sie sich vor, dass das mehr und mehr unsere gemeinsame Arbeit wäre: in jeder Situation Schönheit zu erschaffen. Am Beginn des Lebens, am Ende des Lebens, in der Erziehung, im Beruf, in der Regierung, in der Religion – und Schönheit wäre immer die Absicht, die sich im Handeln ausdrückt. Dann würden wir unseren Geist immer klarer mit der göttlichen Absicht verbinden, die sich in dieser Welt ausdrückt.

e: Dieses Streben nach Schönheit verfeinert sich immer mehr. Es bringt uns in eine tiefere Resonanz mit dem Leben, die eine Qualität zu sein scheint, die zwischen uns lebt.

PZ: Ja, das Streben nach Schönheit ist ein endloser Prozess. Schönheit ist etwas, das man nie erfassen, behalten oder eingrenzen kann. Sobald man versucht, sie zu besitzen, zu kategorisieren oder zu analysieren, entzieht sie sich dem Zugriff und verschwindet. Sie ist immer am Horizont, nie vollständig hier, schwebt immer gerade in Sichtweite. Wir nähern uns ihr und sehen etwas. Aber dann entweicht sie zu einem noch ferneren Horizont. Sie ist immerfort schöpferisch, erneuernd und endlos offenbarend. Und in diesem Prozess wird durch die Begegnung das eigene Sein verändert.

e: In diesem Prozess gibt es ein immerwährendes Verfeinern und Öffnen.

PZ: Genau. Erweiterung und Verfeinerung. Um diese Verfeinerung zu verstehen, können wir betrachten, wie sich Liebe entwickelt. Am Anfang fühlt man sich körperlich zu jemandem hingezogen, und wenn die Liebe wächst, liebt man die Persönlichkeit, den Charakter. Man sieht die Güte im anderen, die das wirklich Liebenswerte ist. Die Persönlichkeit des Menschen kann sich über die Jahre verändern, aber man lernt, die Seele zu bezeugen und zu lieben. Damit will ich veranschaulichen, dass unsere Aufmerksamkeit in dieser Welt anfangs sehr äußerlich ist. Aber im Laufe der Zeit entdecken wir feinere Ebenen von Schönheit: Schönheit des Geistes, Schönheit des Herzens, Schönheit der Seele.

Religion kann Bilder, Musik und Rituale schaffen, die äußerlich schön sind, aber ihre eigentliche Aufgabe besteht darin, die subtilere Schönheit ans Licht zu bringen, die eine Schönheit des Bewusstseins und eine Schönheit des Herzens ist. Wenn wir uns in diesem Raum begegnen können, und wenn die Schönheit des Herzens so spürbar wird, wie das, was unsere äußeren Sinne wahrnehmen können, dann kommt der Himmel auf die Erde.

e: Transzendenz wird dann ein kulturelles Projekt von Schönheit und die Grundlage für unterschiedliche Möglichkeiten, um den religiösen Impuls zum Ausdruck zu bringen, ohne die verhängnisvolle Trennung zwischen religiöser Identität und säkularem Verstand.

PZ: Ich glaube, diese Bewegung geht in beide Richtungen. Einerseits gibt es das Transzendieren der Form ins Formlose, die Bewegung der Liebe unter die Oberfläche zur Essenz – das Bezeugen des Unsichtbaren. Das ist eine Bewegung der Aufmerksamkeit.

Aber dann ist auch die gegenläufige Bewegung wichtig: die Rückkehr aus dem Unsichtbaren in die Form. Aber jetzt ruht die Form auf der Grundlage der Formlosigkeit. Hier werden Kreativität und Erneuerung möglich: Es entstehen neue Formen, die durch die innere Erfahrung inspiriert wurden.

Das heilige Buch der Natur

e: Wo sehen Sie solche Möglichkeiten der Erneuerung in der Religion?

PZ: Eine große Veränderung, die wir heute sehen können, ist die volle Beteiligung von Frauen in allen Aspekten von Religion und Spiritualität. Mein Großvater war ein Pionier dieser Entwicklung im Sufismus, indem er Frauen in die höchsten Autoritätsebenen des Ordens initiierte. Er sagte: »Ich sehe so klar wie das Tageslicht, dass der Tag kommen wird, an dem die Frauen die Menschheit auf eine höhere Stufe ihrer Evolution führen werden.«

Auch die Bedeutung der Erde, der Tiere, der Pflanzen und der Lebenssysteme auf unseren Planeten können wir heute nicht mehr als selbstverständlich ansehen. Die große Herausforderung und die große Möglichkeit für Religion bestehen heute darin, bei allen Fragen, die unsere menschliche Zukunft betreffen, auf die lebendige Matrix, die uns erhält, zu achten. In einigen Formulierungen in den Lehren der Religionen sehen wir eine Missachtung der natürlichen Welt. Unser natürlicher Zustand wird als gefallen verstanden, verglichen mit der Heiligkeit eines weit entfernten Himmels. Diese Sichtweise erniedrigt unsere Verkörperung, die Natur und die Erde.

Das ändert sich und muss sich auch ändern. Wir verstehen, dass die Seele nicht nur dadurch entdeckt werden kann, dass man den Körper verlässt, sondern indem man ganz in seine Tiefen eintaucht. Die ethischen Prinzipien, die die Religion bezüglich der Beziehungen der Menschen untereinander formuliert, beziehen sich auch auf das Verhältnis aller Organismen zueinander. Der Klimawandel und die vielen Verwüstungen, die unser Lebensstil in der Natur angerichtet hat, verlangen von uns entschlossene Antworten, die wir nicht nur durch Technologien finden. Im Grunde muss diese Antwort aus einer neuen Kosmologie und einer neuen Begegnung mit dem Geist der Erde entstehen.

e: Wie versöhnen oder integrieren Sie den religiösen Impuls zur Transzendenz mit einer Spiritualität der Erde, wie sie oft in indigenen Gesellschaften praktiziert wurde?

WIR SIND ALLE EIN EIGENES WESEN, ABER DIESES EIGENSEIN MUSS UNS NICHT VOM GRÖSSEREN GANZEN TRENNEN.

PZ: Der Koran sagt: Selbst wenn alle Bäume Stifte wären und der Ozean zu Tinte würde, wären die Worte Gottes nicht ausgeschöpft. Tatsächlich sind alle biblischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam sowie die Vedischen Traditionen – »Religionen des Buches«. Viele Religionen entstanden aus der Offenbarung in Büchern, während die indigenen Traditionen keine Religionen des Buches sind, sondern Religionen des »heiligen Buches der Natur«, um meinen Großvater zu zitieren.

Die Religionen des Buches und die indigenen Traditionen können zusammenkommen, indem sie anerkennen, dass die Natur selbst eine Offenbarung ist, die uns dazu auffordert, sie als solche zu studieren. Ja, wir können die Natur empirisch erforschen durch Beobachtung der Interaktionen zwischen Organismen und Teilchen usw., aber gleichzeitig können wir sie als eine Offenbarung wertschätzen. Wir können die Natur als eine Verkündigung der göttlichen Natur erfahren, die uns in jedem Moment durch unsere Sinne, durch unser unmittelbares Eingebettetsein in dieses lebendige Universum erreicht, und wir können davon erleuchtet werden und uns davon verwandeln lassen.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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