Tod mit Wiedergeburt
Das Schumacher College wird »ausgewildert«
January 16, 2017
Die Krisen unserer Zeit und die damit verbundene Unsicherheit verleiten viele Menschen dazu, sich auf getrennte, sicher erscheinende Identitäten zurückzuziehen. Liebe war immer die Kraft, die uns über diese Trennung hinausträgt. Wir haben fünf Liebende gefragt:
Wenn ich in mir nach »Liebe in unserer Zeit« lausche, kommt zuerst das Wort »wohlwollende Aufmerksamkeit« – und zwar nicht nur gegenüber den Teilen in mir, die sich nach Verbundenheit sehnen, sondern auch gegenüber jenen, die ich ausschließen möchte, um mich vermeintlich verbunden fühlen zu können. Halte ich nicht innerlich Abstand von Menschen, die sich mit einfachen Antworten begnügen? Halte ich auch Abstand zu dem Anteil in mir, der wüten möchte, ausbrechen und unseren etablierten Parteien die Schaffensplattform entziehen will? Der Verstehen und Recherchieren beenden und einfach abwählen will? Bin ich vertraut mit meiner wütenden Ohnmacht gegenüber dem bestialischen Morden in Syrien und den darin wirkenden kalt berechnenden Wirtschaftsinteressen, für die Menschenleben nicht zählen? Kann ich dafür in mir Aufmerksamkeit finden, in Beziehung dazu treten? Kann ich den Populisten in mir befragen, was er wirklich will?
Liebe bedeutet auch, da intim mit mir zu sein, wo meine Sehnsucht neue Antworten braucht. Ich spüre in mir und in unserer Zeit eine Sehnsucht nach Echtheit. Und nach einer neuen Art von Beziehungskultur, die wieder mehr Präsenz und Zugehörigkeit bietet, aber gleichzeitig die innere Autonomie nicht wieder beschneidet. Von da aus ist Liebe die Fähigkeit, Spannung halten zu können zwischen Bezogenheit und Selbstbestimmtheit, zwischen Sehnsucht und Erfüllung. Denn auch da gibt es keine einfachen Antworten. Aber wenn wir die Spannung halten, entsteht in uns – Liebe.
Liebe ist nicht nur ein Gefühl. Liebe ist eine Qualität des Seins. Die griechische Philosophie und die christliche Theologie sehen in der Liebe den Grund allen Seins. Alles ist von der Liebe durchdrungen. Und die Liebe ist eine Quelle von Kraft, aus der wir schöpfen können. Die Mystiker sagen uns, dass auf dem Grund unserer Seele Liebe strömt wie eine Quelle, die nie versiegt.
Gerade in unserer Zeit, in der der Hass auf andere Menschen hoffähig geworden ist, in der man öffentlich seinen Hass propagieren darf, ist es umso wichtiger, sich auf die Quelle der Liebe zu besinnen. Unsere Welt kann nur überleben, wenn sie aus der Quelle der Liebe lebt. Die Liebe ist erfahrbar als Verbundenheit. Und nur dort, wo Menschen miteinander verbunden sind, entwickeln sie die nötige Kreativität, um die Probleme dieser Welt angemessen zu lösen. Wer in der Meditation in den Grund seiner Seele gelangt, fühlt sich eins mit allen Menschen. Und nur aus dieser Erfahrung der inneren Einheit her gelingen uns die Wege zu einem friedlichen Miteinander. Ich kann nicht gegen den kämpfen, mit dem ich mich im Innersten verbunden fühle.
Ich gieße meine Orchidee und spüre eine liebevolle Zärtlichkeit. Ich bin tief berührt, während ich einem englischen Politiker zuhöre, wie er leidenschaftlich mein Europa als eine Erfolgsgeschichte vertritt. Ich bin staunend ergriffen beim Blick in den nächtlichen Sternenhimmel. Und immer hat es mich fasziniert, wie die Welt sich verändert, wenn ich zu einem Menschen sage: »Ich liebe Dich!« Nicht nur dieser konkrete Mensch erscheint mir in diesem Moment einzigartig und liebenswert. Die ganze Welt wird lichtvoller, lächelt mir zu, erfüllt mein Herz und macht mich weit. Und gleichzeitig bin ich mir selbst nie näher, als in diesem Augenblick. Das Wunder ist diese Tiefe und Weite, die nichts ausschließt, und die untrügliche Gewissheit, dass alles miteinander verbunden ist. Ich glaube, dass dies das Wesen der Liebe ausmacht, dass sie verbinden will, dass sie fähig ist, Grenzen und Unterschiede zu über-steigen.
Dieses Wesen ist für mich am trefflichsten im trinitarischen Gottesbild ausgedrückt, von dem gesagt wird, dass Gott Liebe ist: Der Urgrund, der nicht bei sich bleiben mag, schafft sich ein Gegenüber, erkennt sich in ihm und liebt. Und diese Liebe, »das Zwischen«, ist unendlich schöpferisch, fließt über und bringt neues Leben hervor, eine Urdynamik, die unsere Wirklichkeit spiegelt. Deshalb kann Teilhard de Chardin von dieser Liebe sagen, dass sie die universellste, die ungeheuerlichste und die geheimnisvollste der kosmischen Energien ist. Wer liebt, nährt das Energiefeld Leben, und das wird letztlich stärker sein als Hass und Zwietracht – auch in allen Übergängen, Unruhen und Spaltungen unserer Zeit.
Liebe ist nicht vorgegeben. Sie ist Aktivität, die wir uns erarbeiten durch die Intention von Wille. Um den Willen einzusetzen – um zu lieben – ist Freiheit nötig. Freiheit entsteht durch die Bildung von Originalität, Individualität, Kreativität (auch in gebundenen und schwierigen Umständen). Freiheit ist ein innerer Zustand, ein Impuls, der uns Menschen als wichtigstes Gut innewohnt, ein Drang, stärker noch als Liebe. Somit ist Liebe keine vorgegebene Grundlage, sondern etwas, was als Zukünftiges der Mensch erst erringen kann, wenn er Freiheit als Maß von Verantwortlichkeit verstanden hat.
Cordula Frei, Autorin, Publizistin, Voice-Dialogue-Lehrerin und Dozentin.
Liebe gilt im Buddhismus als eine Haltung der Freundlichkeit und des Wohlwollens, für uns und andere, für nahe und ferne Menschen, ja für alle Wesen und für die Welt, in der wir leben: »Mögen alle Wesen glücklich sein.« Bei diesem schlichten Wunsch schwingen drei weitere Haltungen im Hintergrund mit: Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Das kleine Wunschgebet enthält einen vierfachen klugen Rat für alle Lebenslagen. Wenn die Dinge gut laufen, wünschen wir uns und allen Glück und Freude und sind dankbar für die guten Bedingungen. Wenn wir am Leben leiden, privat oder politisch, körperlich, seelisch oder geistig, üben wir Mitgefühl und Gleichmut, für alle Beteiligten, auch für unsere politischen »Feinde«, mit der Zuversicht, dass es möglich ist, Leiden zu verringern oder es zumindest nicht zu vergrößern. Gleichmut wird möglich, wenn wir mit Leib und Seele begreifen, dass ein gewisses Maß an Leiden zum Leben gehört, weil alle Umstände und Bedingungen, auch die ökonomischen, sozialen und politischen, unbeständig und so komplex sind, dass niemand sie völlig in den Griff bekommen kann. Lehnen wir das ab, leiden wir noch mehr. Können wir das annehmen, bereiten uns die vier »himmlischen« Haltungen mitten im wilden Leben »den Himmel auf Erden«, zumindest für Momente. Sie gehören auch in dem Sinn zusammen, dass jeweils drei im Hintergrund mitschwingen, wenn eine Haltung, zum Beispiel die Liebe oder Freundlichkeit, im Vordergrund steht. In schweren Zeiten ist es vielleicht Mitgefühl mit uns und anderen, und dieses Mitgefühl wird getragen von Freundlichkeit und Freude über das, was auch in der Not da ist und trägt, und von tiefem Gleichmut, dem Wissen, dass das Leben keine Wellness-Veranstaltung und kein Kindergarten ist, sondern tragisch – und erhaben. Der Wunsch: »Mögen alle Wesen glücklich sein«, auch ich, soweit möglich und mehr oder weniger, schützt uns vor Verzweiflung und schenkt uns immer wieder Kraft, das Beste aus jeder Situation zu machen. Für uns und andere.
Sylvia Wetzel, feministisch-politische Pionierin des Buddhismus im Westen.