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Der Komponist Sven Helbig lebt für die musikalische Grenzüberschreitung. In seinen Werken verbindet er Klassik, elektronische Musik und Einflüsse aus Pop und Jazz. Entscheidend bei der Wahl seiner musikalischen Mittel ist für ihn die tiefe Wirkung beim Publikum. Seine Werke sollen Geschichten erzählen, über unsere tiefsten Sehnsüchte nach Verbundenheit und Sinnhaftigkeit. Wir sprachen mit dem Dresdner Komponisten über die Kraft der Musik in Zeiten der ökologischen und sozialen Fragmentierung.
evolve: Wie bist du zur Musik gekommen?
Sven Helbig: Es war eine Liebe auf den ersten Blick. Immer, wenn ich mit Musik in Kontakt kam, hat sie mich viel stärker angesprochen als alles andere, was z. B. meine Freunde interessierte oder was man eben sonst noch als kleiner Junge tun konnte in Eisenhüttenstadt, einer Planstadt am östlichen Rand der Republik, die vor allen Dingen gebaut wurde, um Arbeiter des Stahlwerks zu beherbergen – ohne Orchester, ohne alte Kunstsammlung, ohne klassisches Theater, also allem, was man sich heute unter einem kultivierten Leben vorstellt. In der Rückschau finde ich besonders interessant, dass ich dort doch alles entdeckt habe, was ich brauchte. Ich habe alle Philosophien, alle Musik und Literatur entdeckt, die mich interessierte. Ich wusste trotz allem etwas über Sören Kierkegaard, Richard Strauss, Balzac, Zola oder Karl Jaspers. Irgendwie gibt es eben auch in solch einem abgeschotteten System alle wichtigen Informationen.
Musik habe ich als Mitteilung empfunden, auf die ich antworten wollte.
Als kleiner Junge habe ich Radios gebaut und konnte nur einen Sender empfangen, nämlich Radio DDR 1. Nachts lief Orchestermusik, dort habe ich einen Klang gehört, von dem ich nicht wusste, wie er erzeugt wird, weil ich noch nie ein Orchester gesehen hatte. Es war eine Klangfläche, die ich in Mono durch meine kleinen Kopfhörer heimlich hörte. Davon ging eine Faszination aus, es war ein Lebensraum, in den ich eintrat, wie in eine andere Welt. Aus dieser Faszination heraus spielte ich dann in einer Blaskapelle Klarinette, später lernte ich Gitarre und Schlagzeug. Das Schlagzeug war der stärkste Magnet, aber in meinem Radio hörte ich jede Art Musik. Neben der Klassik liefen auf RIAS 2 – dem Rundfunk im amerikanischen Sektor – auch Soul und Rhythm and Blues. Die Energie darin hat mich begeistert.
e: Wie kam es dann dazu, dass du nicht nur ein Instrument spielen, sondern auch Musik komponieren wolltest?
SH: Das Bedürfnis, mich musikalisch auf eine Weise zu äußern, war immer da. Vom ersten Moment an, als ich solche Klänge hörte, wollte ich nicht bloß der sein, der sie hört, sondern ich wollte sie auch herstellen können. Musik habe ich als Mitteilung empfunden, auf die ich antworten wollte, mit der ich in einen Dialog treten wollte.
Keine Mauern
e: Du verbindest in deiner Musik verschiedene Genres und du sprichst dich für eine Grenzüberschreitung zwischen klassischer Musik und Pop aus. Und du nutzt in deinen Kompositionen Elemente der klassischen und der elektronischen Musik. Wie hat sich dieses Musikverständnis entwickelt?
SH: Durch den Einfluss des Radios und durch die Abwesenheit von Orten, an denen man ausschließlich bestimmte Genres spielt, hat sich das wohl so entwickelt. Für mich gab es nur die pure Musik. Auch wenn es ganz andere Musik war, wie beispielsweise Blues, hatte ich den Eindruck, dass dahinter die gleichen Sehnsüchte und Ängste stehen, die diese Komponisten und Musiker auf ihre Weise ausdrückten. Ich musste also keine Mauern überwinden, weil ich sie durch diese Situation, in der ich lebte, nie gezogen habe.
Ich bin 1992 für einige Zeit nach New York gegangen und war abwechselnd in der Met und den schwarzen Klubs in Harlem. »Unser « Kurt Masur aus dem Osten war Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker und ich kaufte mir für alles Geld, das ich hatte, Tickets, um nahe an der Bühne zu sitzen. Und dienstags ging ich ins »Cafe Wha?« und spielte am Schlagzeug Jam-Sessions. In diesen beiden Welten, durch den Tannhäuser oder die Funk Night im »Cafe Wha?«, kam ich in den gleichen beseelten Zustand.
e: In deinen Kompositionen nutzt du auch sehr unterschiedliche Stilmittel. Wie entwickelt sich so ein Werk und wie entscheidest du, welche Stilmittel du verwendest?
SH: Das kommt immer darauf an, was ich gerade sagen möchte. Der Ursprung meiner Musik war, dass ich irgendwie antworten wollte. Und so ist das auch geblieben, in aller Musik gibt es am Anfang immer die Frage: Warum will ich das jetzt mitteilen? Für mich ist in der Musik das Erzählerische sehr wichtig und ich beziehe das Vokabular für die Musik oft aus der bildenden Kunst und der Literatur.
Bei »I eat the sun and drink the rain« wusste ich, dass ich das Thema mit einem Chor umsetzen wollte, und habe dann auch Texte dafür geschrieben. Bei »Tres Momentos« ging es um die drei Stufen, die ich in allem Entstehen wahrnehme, die sich am besten mit einem Kammerorchester umsetzen ließen. Und mit den »Pocket-Symphonies« wollte ich eine Brücke zwischen Pop und Klassik schlagen. Wenn ein Songwriter wie Bill Callahan mit drei Harmonien einen großartigen Song wie »Jim Cain« schreibt und Richard Strauss in seinen »Metamorphosen« mit sehr vielen Harmonien ein 25 Minuten langes Stück schreibt, geht es irgendwie um das Gleiche. Aber beide Lager tun immer so, als wäre das andere etwas ganz Anderes. Mit den »Pocket-Symphonies« wollte ich dem nachgehen und die kurze Song-Struktur mit den Mitteln der Symphonik gestalten, um zu schauen, ob man das Große nicht überall im Kleinen findet und umgekehrt das Kleine überall im Großen.
Als ich gestern meine Tochter ins Bett gebracht habe und sie anschaute, wie sie einschläft, habe ich wieder gespürt, dass keine noch so lange Sinfonie in der Lage ist, diese Gefühle wirklich wiederzugeben. Insofern muss man die Diskussion über Länge und musikalische Mittel gar nicht führen. Mit den »Pocket-Symphonies « wollte ich alles, was ich über Oper und Symphonik, über Arrangement und Instrumente, ihren Klang und ihre Kombination weiß, nutzen und bei dem 3 ½-minütigen Song-Format bleiben. Ich wollte aufzeigen, dass der Bauplan für einen gesamten Organismus in einer Zelle vorhanden ist. Jede Zelle ist im Besitz der komplexen Vollständigkeit.
Suche nach Verbundenheit
e: Das ist dir auch wirklich gut gelungen. Ich finde sehr eindrücklich, was sich in diesen kurzen Stücken ausdrückt. Dein Werk »I eat the sun and drink the rain« scheint sich im Unterschied dazu an der romantischen Liedtradition und an sakraler Chormusik zu orientieren. Was hat dich dazu bewegt, dich in solch eine musikalische Richtung zu bewegen?
SH: Es gab eine Zeit, da habe ich um mich herum beobachtet, wie intensiv das Bedürfnis des Menschen ist, seine eigene Begrenztheit, Beschränktheit und Fehlbarkeit zu überwinden, indem man in etwas Größerem aufgeht – sei es in Vereinen, Parteien, Kirchen oder der Ehe. Diesem Bedürfnis wollte ich in Texten nachgehen, wobei uns die wichtigste Verbindung leider abhandenkommt, die Verbindung des Einzelnen mit dem Ganzen der Natur. Diese Zugehörigkeit ist in dem Titelstück »I eat the sun and drink the rain« thematisiert, obwohl Zugehörigkeit das falsche Wort ist, weil es von einer Trennung ausgeht, die es so gar nicht gibt. Unser Verhältnis zur Natur ist als Thema heute sehr abgegriffen, weil wir jeden Tag darüber lesen. Aber es ist ein Thema, das über allen anderen steht, sei es die Flüchtlingspolitik, der Populismus oder Trump. Bei Diskussionen über Kultur und Musik und verschiedene Genres habe ich immer mehr das Gefühl, als diskutierten wir über einen Walzer auf einem sinkenden Schiff. Denn heute steht durch unseren Umgang mit der Natur der Mensch als solcher in Frage, und zwar auf allerkürzeste Zukunft. Vor diesem Hintergrund überhaupt noch über musikalische Mittel zu reden, das finde ich gelinde gesagt überflüssig. Mir geht es vor allem darum, dass die Musik so intensiv wie möglich ist, um eine Verfassung im Zuhörer zu inspirieren, in der er vergisst, in welchen Zwängen und Fesseln er lebt, und er vielleicht neu über sein Leben und sein Verhalten nachdenken kann. Ich möchte so schnell wie möglich so viele Menschen wie möglich so intensiv wie möglich erschüttern, ergreifen oder berühren. In einem Konzert kann man die Kraft und Muße finden, über sich selbst hinauszudenken und eine Idee zu entwickeln, wie wir als Menschen leben wollen. Ich will es gar nicht Utopie nennen, aber man kann den Anzug verlassen, in dem man den ganzen Tag steckt. Dazu ist heute Musik da und dann muss es schnell auch zu Gesprächen kommen. Ich freue mich, wenn ich nach einem Konzert schnell von der Bühne komme und Menschen treffe und mit ihnen rede.
e: Diese Intensität spürt man in dem Stück. Und ich habe auch das Anliegen wahrgenommen, die Begegnung oder Verbundenheit mit der Natur und auch einer übergeordneten Sinn-Sphäre zu thematisieren. In dem Lied »Meernacht« heißt es zum Beispiel: »An allen Ufern Glaube, in allen Sternen Sinn, wo der Blick das Nichts entzündet, fliegen die Gedanken hin.« Das hat für mich schon eine sakrale Anmutung. Kannst du zu diesem Stück noch etwas sagen?
SH: Zunächst betrifft es deine Frage zu den verschiedenen Genres, die eigentlich künstlich sind. In dem Stück heißt es, dass an allen Ufern des Meeres ein Mensch sitzt und etwas in den Sternen sieht und daraus seine Welt gestaltet. Und auf der anderen Seite sitzt ein Mensch, der genau das Gleiche sieht und völlig andere Kirchen und Gebäude baut und andere Bücher schreibt. Dabei fliegen ihre Gedanken hin zu etwas, das eigentlich gar nicht sichtbar ist. Der eigentliche Sinn ist nicht sichtbar dort draußen, sondern er ist innerlich wahrnehmbar.
e: In mehreren Stücken klingt mit Metaphern wie der Meernacht, der Unendlichkeit und Ewigkeit auch eine transzendente Sphäre an.Hast du einen Bezug zu einem spirituellen Empfinden, wie immer man das definiert?
SH: Diese spirituelle Ebene ist mir wichtig. Ich gehöre keiner Kirche an, weil mich das einschränkt. Die drei monotheistischen Weltreligionen verehren denselben Gott, den sie völlig unterschiedlich interpretieren. Oft halten die Menschen an ihrer Interpretation fest, weil sie ihnen Struktur gibt. In dem schönen Text »L’infinito« von Leopardi, den ich vertont habe, beschreibt er eine Hecke, die ihm den Blick verstellt, und in der Begrenztheit findet er die Unendlichkeit. Er findet sie in sich selbst. Er starrt nicht auf irgendetwas und projiziert etwas hinein, was nur falsch sein kann, weil diese Dimensionen in einem selbst liegen.
Aus diesem Berührtsein kommen diese tieferen Fragen: Wer sind wir als Menschen? Sind wir nur Wesen aus Wasser und Kohlenstoff, die kurze Zeit bewusst sind und dann wieder vergehen? Was ist dieser eigene Kosmos, den man in sich empfindet? Ein unterschwelliges Thema in »I eat the sun and drink the rain« ist unsere falsche Vorstellung von privat und individuell. Wir haben eine völlig falsche Vorstellung von dem, was unsere Privatsache ist und was nicht. Uns wird den ganzen Tag erzählt, dass wir alle ganz individuell sind und unser Leben gestalten und es egal ist, was wir tun. Es ist eben nicht egal, was wir essen, welches Auto wir fahren oder was wir kommunizieren. Denn unser individueller Lebensstil hat Auswirkungen auf das ökologische und soziale Ganze. Das ist die ganz konkrete Dimension unserer Verbundenheit.
Der eigentliche Sinn ist nicht sichtbar dort draußen, sondern er ist innerlich wahrnehmbar.
Den Menschen im Bick
e: Deine Arbeit über Genre-Grenzen hinweg zeigt sich auch in der Zusammenarbeit mit Rammstein, den Pet Shop Boys oder auch in der Musik für Bühnenstücke, Tanztheater oder bei Inszenierung oder Regie, wie in der Dresdner Hochhaus-Sinfonie. Was reizt dich an solchen Projekten mit anderen Künstlern oder für Bühne und Tanz?
SH: Es ist eine Erweiterung der Mittel, weil man mit der Musik nur Menschen erreicht, die sich für Musik interessieren. Die Zusammenarbeit mit dem Tanz stärkt die eigene Ausdrucksfähigkeit. Ich versuche, ein Anliegen künstlerisch zu gestalten, ohne den reinen künstlerischen Genuss dadurch zu vernachlässigen. Mit der Musik dreht man sich dabei auch mal im Kreis, dann ist es bereichernd, eine andere Ausdrucksform hinzuzunehmen. Das ist wie ein neues Instrument, das auch andere Menschen erreicht. Zu einer Hochhaus-Sinfonie mit den Pet Shop Boys zur 800-Jahr-Feier von Dresden gehen auch Menschen, die sich kein Ticket für mein Konzert kaufen würden. Solche Projekte sind hilfreich, um einen Schritt zurückzugehen und sich zu fragen, für wen man dieses Stück gestaltet. Wenn ich für Rammstein oder die Pet Shop Boys arrangiere, muss ich sehen, wie man auf deren Frequenz sendet und wie ich mich dort einbringen kann, sodass es in deren Kommunikation zwischen Band und Publikum einen Effekt hat. Dabei gehe ich mitunter sehr minimal vor, denn da ist kein Raum für opulente Arrangements. Diese Vereinfachung der Mittel ist wichtig,weil man sich als Künstler sehr schnell in Sphären hochdenkt, wo zum Beispiel kein Kinderlied oder Schlaflied entstehen kann. Es kann ja nichts Schlechtes oder Verwerfliches sein, auch mal ein Schlaflied zu schreiben. Schubert und Brahms haben das gemacht, heute traut sich das keiner mehr, der als Komponist wahrgenommen werden will. Wenn Künstler sich als etwas Besonderes fühlen und keine Lieder schreiben, die einfache Menschen verstehen können, dann macht es eben Helene Fischer. Und wenn Philosophen und Politiker dem einfachen Menschen die Welt nicht erklären können, dann macht das eben Lutz Bachmann.
Jede Zelle ist im Besitz der komplexen Vollständigkeit.
e: Du hast jetzt den Pegida-Gründer Lutz Bachmann erwähnt. Du lebst in Dresden, das als eine gespaltene Stadt gilt, zwischen Pegida- Sympathisanten und -Gegnern. Wie siehst du dein Wirken als Künstler an so einem Ort?
SH: Das ist eine wichtige Frage, über die ich viel nachdenke. Aber es ist das Privileg des Künstlers, das alles ein bisschen von der Tagespolitik wegzuholen. Wir hatten in Deutschland ein interessantes Flächenexperiment: Die Bevölkerung wurde für 40 Jahre in zwei Hälften geteilt, dann wurde die Teilung wieder aufgehoben und es gab zwei verschiedene Bevölkerungen. Die aus dem Osten nennen die im Westen »Wessis« und die im Westen nennen die aus dem Osten »Ossis«, und beide zeigen mit dem Finger aufeinander. Nehmen wir mal an, man hätte das Land andersherum geteilt, dann wären wir ja die anderen und die anderen wären wir.
Wenn wir uns über die Leute in Dresden oder Chemnitz aufregen, müssen wir fragen, wie sie eigentlich so geworden sind. Wenn wir mit dem Finger auf die Sachsen zeigen und sie für Rassisten halten, sind wir selbst Rassisten. Wir müssen uns vielmehr fragen, wie solches Verhalten entstanden ist und wer davon profitiert hat. Dazu sollten wir tiefer hinterfragen, wie die Entwicklung nach der Wende lief. Oft spielten wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Ostdeutschland war vor allem ein sehr interessanter neuer Markt. Aber auf die demokratische Bildung wurde kaum geachtet.
Ich denke, dass das Problem in allererster Linie ein recht niedriges soziales Bildungsniveau ist. Ein Mangel an sozialer, musischer und naturnaher Bildung verwahrlost die Menschen, und die nächste Generation umso mehr, wenn schon die Eltern in dieser Hinsicht verwahrlost waren.
Ich finde, politisch stimmt der Ton heute oft auf beiden Seiten nicht. Damit will ich Ausschreitungen wie in Chemnitz nicht in Schutz nehmen, ich finde das Verhalten verabscheuungswürdig. Aber diese Menschen darf ich nicht verabscheuen. Das Verabscheuungswürdigste wohnt auch im besten Menschen.
Das Gespräch führte Mike Kauschke.
Author:
Mike Kauschke
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