Im Nicht-Wissen bleiben …

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 16, 2017

Featuring:
Annie Levin
Bayo Akomolafe
Nuno Da Silva
Eric Chisler
Alnoor Ladha
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 13 / 2017:
|
January 2017
Liebe in Zeiten von Trump
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Einen Moment länger, als wir es normalerweise tun

Im Emergence Network haben sich fünf soziale Aktivisten aus verschiedenen Teilen der Welt zusammengetan, um gemeinsam herauszufinden, welche Form des Aktivismus heute angemessen und wirksam sein könnte. Wir sprachen mit Annie Levin über die Anfänge und Ziele des Netzwerks.

evolve: Was ist das Emergence Network?

Annie Levin: Wie unser Name sagt, ist unser Netzwerk noch im Entstehen. Im Moment sind wir eine Gruppe von fünf Menschen, die sich gut kennen und das Gefühl teilen, dass in unserer globalen Kultur bestimmte neue Potenziale entstehen wollen. 2015 haben wir als Beginn des Projekts einen globalen Web-Summit veranstaltet, bei dem wir etwa 60 Menschen aus 15 Ländern über fünf Tage versammelt hatten. Wir möchten noch mehr Dialoge dieser Art durchführen. Wir möchten auch Autoren und Künstler zusammenbringen, die eine Sicht der Dinge haben, die sonst nicht so viel Gehör findet.

Wir fünf sind über die ganze Welt verteilt, ein großer Teil unserer Vernetzungsarbeit geschieht online, aber wir treffen uns auch direkt in unterschiedlichen Konstellationen. Ich lebe an der Ostküste der USA und Eric Chisler an der Westküste. Er beschäftigt sich mit Gemeinschaftsexperimenten und neuen Formen kontemplativer Praxis in den USA. Nuno Da Silva kommt aus Faro in Portugal und unterstützt mit Aktivisten aus der ganzen Welt alternative Lernmethoden. Bayo Akomolafe stammt aus Nigeria und lebt in Chennai, Indien. Er ist Psychologe und Autor und erforscht unkonventionelle Perspektiven für einen sozialen Wandel. Alnoor Ladha wuchs in Kanada auf und war in den letzten Jahren überall auf der Welt unterwegs. Er ist Vorstandsmitglied von Greenpeace International in den USA und Leiter von »The Rules«, einem globalen Netzwerk junger Aktivisten.

e: Welches Anliegen steht im Zentrum eures globalen Netzwerks?

AL: Einer der Hauptschwerpunkte ist die Frage, ob wir einen neuen Aktivismus brauchen. Wir fragen uns: Was wäre, wenn unsere Antworten auf die Krisen ein Teil der Krise sind? Vieles, was heute geschieht, ist so in den Systemen und Denkweisen, die unsere Krisen verursacht haben, eingebettet, dass es sehr leicht sein kann, dass wir diese Katastrophen in veränderter Form wiederholen. Uns interessieren also die Aspekte, die wir nicht sehen, und wo unsere blinden Flecken sind.

Wir haben uns hauptsächlich auf Aktivismus und sozialen Wandel konzentriert. Was sind die Gewohnheiten und Muster des Aktivismus in den westlichen industriellen Kulturen? Wir versuchen, die Muster zu finden, die oft unbemerkt bleiben, und wir öffnen uns einem weiteren Feld der Weisheit, das uns zugänglich sein könnte, aber bisher noch nicht einbezogen wurde. In den USA und den westlichen Kulturen dominiert seit geraumer Zeit der Intellekt. Ich bin sehr an Erkenntniswegen interessiert, die jenseits des Intellekts liegen und vielleicht gar nicht menschlich sind, aber auch Teil des Gesprächs sein sollten. Ein Beispiel: Forschungen zeigen uns heute, dass es in gesunden Wäldern ein Netzwerk von Pilzen gibt, das als Myzel bezeichnet wird und den gesamten Boden durchdringt. Es ermöglicht Ernährung und Kommunikation zwischen den Bäumen. Ein kranker Baum kann Signale aussenden, und nahe gelegene Bäume antworten mit Nährstoffen. Das ist nur ein Beispiel für die »Sprache« und den »Wissensaustausch« zwischen Bäumen und dem Myzel. Auch andere Lebewesen haben solche Sprachen – Formen der Kommunikation, Interaktion von Geben und Nehmen im Austausch mit der Umwelt. Wenn wir diese Sprachen nicht hören, könnten unsere Fragen nach dem, was die Welt heute braucht, wichtige Aspekte vernachlässigen. Es gibt vielleicht viel mehr Antworten als diejenigen, die wir Menschen geben.

¬ Was wäre, wenn unsere Antworten auf die Krisen ein Teil der Krise sind? ¬

e: Wie arbeitet ihr zusammen? Nutzt ihr besondere Prozesse, um Emergenz zu fördern?

AL: Wir hoffen, dass unsere ersten Gespräche einige Samen zutage fördern, die dann in der Welt verwirklicht werden können, Experimente, die aus der Frage entstehen: Wie können wir in der Welt wirken, ohne die Bedingungen zu schaffen, die zu so vielen Krisen geführt haben? Bezüglich der Frage, was wir tun – eine Art Mission Statement – kann ich nur sagen, dass wir eine sehr neue Gruppe sind und uns nicht so genau auf konkrete Ziele festlegen wollen, was der Emergenz widersprechen würde, die davon abhängt, dass wir nicht genau wissen, was geschieht und wohin wir geführt werden. Unsere Vorstellung von Emergenz be­inhaltet, dass es jeden von uns braucht, um etwas Einzigartiges beizusteuern, und wir möchten das nicht darauf reduzieren, eine gemeinsame Vision zu postulieren, die uns alle einengen würde. Man könnte leicht zu einem Konsens finden, der uns die Einzigartigkeit nimmt, die uns ursprünglich zueinander geführt hat. Jeder von uns würde vermutlich eine andere Umschreibung für das haben, was wir da tun. Weil jede und jeder von uns einen eigenen Zugang zu der Frage hat: Was fehlt uns? Wir sind für verschiedene Einsichten und Antworten auf diese Frage empfänglich. Mein Fokus ist mehr im Körper, ich erforsche, wie Weisheit und Information durch den Körper fließen, andere konzentrieren sich vielleicht mehr auf politische Theorien.

e: Ihr schafft also einen Raum, der euch allen erlaubt, zu sein und euch auszudrücken?

AL: Ich würde die Bedeutung von »Selbst-­Ausdruck« etwas verändern. Im Westen sind wir sehr auf das Selbst, sehr auf das Persönliche, auf die eigene, persönliche Wahrheit fokussiert. Das meine ich nicht. Da ich in den USA aufgewachsen bin, komme ich auch immer wieder auf das Individuelle und Persönliche zurück, wir aber versuchen, uns auf etwas einzustimmen, das außerhalb des Raums des Selbst liegt und eher aus dem Gemeinsamen kommt.

e: Wie siehst du die Arbeit des Emer­gence Networks angesichts der Wahl Donald Trumps und des Aufstiegs der populistischen­Bewegungen in Europa und anderen Teilen der Welt?

AL: Ich weiß nicht, welche Rolle wir dabei spielen können. Ich nehme an, dass das Auftauchen der populistischen Bewegungen überall auf der Welt symptomatisch für die Art ist, wie wir in vielem vorgehen oder uns in der Welt bewegen: die hyper-­intellektuellen, hyper-anthropozentrischen, hyper-maskulinen Kulturen. Unsere Rolle könnte vielleicht sein, den größeren Kontext zu verstehen und zu erkennen, worauf diese Symptome hindeuten. Und vielleicht auch, Wege des Denkens, der Wirkung, des Seins zu finden, die etwas Neues kultivieren können. Diese populistischen Bewegungen erwachsen aus einem bestimmten Boden. Was sind die Bestandteile eines Bodens, aus dem etwas anderes erwachsen kann? Ich stelle diese Fragen nicht, um dem Gefühl zu entkommen, dass wir vor einer überwältigenden Aufgabe stehen. Es gibt keine einfachen Lösungen. Der Hang zu einfachen Lösungen ist Teil von dem, was zu diesem Symptom geführt hat.

Deshalb ist unsere Haltung im Emergence Network, dass wir im Unbekannten bleiben wollen, gerade ein bisschen länger, als wir es für gewöhnlich tun. Nicht gleich geschäftig darangehen, etwas zu korrigieren, bevor wir uns überhaupt die Zeit genommen haben, nicht zu wissen, unglaublich traurig zu sein, oder wütend oder was auch immer sich zeigt. Das bedeutet nicht, dass wir uns nie möglichen Lösungen zuwenden – es gibt unglaublich viel Leid in der menschlichen und nicht-menschlichen Welt, das weiter besteht, wenn sich diese Systeme nicht verändern. Aber wir wollen lange genug innehalten, um auf die Stimmen zu hören, die bisher vielleicht ausgeschlossen wurden, und dann mit ausreichend Bewusstheit weitergehen, damit wir nicht reflexartig wieder die gleichen Probleme schaffen, die wir eigentlich lösen wollten.

Author:
Adrian Wagner
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