Ein ganz anderes Internet

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 23, 2023

Featuring:
Vienna Rae-Looi
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Issue:
Ausgabe 37 / 2023
|
January 2023
Re-Generation
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Web3 als Unterstützung regenerativer Kulturen

Wie passen die Regeneration der Erde und Web3 mit Krypto-Technologie und dezentralen Netzwerken zusammen? Vienna Rae-Looi, Web3-Expertin, Aktivistin und Buddhistin, sieht in dieser Verbindung ein großes Potenzial, um regionale Initiativen global zu verbinden und zu ermächtigen.

evolve: Wir erleben gerade die Geburt einer neuen Generation des Word Wide Web, auch als »Web3« bezeichnet. Die Blockchain-Technologie erlaubt es uns, im Internet autonome, selbstverwaltete Bereiche zu schaffen, unabhängig von den großen Technologiekonzernen. Manche sehen darin eine große Chance, regenerative Kulturen auch mit dem Internet zu verbinden. Wie siehst du dieses Potenzial?

Vienna Rae-Looi: Ja, unsere jetzigen Technologien sind völlig durchdrungen von der aktuellen Machtpolitik und von der Logik der Finanzwelt. Auch das neue Web3 ist als weltweite Computertechnik von der bisherigen industriellen Maschinenlogik und von der kapitalistischen Logik beeinflusst.

Aber es gibt einen anderen Denkansatz jenseits des kapitalistischen Paradigmas, einen Ansatz, der Ausdruck eines bioregionalen Wirtschaftens ist. Ich sehe die Chance, dass diese neue Technologie eine Verbindung zwischen regenerativen Kulturen schaffen kann, die ja meist unmittelbar und sehr regional arbeiten. In der derzeitigen kapitalistischen Denkweise wird die Wirkung unseres Wirtschaftens auf die Natur als Externalität betrachtet. Es gibt bisher keine lebendigen Feedbackschleifen zwischen der Computertechnik und ihrer Wirkung in den Bioregionen der Erde.

Wie gelingt es uns, Feedback-Schleifen zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen zu sagen: »Hey, wenn du an diesem Ökodorfprojekt arbeitest und dir der Schutz des Mutterbodens ein Anliegen ist, dann kannst du dich vielleicht über diese weltweite Computertechnik global mit ähnlichen Ansätzen verbinden?« Ökodörfer müssen sich miteinander vernetzen, um ihre Ressourcen zu koordinieren. In so einem Netz lässt sich weltweit verfolgen, welche Art von Transaktionen zwischen diesen ökologischen Ressourcen stattfinden.

Wenn uns die Regeneration der Erde am Herzen liegt, können wir so herausfinden, was gegen den Klimawandel oder für den Schutz des Bodens jeweils getan wird. Es entsteht eine Verkoppelung der Bioregionen. Auf einmal wird es auch in einem globalen Kontext sichtbar, wo die Erde uns als ihren verantwortungsbewussten Verwaltern einen Wert oder einen Lebensfluss bietet – und wo wir die Erde auf eine Weise schützen können, dass sie nicht noch mehr aus der Balance gebracht und erwärmt wird.

Gegenwärtig ist diese entscheidende Rückkopplung völlig unterbrochen: Wir beuten die Erde aus und verbuchen das gleichzeitig als finanziellen Gewinn. Es gibt keine Rückkopplungsschleife, die die Erde unterstützt und darauf achtet, ihr etwas zurückzugeben. Eine weltweite Vernetzung der Bioregionen könnte diese Verbindung schaffen.

Die Grenzen der Maschinenlogik

e: Die Möglichkeiten des Web3 erlauben uns heute, dass wir im Internet autonome kooperative Räume schaffen. Wenn sich Bioregionen der Welt in diesen Räumen miteinander verbinden, können sie direkt ihre Bedürfnisse untereinander abstimmen. Die Blockchain-Technologie erlaubt uns, bestimmte Wertehaltungen in der Architektur dieser kooperativen Räume zu verankern. Das klingt alles ein wenig utopisch, aber die weltweite Verbindung der Bioregionen und ihrer Anliegen in einem globalen Netzwerk ist vielleicht eine Gegenutopie zur transhumanistischen Vision, in der alles zu einem großen marktgetriebenen Algorithmus wird.

¬ ES GIBT BISHER KEINE FEEDBACKSCHLEIFE ZWISCHEN DER COMPUTERTECHNIK UND DER ERDE. ¬

VRL: Wir leben ja heute in der Dystopie, dass sich alles in Richtung Maschinenlogik entwickelt. Es gibt noch keine überzeugende Vision, wie wir aus dieser transhumanistischen Fragmentierung herausfinden. Wie können wir an diese Herausforderungen herangehen, die momentan so unüberwindbar erscheinen? Dazu braucht es dringend eine globale Koordinierung der Maßnahmen im Umgang mit dem Klimawandel. Als spirituell Praktizierende hier etwas beitragen zu können, ist für mich eine wichtige Chance in meinem Leben. Es bedeutet, dass ich in einer sehr bewussten Weise an der Gestaltung dieser technologischen Ebene mitwirken kann.

Spiritualität wird ja im Westen heute oft als eine Art McMindfullness missbraucht. Im traditionellen Buddhismus sprechen wir zum Beispiel auch von strukturellem Leiden. Heute steht aber allein das individuelle Leiden im Mittelpunkt. Wir pflegen eine Art Fast-Food-Achtsamkeit, um uns wohlzufühlen, auch wenn uns das von der Welt trennt. Meine Frage an spirituelle Menschen lautet: Woran fehlt es, wenn wir die Erde nicht wertschätzen? Worin besteht die Schönheit des Lebens, die viele Menschen im Moment nicht sehen? Und: Kann man diese Fragen auch in eine neue weltweite Computertechnologie einbringen, indem nicht alles auf Zahlen reduziert wird?

Ich erlebe diese Möglichkeit als die Geburtsstunde einer Bewegung, und sie ist auch ein Aufruf an alle, die spüren, dass wir dem Leben nicht genügend Wertschätzung entgegenbringen. Wir können uns alle, auch auf der Ebene einer Gemeinde und in einer Bioregion, einbringen. Wenn du siehst, dass sich die Qualität der Gewässer verschlechtert, kannst du zu ihrer Regeneration beitragen. Meine Hoffnung ist, dass die Web3-Sphäre ein offenes, zugängliches Instrument sein wird, zu dem die Menschen ihren Beitrag leisten können. Wir versuchen, es so zu gestalten und zu programmieren, dass es nicht von einer bestimmten Macht beherrscht werden kann. Web3 ist seinem Wesen nach dezentral. Auf diese Weise kann jeder und jede die einzigartige, wertvolle Perspektive ihrer Bioregion einbringen und sie mit anderen Menschen in anderen Regionen teilen.

e: Das Web3 entsteht gerade erst, und wir werden sehen, was daraus wird. Die Möglichkeit, von der du sprichst, besteht darin, dass Menschen, die ein tiefes Verständnis für neue bewusste und regenerative Kulturen haben und die verstehen, wie wir gemeinsam bewusste kollaborative Räume aufbauen können, jetzt eine Internetarchitektur dafür schaffen, dass dies auch im Cyberspace möglich wird. Auf eine gewisse Weise bekommt hier die alte Idee der Genossenschaften eine neue, technologisch unterstützte globale Lebensform. Wenn wir uns bewusst auf unsere Lebensräume, unsere Regionen, unsere Nachbarschaften, den Stadtteil auf eine regenerative Weise einlassen, dann können wir diese Lebensräume in so etwas wie digitalen Genossenschaften weltweit verbinden.

VRL: Es gibt viele Technologien im Web3-Bereich, ein Teil ist Blockchain, aber es gibt auch anderes. Wir suchen nach Lösungen, die den Zwecken von Gemeinschaften dienen. Zum Beispiel braucht man für die meisten lokalen Projekte wahrscheinlich gar Blockchain. Allein die Kosten wären dafür zu hoch. Auf lokaler Ebene können auch bioregionale Wirtschaftsinstrumente dazu beitragen, dass alle regenerativ zusammenarbeiten. Das befindet sich noch in der Entwicklung. Wir müssen uns darüber unterhalten, was eine bioregionale Wirtschaft fördert. Aber gleichzeitig entstehen immer mehr lokale Gemeinschaften, die über verschiedene Kontinente hinweg zusammenkommen. Sie können sich über die Web3-Technologie miteinander verbinden.

Ein Portfolio von Strategien

e: Web3 ist auch eine neue Möglichkeit, sich von den globalen Märkten unabhängig zu machen und genossenschaftliche Strukturen weltweit zu fördern. In diesen kooperativen Formen wird nicht alles zur Ware, die dann über anonyme Märkte vermarktet wird. Wir können die Netzwerke so gestalten, dass die Förderung lokaler Kulturen und der Biodiversität lokaler Landschaften als Wert fest verankert werden, genauso wie in funktionierenden Genossenschaften nicht nur auf den Profit eines Betriebes geachtet wird, sondern auf die Lebensbedürfnisse aller Beteiligten.

¬ FÜR MICH SCHLIESSEN SICH TECHNOLOGIE UND BEWUSSTSEIN NICHT GEGENSEITIG AUS¬

VRL: Wir wissen, dass wir zur Bewältigung der Folgen des Klimawandels den Temperatur­anstieg innerhalb einer Bandbreite von 1,5 Grad halten müssen, damit das Leben weiterhin gedeihen kann. Das können wir global vereinbaren. Wenn wir dieses Ziel aber auf die lokale Ebene herunterbrechen, sehen die Schritte dorthin überall anders aus. Es braucht eine Vielfalt von Maßnahmen. Eine Lösung, die auf einem Kontinent funktioniert hat, funktioniert auf einem anderen vielleicht nicht. Der Klimawandel zeigt sich in den verschiedenen Regionen auf ganz unterschiedliche Weise. Wenn wir über die Eindämmung der Erderwärmung sprechen, sprechen wir über ein weitgefächertes Portfolio von Strategien. Es gibt nicht eine Lösung für alles, wie es das kapitalistische Paradigma oft vorschlägt.

Jenseits des Dilemmas

e: Diese Hoffnung, dass ein Web3 eine wichtige Rolle für die regenerativen Kulturen der Erde spielen kann, wird auch kritisiert. Die Kritik ist einfach: Erneut wird eine Technologie als Lösung gesehen. Aber nicht Technologien bringen die Lösungen. Es braucht dazu unseren Bewusstseinswandel, eine neue Bewusstseinskultur. Es gibt immer wieder die naive Hoffnung, dass wir die Technologie nur richtig programmieren müssen, dann wird sich daraus das Gute ergeben. Wir können den Wandel aber nur in einem gemeinsamen Bewusstseinsprozess entwickeln. Die Gefahr liegt in der Annahme, wir könnten diese menschliche Dimension umgehen.

VRL: Im Buddhismus gibt es etwas, das wir »den Bereich jenseits des Dilemmas« nennen. In einem komplexen System, besonders wenn es sich um ein globales System handelt, gibt es zwangsläufig Paradoxien. Man kann sich selten entweder für dieses oder jenes entscheiden, sondern es gibt auch eine Menge von diesem und jenem gleichzeitig oder weder dieses noch jenes.

Technologie und Bewusstsein schließen sich für mich nicht gegenseitig aus. Ich denke, das Bewusstsein muss im Dialog stehen, und die Technologie kann dabei helfen. Es ist eher ein Bypassing, davon auszugehen, dass die Technologie die Realitäten nicht verändert. Als buddhistische Praktizierende ist für mich die Spiritualität ausschlaggebend, aber ich sehe auch, wie sich die Realität vor meinen Augen durch Technologie verändert. Ich möchte mich bewusst auf Praxisformen einlassen, in denen wir die Technologie nicht umgehen – etwa, indem wir nur über den Geist, nicht aber auch über die Materie sprechen. Denn idealerweise tanzen beide immer miteinander.

¬ IN EINEM KOMPLEXEN SYSTEM BESTEHEN ZWANGSLÄUFIG PARADOXIEN. ¬

Ich habe die buddhistische Wirtschaft des alten Tibet studiert. Damals wurden die Wirtschaftsverträge in den Klöstern formuliert, weil sie die Institutionen waren, denen die Menschen vertrauten. Die Menschen kamen in den Tempel und sagten: »Wir wollen diesen Geldbetrag einzahlen, damit der Tempel ihn an andere Menschen ausleihen kann.« So wurde ein regenerativer Prozess geschaffen. Heute gibt es in Bhutan anstelle des BIP einen Bruttonationalglücksindex. Er wird durch sorgfältig entwickelte Indizes für das ökologische und spirituelle Wohlbefinden untermauert.

Ich bringe diese Beispiele mit der Frage ein, wie wir das Bewusstsein integrieren können, ohne dass es ein Nachsehen gegenüber der Dynamik des Kapitalismus hat. Denn darauf haben wir oft nicht geachtet. Man hat den Eindruck, dass die spirituellen Menschen in ihren eigenen Kreisen bleiben. Viele Akteure sehen die Werte, die von spirituell orientierten Menschen wahrgenommen werden, aber nicht. Deswegen gehen diese Wertehaltungen verloren. Die gegenwärtige Realität wird in erster Linie von Finanzalgorithmen bestimmt. Diese Mechanismen haben dem kapitalistischen Paradigma gedient, um Dinge in Zahlen zu verwandeln. Wenn spirituelle Kreise hier nicht aktiv werden, werden die Technologien leider weiter von der Logik des Kapitalismus kontrolliert. Web3 könnte einen Beitrag leisten, um diese neue Verbindung zu schaffen. Wir brauchen die Mitwirkung spirituell orientierter Menschen mit all ihren erstaunlichen und wunderbaren Perspektiven, die sie zu bieten haben. Ich hoffe, dass die spirituelle Community dieses Potenzial sieht.


Author:
Dr. Thomas Steininger
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