Als ich in der letzten Kolumne über das »gute Leben« sinnierte, kam mir bereits in den Sinn, dass man diesem nicht wirklich auf die Spur kommt ohne einen Begriff, den wir oft verwenden, dessen tiefe Bedeutung uns aber selten bewusst wird: den Begriff der Intensität.
Dieser Begriff der »Intensität« entwickelte sich seit dem 18. Jahrhundert in gewisser Weise parallel zum Begriff der »Ästhetik«, ohne jedoch wie dieser zu einer zentralen kulturphilosophischen Kategorie zu werden. Vermutlich nicht zufällig, denn der Begriff »Intensität« ist in gewisser Weise stärker und somit weniger schwammig diskutierbar.
Die ersten systematischen Begriffsbestimmungen dazu verdanken wir Immanuel Kant. Er unterscheidet extensive von intensiven Größen und Wahrnehmungen. Extensive Wahrnehmungen gehen von Teilvorstellungen aus und versuchen sie so zusammenzuführen, dass ein Ganzes entsteht. Intensive Wahrnehmungen hingegen sind von vorherein ganzheitlich: z. B. die subjektive Stärke einer Empfindung oder der Grad der Aufmerksamkeit.
Insbesondere Herder und Novalis greifen Kants Begriffsbestimmung auf und führen sie weiter. Für Herder entsteht durch den Begriff der Intensität ein neuer Denk-, Ordnungs- und Entwicklungsraum für ganzheitliches Menschsein. So kann eine geformte Seele entstehen, die beginnt, »über die äußeren Vorstellungen zu herrschen«. Die Seele kommuniziert mit ihrer Umwelt über Intensitätsvorgänge. Ihre Innigkeit ist kein Rückzugsbereich, sondern Medium der Aneignung »in die Gestalt ihres Wesens«. So wird aus der zuerst nur wahrnehmend gedachten Denkfigur der Intensität auch eine transformative Größe der Aneignung. Wenn ich beispielsweise einen anderen Menschen in dieser inneren Intensität wahrnehme, werde ich selbst in einen Wandel geführt, mein Verständnis der Welt und meiner selbst verändert sich. Herder transzendiert damit sowohl die engführende Identifizierung von Intensität mit bloßer Innigkeit, als auch die übliche Bindung der Wahrnehmung an bloße mechanische Repräsentation eines Gegenstands.
Wenn wir solche Erfahrungen der Intensität in Diskurse über das gute Leben einbeziehen, dann öffnet sich die Möglichkeit eines sich energetisch einschwingenden Zustands, in dem sich Sinn aus der Intensität der Verbundenheit bildet. Intensität wird so bereits um 1800 zur Denkfigur einer selbstschöpferischen Bewegung des Selbst: eine ganzheitlich integrierende menschliche Potenzialentfaltung, die das frei, freudvoll, mitschöpferisch mächtige menschliche Ich mit der Lebendigkeit der Naturwelt integriert.
Der Begriff der Intensität verschwindet dann vorläufig wieder im Wirbel der Geschichte. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts entsteht er wieder neu, z. B. bei dem deutsch-schweizerischen Kulturphilosophen Jean Gebser, der in seinem Hauptwerk »Ursprung und Gegenwart« mehrfach diesen Begriff verwendet: »Eine Kraft, eine Intensität lässt sich durch das bloße Denken deshalb nicht bewusst machen, weil das Denken nur das räumliche Nacheinander kennt. Aber die neue Kraft des Geistes, um die es sich hier handelt, ist achronisch.« Intensität lässt sich also nur in der Gegenwart erfahren, nicht in der abstrakten Trennung des Denkprozesses. Natürlich gibt es auch im Denken eine Erfahrung der Intensität, die sich aber daraus speist, dass sich das Denken mit der verbundenen Wahrnehmung im gegenwärtigen Augenblick verbindet, diesen erfüllt und sich von ihm berühren und verwandeln lässt.
Intensität meint das Potenzial, den ganz individuellen Moment menschlicher Existenz mit der gesamten Natur oder Schöpfung zu verbinden.
Eine weitere Neubestimmung des Begriffs gelingt dem französischen Philosophen Jean-Francois Lyotard in seinem 1978 erschienenen Buch »Intensitäten«. Erstmals kommt darin auch die gesellschaftliche bzw. politisch-emanzipative Relevanz des Themas zur Sprache. Wiederum offenbar völlig unabhängig von allen anderen Begriffsentwicklungen steht die der französisch-kubanische Schriftstellerin Anaïs Nin. Ihr Hauptwerk sind ihre Tagebücher, die sie selbstbewusst als Schöpfung einer neuen Ausdrucksform versteht. Der Begriff der Intensität fällt darin mehrfach. Sich selbst in dieser kulturerneuernden Rolle der Dichterin reflektierend, erläutert sie den Begriff im Eintrag vom Juni 1946 wie folgt: »Ich schreibe über das Leben in den Momenten seiner größten Intensität, denn dann wird sein Sinn am stärksten erkennbar.«
Meines Erachtens wäre es heute wiederum an der Zeit, den Begriff der Intensität neu zu fassen, weil er das Verständnis eines »guten Lebens« um die Dimension einer freien und weltverbundenen Kreativität erweitert. Denn »Intensität« meint das menschliche Potenzial, den ganz individuellen Moment menschlicher Existenz mit der gesamten Natur oder Schöpfung zu verbinden. Man erlebt dies als sehr frei, weit, freudvoll und mächtig. Und daraus entsteht oft auch eine verstärkte lebenswirksame Kreativität.