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Handlungen und Orte können eine Symbolkraft bekommen, die eine Kultur mit Licht und Schatten ihrer eigenen Geschichte und der Verantwortung für die Zukunft verbindet. Wolfgang Aurose gibt Hinweise für eine neue Wertschätzung politischer Symbole.
Manchmal geschieht es, dass sich die symbolische Aktion eines einzelnen nationalen Repräsentanten zu einer Art „seelischer Geste“ des Landes verdichtet. Solch ein Ereignis fand am 7. Dezember 1970 statt, unmittelbar vor der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland. Willy Brandt legte als damaliger Bundeskanzler vor dem Ehrenmal der Helden des Ghettos in Warschau einen Kranz nieder. Nach dem Richten der Kranzschleife verharrte er nicht wie üblich stehend, sondern kniete spontan und zur großen Überraschung der Gastgeber und der eigenen Delegation auf der regennassen Treppe nieder, verharrte sichtlich bewegt einige Zeit, erhob sich wieder und entfernte sich an der Spitze seiner Delegation. Der am gleichen Tag unterzeichnete Warschauer Vertrag akzeptierte die Unverletzlichkeit der faktischen polnischen Grenzen. Deutschland hatte damit rund ein Drittel seines Staatsgebietes verloren. Mit Kniefall und Unterzeichnung erkannte die Nation diesen Verlust eines großen Teils ihres Territoriums auch als Verantwortung und Sühne für ihre Vergangenheit an. Seelisch war Deutschland damit jedoch gewachsen. Symbole können sowohl stellvertretende Wirklichkeit als auch eine tiefere und sehr wirkungsvolle Handlungs- und Seinsebene verkörpern. Authentische nationale Symbolik ist nicht nur passive Spiegelung. Sie kann auch im integrativen Sinn seelische Entwicklungsprozesse der Gemeinschaft unterstützen. In Reaktion auf den Missbrauch nationaler Seelensprache lässt sich bis in die deutsche Gegenwart eine große Zurückhaltung und Unsicherheit bei der Verwendung und Akzeptanz nationaler Symbole beobachten. Aber wie beim Kniefall von Warschau können Symbole auch im integrativen Sinn seelische Entwicklungsprozesse der Gemeinschaft unterstützen. Prädestiniert für solch eine symbolische Wirkung sind Orte, die schon aus ihrer historischen Bedeutung für Veränderungsprozesse einer Kultur stehen. In Deutschland trifft das in besonderer Weise auf den Reichstag zu. Kaum ein anderes Parlamentsgebäude weltweit kann auf derart dramatische Wechsel in Geschichte und Gestaltung zurückblicken wie der deutsche Reichstag. Das Reichstagsgebäude, der heutige Bundestag, repräsentiert das schwierige Werden der deutschen Nation. Es verkörpert vor allem den politisch-republikanischen Abschnitt der deutschen Seelengeschichte, den Kampf von demokratischer Freiheit gegen konservative Restauration und ideologischen Totalitarismus. Der Bau des deutschen Repräsentantenhauses geschah im Gefolge der Konstituierung des ersten nationalstaatlichen Deutschen Reichs im Jahre 1871. Hier begann im Jahre 1918 die Weimarer Republik und 1933 ebneten der Reichstagsbrand und die darauffolgenden Erlasse den Weg zum Dritten Reich. Nach der Wiedervereinigung erhielt der Reichstag seine jetzige Gestalt und wurde zum Sitz des deutschen Bundestages.
Symbole können im integrativen Sinn seelische Entwicklungsprozesse der Gemeinschaft unterstützen.
Der Reichstag wurde auch nach seiner neuen Formgebung durch den Stararchitekten Sir Norman Foster in bemerkenswerter Weise zum Symbolträger. Das bulgarische Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude bedeckte im Jahre 1995 mit über 100.000 Quadratmeter silbern glänzender Stoffbahnen den gesamten Reichstag. Der imposante Bau sah sich für die Dauer von 14 Tagen vollständig verhüllt. Der im Innersten Deutschlands positionierte Reichstag hatte sich ohne viel Erklärung in ein geheimnisvolles und surreales Objekt gewandelt, das Millionen von Deutschen magnetisch anzog.
So wie der Reichstag steht auch ein Datum in der deutschen Geschichte für Licht und Schatten einer Kultur: Der 9. November 1989 war der dramatischste Tag oder besser die dramatischste Nacht der deutschen Nachkriegsgeschichte. Im Verlaufe weniger Stunden fiel das als fast unbezwingbar wahrgenommene, zentrale Bollwerk deutscher Teilung. Doch als Nationalfeiertag begangen wird dieses große Ereignis nicht am 9. November, sondern am 3. Oktober. Warum? Um diese Frage zu beantworten, muss man in die deutsche Geschichte zurückblicken. Am 9. November 1918 wurde von einem Fenster des Reichstages aus die lang ersehnte erste deutsche Republik ausgerufen – doch zugleich steht das Datum auch für dunkle Momente deutscher Geschichte. Im Jahre 1923 scheiterte an diesem Tag Hitlers „Bierhallen-Putsch“ in München, nach der Machtergreifung macht er dieses Datum zum nationalen Gedenktag zur Erinnerung an die „Märtyrer“. Und 1938 erreichte in der Progromnacht des 9. November die Gewalt gegen jüdische Bürger einen ersten Höhepunkt. Es ist vor diesem Hintergrund in der Tat nicht einfach zu bewerten und zu ertragen, dass der neunte Tag im November zugleich für entscheidende Durchbrüche hin zu den fruchtbarsten und liberalsten Zeitabschnitten in Deutschlands Geschichte steht. Die gleichzeitige Feier der Durchbrüche zur Freiheit und des Gedenkens der Zusammenbrüche der Moral an einem 9. November wäre ohne Zweifel Ausdruck einer integrierten und reifen Identitätsbestimmung des heutigen Deutschland. Zu dieser Identitätsbestimmung könnte es auch beitragen, wenn wir neue Symbole finden könnten, um dem tragischen Verhältnis von Deutschen und Juden im letzten Jahrhundert zu gedenken. Denn der Holocaust vernichtete nicht nur unzählige Menschenleben, sondern beendete auch ein zu jener Zeit bestehendes, einzigartiges Kapitel gemeinsamer Identität von Juden und Deutschen. Die Epoche der ersten Jahrzehnte des vorangegangenen Jahrhunderts und insbesondere die Weimarer Zeit wurde nicht zuletzt durch eine Vielzahl von herausragenden deutsch-jüdischen Wissenschaftlern, Künstlern und Denkern repräsentiert. Sowohl angesichts ihrer historischen Glanzleistungen als auch ihres Schicksals würde jene deutsch-jüdische Hoch-Zeit es verdienen, im ganzen Land und jeden Tag im besten Zusammenhang gewahr zu bleiben. Das könnte etwa in der Initiative bestehen, renommierte Flaniermeilen und Hauptstraßen ausgewählter deutscher Großstädte in „Deutsch-Jüdische Alleen“ umzubenennen. Symbolik ist nach Aristoteles die Sprache der Seele. Sie ist, so gesehen, codierter Ausdruck einer tieferen Wirklichkeit. Und gerade die Deutschen können lernen, diese kollektivseelische Symbolsprache von im Faschismus zum Einsatz kommender, mythisch-kultischer Pseudosymbolik zu unterscheiden. Es ist die anstehende integrale Erweiterung oder besser Vertiefung unseres Bewusstseins um die seelische Dimension.
Author:
Wolfgang Aurose
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