Religion hat über die Jahrtausende in den Weltkulturen immer wieder Räume der Sinnstiftung und Transzendenz geöffnet. Die heutige Zeit fordert uns mehr denn je heraus, unser Leben in der Tiefe zu gründen und zugleich in einer lebendigen Beziehung zu stehen zu all der Vielfalt und auch Widersprüchlichkeit, die sich im globalen Miteinander auftun. Wir haben Menschen, die in Wissenschaft, Spiritualität und Religion wirken, gefragt:
Was ist die Rolle der Religion in einer offenen Gesellschaft?
Katharina Ceming
Traditionell hatten Religionen mit Sinnstiftung, Orientierung und Trost zu tun. Dazu kam, dass sie ein stark gemeinschaftsbildendes Element beinhalteten. Ich denke, all diese Elemente haben in unserer Zeit nichts an Relevanz verloren. Was Religionen heute jedoch zusätzlich leisten müssen, ist, die Bilder und Konzepte, derer sie sich bezüglich Sinnstiftung etc. bedienten, so zu modifizieren, dass sie mit der Lebenserfahrung moderner Menschen kompatibel sind bzw. dass sie auf die Fragen der Zeit befriedigende Antworten geben können. Dies wird vermutlich nur gelingen, wenn man bereit ist einzusehen, dass die Anweisungen der heiligen Texte zur Lebensgestaltung keine unmittelbare Anweisung Gottes, des Sanatana Dharma, der Transzendenz sind, sondern »nur« menschliche Überzeugungen dieser Zeit wiedergeben.
Es waren Seher, Weise, Propheten etc., die diese ursprünglich aus menschlichen Erfahrungen mit der Umwelt erwachsenen Überzeugungen mit ihrem Gott oder mit Transzendenzerfahrung in Verbindung brachten. Daraus erwuchs in allen Religionen ein umfangreiches Regelwerk zur Lebensgestaltung, das nun als göttliche Anweisungen verstanden wurde.
Ich halte noch etwas für sehr wichtig: Religion(en) in einer offenen Gesellschaft müssen bereit sein zum Dialog mit anderen Überzeugungen, da sie nicht mehr das alleinige Sinnstiftungsmonopol besitzen. Menschen suchen auch jenseits von Religion(en) Sinn. In diesem Feld der Sinnsuche können Religionen jedoch auf erprobte Methoden und Konzepte zurückgreifen. Ferner bieten sie jenseits rein individualistischer Zugangsweisen gemeinschaftsbildende Strukturen, in denen der Einzelne auch Heimat finden kann.
Prof. Dr. Dr. Katharina Ceming, Theologin, Philosophin, freiberufliche Publizistin und Dozentin.
Thilo Hinterberger
Eine wichtige Funktion der Religion sehe ich darin, dass sie einen gesellschaftlichen Rahmen bietet, um Lebenskontexte wie Geburt und Sterben, Lebensübergänge sowie Feiertage im Jahreskreis bewusst zu gestalten. Durch die kulturelle Verankerung von Ritualen wird Gemeinschaft gelebt und eine feierliche Form des Zelebrierens von Übergängen und der Freizeitgestaltung ermöglicht. Eine wesentliche Kraft in der Bewusstwerdung dieser Lebenskontexte liegt dabei in der Ausrichtung auf die transzendenten Aspekte unseres Daseins. Mit dem Einbinden von Gott findet eine Weitung des Bewusstseins auf das Überzeitliche und Universelle hin statt. Unser offener Kulturkreis scheint mit diesem zyklischen Zeitverständnis auch wenige Probleme zu haben. Diese treten vielmehr durch die Verhaftung der religiösen Inhalte in der linearen Zeitvorstellung auf: Geschichten und Symbole unserer christlichen Religion beziehen sich auf eine ferne Vergangenheit außerhalb unseres Kulturkreises, wodurch die Bedeutung für die Gegenwart schwer nachzuvollziehen ist, und sie richten ihre Hoffnung auf eine ebenfalls unerreichbare Zukunft jenseits dieses Erdenlebens.
Die Gegenbewegung dazu erleben wir in der Achtsamkeitswelle, in welcher die Aufmerksamkeit allein auf die Gegenwart im »Hier und Jetzt« gerichtet wird. Hier erlebt die Spiritualität in unserer Gesellschaft eine Entwicklung, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Doch ein spirituell-zelebrierender Rahmen entwickelt sich durch die Angebote der offenen Gesellschaft nur wenig, weshalb ich hier eine große Aufgabe bei den Religionen sehe, ihre spirituell-feierliche Kompetenz mit der gesellschaftlichen Bewusstseinsentwicklung zu verbinden.
Prof. Dr. Thilo Hinterberger, Physiker und Neurowissenschaftler, Stiftungsprofessur für Angewandte Bewusstseinswissenschaften in Regensburg.
Doris Zölls
Die Geschichte aller Religionen zeigt, dass sie nicht nur auf eine spirituelle Entwicklung ihrer Anhänger ausgerichtet waren, sondern Gesellschaften politisch und kulturell bestimmten. Sie entwickelten das Weltbild, erstellten einen Verhaltenskodex und waren dadurch sehr machtvoll. Ihr Anspruch, ihrem Gott die alleinige Herrschaft über die Welt zu sichern, führte jedoch zu Intoleranz, Machtmissbrauch und zu viel Leid. Erst mit der Entstehung eines säkularen Staates wurde die oft sehr unheilvolle Macht der Religionen zurückgewiesen und es konnte sich Freiheit entwickeln.
Leider können wir heute wieder beobachten, wie Religionen an Einfluss gewinnen und sich die alten Strukturen von Fanatismus und Gewalt Andersgläubigen gegenüber auftun. Religionen sind an ihre Mythen gebunden. Altes soll erhalten bleiben, auch wenn es sich mit der modernen Welt nicht vereinbaren lässt, allein der Blick auf die Emanzipation zeigt dies deutlich. Mit der Unversöhnlichkeit mit der Moderne bürden sie ihren Anhängern eine schizophrene Haltung auf, denn für fast alle Bereiche haben sie keine wirklichen Antworten. Sie fordern den Glauben an alte Strukturen, ohne dass diese hinterfragt werden, und fördern die Unbewusstheit. Würden sie ihr Augenmerk und ihr Wirken auf die Bewusstwerdung der Menschen legen, könnten sie auch in der heutigen Gesellschaft einen entscheidenden Beitrag leisten, denn Bewusstheit ist die Anforderung unserer Zeit.
Doris Zölls, evangelische Theologin und Zen-Meisterin der Zen--Linie Leere Wolke, spirituelle Leiterin des Benediktushofs.
Annette Kaiser
In einer offenen Gesellschaft ist es möglich, seine eigene Religion zu leben. In einem exoterischen, religiösen Verständnis sind der Mensch und das Numinose getrennt. Durch Gebete, Zeremonien und Vorschiften u. a. werden Menschen aufgefordert, sich auf das Eine, Unbenennbare auszurichten. In einem esoterischen, religiösen Verständnis geht es um die »Erfahrung«, was Mensch-Sein in seinem tiefsten und umfassendsten Sinne ist: Nichts und Alles zugleich. Dazu gibt es so viele Wege wie Atemzüge der Menschen.
Eine offene Gesellschaft integriert diese Ansätze der Selbsterkenntnis. Dadurch wird eine offene Gesellschaft, die sich auf ethische Grundwerte allen Lebens immer wieder erneuernd besinnt, gestützt. Frei von Dogmen – ob exoterisch oder esoterisch – können Religionen als Rückbesinnung auf das Heilige mithelfen, eine wirklich gelebte, offene Gesellschaft hervorzubringen. Letztlich ist das evolutionär entfaltende Gelingen einer offenen Gesellschaft durch das menschliche Bewusstsein bedingt. Im Hier und Jetzt transzendiert dieses Bewusstsein jegliche Religion: Eine universelle Perspektive ermöglicht, die Einheit vor jeglicher Verschiedenheit zu erkennen und zu leben. Dies ist die eigentliche Grundlage für eine heile offene Gesellschaft.
Annette Kaiser, spirituelle Lehrerin und spirituelle Leiterin der »Villa Unspunnen«.
Harald Walach
Ohne Religion kommen wir als Menschen nicht aus. Wer glaubt, er hat oder braucht keine, hat sich seine Religion schon geschaffen, ohne es gemerkt zu haben. Denn wir schaffen immer irgendwelche absoluten, nicht mehr nachvollziehbaren und auch nicht mehr belegbaren Voraussetzungen. In diesem Sinne ist auch der derzeit unter jungen Leuten weit verbreitete wissenschaftliche Naturalismus eine Religion. Denn er gibt uns den Trost: Wenn wir erst einmal alles verstanden haben – das Gehirn, das Universum, die Evolution – dann ... Insofern wäre der erste Schritt, sich selbst Rechenschaft über seine Religion abzulegen und über die Gründe oder Hintergründe, die uns dazu geführt haben.
Die eigentliche Basis für Religion ist aus meiner Sicht eine spirituelle Erfahrung, die dann im Rahmen einer kulturell-historisch kontingenten Welt versprachlicht, ausgelegt und ausgedrückt wird. Daher sind auch traditionelle Religionen nicht davor gefeit, ihre Botschaft immer wieder neu auszulegen und anzupassen. Sie sind eigentlich ein Reservoir und ein Stimulans für solche Erfahrungen. Sie sollten durch ihre Formen – Riten und Räume – solche Erfahrung stimulieren und ermöglichen und dort, wo sie geschehen, Deutungsmuster anbieten.
Vor allem in unserer modernen Gesellschaft sollten die traditionellen Religionen auch die Rolle der konstruktiven Kritik spielen und versteckte und verkappte Pseudoreligionen aufdecken, wo sie sich unbemerkt einschleichen und Menschen versklaven. Denn die eigentliche Rolle der Religion ist es, die Menschen in ihre eigentliche Kraft, in ihre tiefe Berufung und in die Fülle zu führen. Dort, wo das nicht passiert, ist, egal unter welchem Namen, eine Ideologie, oder biblisch gesprochen ein Götze am Werk. Götzen, so lesen wir bei Isaias, sind diejenigen, denen Menschen geopfert werden. Und das sind heutzutage viele: vom Profit über die politische Macht bis hin zur Verdummung in der Unterhaltungsindustrie. Die Aufgabe der Religion ist, das deutlich zu machen und Alternativen anzubieten.
Prof. Dr. Dr. Harald Walach, klinischer Psychologe, Philosoph und Wissenschaftshistoriker.