Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 23, 2023
Wie viele Industrienationen leidet Japan unter ausuferndem Konsum und Verschwendung. Um einer regenerativen Kultur den Weg zu ebnen, erinnert sich das Land an das Erbe seiner Naturmystik. Wie kann sich Leben aus organischer Verbundenheit heraus immer wieder neu erschaffen?
In der japanischen Kultur gilt es als unhöflich, beim Essen auch nur ein einziges Reiskorn in der Schale zurückzulassen. Achtsam aufzuessen, würdigt die Gaben der Natur in ihrer Heiligkeit. In Tischsitten wie diesen atmet die Weisheit eines verbundenen Lebens, die aus der Tradition des Shintoismus erwachsen ist. Ein Korn Reis ist nicht einfach ein Ding, das der Mensch sich einverleibt. In der Naturmystik des Shintō wohnt allem, was die Schöpfung hervorbringt, ein Geist inne. Ihn zu ehren, hält das Leben als Ganzes in Balance. Es ist eine innere Haltung, die in der modernen Alltagswelt Japans immer mehr verblasst. Das eine Korn Reis bei einer Mahlzeit wertzuschätzen, mag vielen noch eine überlieferte Gewohnheit sein. Doch jeder Mensch in Japan verschwendet jeden Tag Nahrungsmittel im Wert einer ganzen Schale von Reis.
Im Angesicht von Müllbergen und steigenden Lebensmittelimporten hat sich in den vergangenen 20 Jahren in Japan eine kulturelle Bewegung etabliert, in der Umweltaktivisten, Kulturkreative, NGOs und Regierungsstellen versuchen, im Rückgriff auf das Erbe der Naturmystik die verlorene Harmonie zwischen Mensch und Mitwelt wiederzubeleben. Zur Blütezeit des Shintō war das Verständnis des Lebens noch von tiefer Einsicht in die zyklischen Prozesse der Natur geprägt. Gesegnet mit reicher Fauna und Flora, aber als Inselwelt auch stets bedroht von Stürmen und Erdbeben, war die Fragilität des Lebensprozesses allgegenwärtig. Die Ehrfurcht vor der Beseeltheit aller Schöpfung ließ die Menschen der Natur den Raum geben, den sie für ihre Regeneration brauchte. Ihre lebendige Mitwelt war nichts Äußeres, sondern mit ihrem eigenen Dasein untrennbar verbunden, oder, wie es der Religionsforscher Takeshi Umehara ausdrückt: »Das menschliche Leben zirkuliert wie das der Tiere und Pflanzen, in ewiger Wiederkehr.« Die Natur nährt den Menschen, solange er sich ihr nicht in den Weg stellt. In dem japanischen Wort ishokujyu ist diese organische Verbundenheit noch gegenwärtig, es bedeutet gleichermaßen leben wie auch Leben schaffen.
Aus dieser inneren Haltung heraus gelang es beispielsweise, mehr als 1.300 Jahre die weitläufige Anlage des Ise-jingū Schreins, dem bedeutsamsten der Shintō-Heiligtümer, alle 20 Jahre komplett zu restaurieren, ohne die sie umgebenden Wälder abzuholzen. Nur so viel Holz zu schlagen, wie nachwachsen kann, ist auch im westlichen Nachhaltigkeitsdenken verankert. Was die japanische Vorstellung davon wesentlich unterscheidet, ist die Art der Beziehung zum Lebendigen. Statt zu berechnen, wie viel Holz die Natur zu schenken vermag und mit ihr einen Deal zu machen, geht es hier um eine intime Verbundenheit. »Ein Baum ist kein materieller Gegenstand; er hat ein eigenes Leben, das von Mutter Natur genährt wird, genau wie wir Menschen. Meine Arbeit besteht darin, ein gutes Gespräch mit diesen Bäumen zu führen, ihre leisen Stimmen zu hören«, beschrieb der verstorbene Tempel-Restaurator Tsunekazu Nishioka dieses innige Miteinander. Wer die Beziehung über das Benutzen stellt, wird sich schnell bewusst, dass unsere Beziehungsfähigkeit natürlichen Grenzen unterliegt. Wie vielen Dingen, die uns tagtäglich dienen, können wir wirklich lauschen? Vielleicht liegt genau hier eines der Geheimnisse des Shintō, das uns heute einen neuen Weg weisen könnte. Die Klimakrise zeigt, dass wir die Komplexität des Natürlichen nicht beherrschen können und den Planeten ausbluten. Wirkliche Beziehungen zum Lebendigen stehen im Einklang mit unserem menschlichen Fassungsvermögen. Wieder in einer Wechselseitigkeit mit dem Natürlichen zu leben, die mit den Dingen verbindet, statt sie einfach zu verbrauchen, könnte die autopoietischen Kräfte der Lebenswelt im Ganzen stärken. Denn dann rückt der Mensch wieder in die Mitte dieser natürlichen Schöpfungsfähigkeit, die aus sich selbst heraus wirkt.
Schöpferische Erneuerung ist das Wesen des Lebens. Diese Vitalität lehrt uns auch, wie Neues selbst aus dem erwachsen kann, wofür wir keine Verwendung mehr haben. Koyakata Yoshikazu, Betreiber einer Glaserei in Kobe, etwa sieht in den stilvoll geprägten Glasscheiben alter Raumteiler, die er bei Renovierungen entsorgen soll, nicht Abfall, sondern eine Lebendigkeit, die weiterleben kann. Die Muster von zartem Bambus, üppigen Chrysanthemen oder lieblichen Kirschblüten inspirieren ihn, dem Glas ein neues Leben zu schenken, indem er kunstvolles Geschirr daraus fertigt. »In der Form der Teller gewinnen die ursprünglichen Muster noch mehr Tiefe, verglichen mit ihrer früheren Existenz als Glasscheiben. Ich fühle mich gesegnet, diese Arbeit zu tun«, erzählt er. Es ist eine Transformation, die dem ewigen Prozess des Werdens und Vergehens und Neu-Werdens der Natur nahe ist. Hiraki Yui, eine Kundin des Glasers, liebt es, von dem Geschirr zu essen: »Mich erinnern die Teller an das Haus meiner Großmutter. In meinem eigenen Zuhause ist mir dieser Hauch von Nostalgie wichtig.« Jede ihrer Töchter hat einen eigenen Teller mit ihrem Lieblingsmotiv. Das Glas der Teller knüpft Bande über Generationen. In ihm lebt das Gebäude, dessen Räume es einst schmückte. Und nun auch das Nährende der Mahlzeiten der Familie. Wie auch der Quarzsand und Kalk, aus dem es einmal gefertigt wurde. Anders als beim Recycling, bei dem die Materialien meist etwas von ihrer Qualität einbüßen, bringt diese Verwandlung nicht nur neue Gebrauchsgegenstände hervor, sondern sie weckt auch den Sinn für diesen selbstschöpferischen, alles umfassenden Kreislauf. Das organische Beziehungsgewebe, das Mensch und Mitwelt vereint, bringt seit Millionen von Jahren auf diese Weise stetig neues Leben hervor. Und vielleicht ist es gerade die schlichte Demut vor diesem Wunder, die es ermöglicht, diese natürliche Bewegung wieder wirksam werden zu lassen. Dann erblüht das Leben aus sich selbst heraus und der Mensch mit ihm.