Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 17, 2014
Der dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson gilt als einer der anerkanntesten und innovativsten zeitgenössischen Künstler. Seine Arbeiten verlassen oft das konventionelle Verständnis von Skulptur oder Installation, am meisten beachtet werden seine großangelegten Kunstprojekte im städtischen Raum. Beispiele dafür sind eine Reihe künstlicher Wasserfälle, die er 2008 in New York City installierte; oder die architektonische Struktur der Fassade des Konzerthauses von Reykjavik. Dabei arbeitet er vor allem mit unbeständigen physikalischen „Materialien“ wie Licht, Luft, Wasser, Bewegung und Reflexion, mit denen er im Betrachter eine Erfahrung inspiriert, die alle Sinne umfasst. Seine bekannte Arbeit „The Weather Project“ in der Turbine Hall der Tate Modern in London im Jahre 2003 gestaltete die Erfahrung einer sonnendurchfluteten Atmosphäre, die viele Besucher dazu bewog, sich auf den Boden zu legen, um diesen Lichtraum möglichst vollkommen zu erleben.
Eliasson lebt und arbeitet in Berlin, wo sein Studio gleichzeitig als Forschungszentrum, Künstleratelier und Lernlabor dient. Carol Raphael und Renata Keller sprachen mit Olafur Eliasson über Kunst, Philosophie und Kreativität.
evolve: Ihre Arbeit hat sich im Laufe der Jahre in Größe und Umfang ständig erweitert und führt den Betrachter in eine umfassendere Erfahrung und dynamischere Auseinandersetzung, als nur ein Gemälde an der Wand oder eine Skulptur in einer Galerie zu betrachten. Was motiviert Sie bei dieser Arbeit?
Olafur Eliasson: Ich bin Teil der Generation, die in den 80ern heranwuchs, als die Phänomenologie einen großen Einfluss auf die Philosophie hatte. Die Phänomenologie lenkte die Aufmerksamkeit auf das Subjekt als Mitschaffenden. Anders gesagt, das Subjekt ist untrennbar vom Objekt. Man kann nicht an ein Objekt denken, ohne gleichzeitig die Rolle des Subjektes zu berücksichtigen.
Zur Zeit der modernistischen Avantgarde lag der Hauptfokus des Künstlers darauf, frei zu werden, sei es von einem Auftraggeber, der Kirche oder reichen Menschen, die sich porträtieren lassen wollten. Die Kunst war unabhängig von anderen Bereichen des Lebens, was natürlich zu unglaublicher Kreativität führte. Aber das Bestehen darauf, von der Gesellschaft unabhängig zu sein, hat auch einen gewissen Grad an Isolation erzeugt. Der größere Zusammenhang ging verloren und der Künstler war von der Gesellschaft abgeschnitten.
Soziale Kunst
Mit der Phänomenologie kam ein anderer Sozialvertrag zustande. Ich bin Teil einer Generation, die nicht nur über Freiheit redete, sondern anfing, sich über Interdependenzen, unsere gegenseitige Abhängigkeit und Verbundenheit, und über Kommunikation Gedanken zu machen. Freiheit bezieht sich auf eine einzelne Person: Ich bin frei. Bei Verantwortung muss man mindestens zwei Menschen berücksichtigen. Wir können nicht verantwortungsbewusst sein, wenn wir allein in der Welt sind. Unsere Verantwortung bezieht sich immer auf ein Gegenüber. Deshalb entwickelte sich auch durch den Einfluss der Phänomenologie in den 1990ern und 2000ern eine neue künstlerische Sprache. Ich sehe mich als Teil dieses Systems.
Sie haben also Recht mit Ihrer Beobachtung, dass der Besucher, der Betrachter oder Nutzer eine zentrale Rolle in meiner Arbeit spielt. Deshalb berücksichtige in meiner Kunst mindestens zwei Menschen. Verantwortung in der Welt zeigt sich erst dann, wenn wir nicht allein sind. In meiner Kunst begebe ich mich deshalb in die Position des anderen, des Betrachters, und sehe meine Arbeit von außen. Verantwortung beginnt mit der empathischen Anstrengung, mich in die Position des anderen zu begeben und die Kunst, die ich schaffe, mit den Augen des anderen zu sehen. Diese Herangehensweise habe ich nicht erfunden und sie wird auch von anderen verfolgt. Man kann allgemein beobachten, dass Kunst oder Kreativität sich vom Thema der individuellen Freiheit zur vielfältigeren Idee der Verantwortung bewegt hat.
Vom Konsumenten zum Kunst-Schaffenden
e: Können Sie mehr dazu sagen, wie diese Verantwortung Ihre Arbeit prägt?
OE: Wenn wir Verantwortung im Kontext von Kunst betrachten, eröffnen sich viele weiterführende Überlegungen. Eine der tiefer gehenden Fragen, die sich auf die Rolle des Subjektes bezieht, ist die des Vertrauens. In unserer marktorientieren Gesellschaft wird der Nutzer oder „Verbraucher“ oft als Konsument verstanden. Das hinterlässt subjektiv im Einzelnen das Gefühl: „Ich werde gefüttert.“ Diese Haltung möchte ich infrage stellen und vorschlagen, dass der Nutzer die Realität ko-produziert und eine aktivere Rolle einnehmen kann, anstatt nur zu konsumieren. Denn ein Produzent oder „Erzeuger“ muss die Verantwortung für das Resultat einer Handlung übernehmen, also für das, was geschieht, wenn er etwas ko-produziert oder kreiert.
Wenn man in ein Museum geht, kann man sich also selbst fragen: Muss mir das Museum alles erzählen, oder ist es nicht vielmehr meine Aufgabe, das Museum zu kreieren?
Durch den Atem berühren wir die Welt mit unserem Inneren.
Allgemein gesprochen gibt es zwei Arten von Museen. Die eine vertraut dem Besucher. Diese Art von Museum erlaubt dem Besucher – phänomenologisch gesprochen – die Rolle des Kunst-Produzenten oder Kunst-Schaffenden einzunehmen. So kann der Besucher seine eigene Geschichte von dem erzählen, was er im Museum sieht oder tut. Andere Museen haben diesen Grad von Vertrauen in den Besucher nicht, und das trifft leider auf viele Museen zu. Dieses fehlende Vertrauen steht in Beziehung zu einem generellen Mangel an Vertrauen, das wir in unserer Gesellschaft heute oft vorfinden. Solche Museen bevormunden die Besucher und machen sie zu Konsumenten, was dazu führt, dass den Besuchern eine begrenztere Bandbreite von Interpretationen der ausgestellten Arbeiten zur Verfügung steht. Ein Museum, das dem Besucher vertraut oder ihn als Produzenten oder „Kunst-Schaffenden“ sieht, bietet mehr Möglichkeiten für viele einzigartige Interpretationen.
Der Grund für mein Interesse an der Rolle des Betrachters meiner Kunst, liegt in der Fähigkeit, einander zu vertrauen. Dieses Vertrauen führt ganz natürlich zu Verantwortung. Verantwortung ist kein Dogma; es ist eine Art Bewegung. Empathie kann, wie wir wissen, die Voraussetzung dafür sein, dass sich Mitgefühl entwickelt, zum Beispiel in einem spirituellen Kontext. Empathie und Mitgefühl sind also nicht nur eine Idee, sondern eher ein Prozess oder ein Weg. Darum ist für mich das Potential des Museums, Wechselwirkungen zu fördern, so bedeutsam. Das sollten wir auch berücksichtigen, wenn wir über die Rolle des Museums in unserer Gesellschaft nachdenken. Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns heute nicht intensiv genug.
Die Abstumpfung überwinden
e: Man könnte also sagen, es geht Ihnen darum, dass der Betrachter alte Gewohnheiten in seiner Beziehung zur Welt loslässt, und die Wirklichkeit in neuer Weise sieht oder seine Aufmerksamkeit anders ausrichtet.
OE: Ja, das ist richtig. Das bezieht sich auf etwas, das ich als „Abstumpfungs-Faktor“ bezeichne. In einigen Bereichen unseres Lebens sind wir so unterstimuliert und in anderen so überstimuliert, dass wir für das Potential unserer Sinne betäubt oder abgestumpft sind. In dieser Abstumpfung gibt es auch eine fehlende Anerkennung der Tatsache, dass unser Handeln Wirkungen nach sich zieht. Wir sagen: Es macht keinen Unterschied, ob ich dies oder das tue – ich muss nicht wählen gehen, ich muss nicht meine Meinung sagen und so weiter. Diese Einstellung spreche ich an.
Ich denke, dass Kreativität im Kern ein starkes Anti-Abstumpfungs-Element in sich trägt. Bei der Kreativität geht es nicht darum, ob man blau oder rot wählt. Es geht um die Konsequenzen, die es für die Welt hat, wenn ich zwischen rot und blau wähle. Und die Konsequenz bezieht sich nicht nur auf den Künstler, sondern auch auf den Betrachter, weil wir es mit einem System zu tun haben. Der Künstler ist nicht nur ein utopischer, freiheitsbesessener Einzelner, ohne Bezug zur Welt. Und das könnte man für das Museum oder eine Institution genauso sagen. Denn die Frage ist: Dreht es sich um Egoismus, Ruhm oder Starkult oder reicht das schöpferische Handeln in die Gemeinschaft oder die Zivilgesellschaft hinein? Hier können Künstler und Museen unabhängig von Marktinteressen wichtige soziale, politische und kulturelle Bereiche thematisieren, oder zum Beispiel Fragen wie Identität und Zugehörigkeit vertiefen. Auf Abstumpfung kann man auf viele Arten antworten.
Atem als Kunstwerk
e: Wir haben „The Weather Project“ in der Tate Modern gesehen und waren von der starken Wirkung sehr überrascht. Wir hatten den Eindruck, wir hätten unsere Umgebung, die Menschen um uns, die Gerüche und Geräusche, viel bewusster wahrgenommen. Es war eine sehr eindrucksvolle Erfahrung, die alle Sinne mit einschloss.
OE: Ja, mich interessiert die Untrennbarkeit von Körper und Geist immer mehr und das Potential dieser untrennbaren Körper/Geist-Einheit. Meine Kunst orientiert sich an unbeständigen Elementen wie Luft, Licht, Wasser oder Bewegung. Diese Elemente geben uns einen Ort der Auseinandersetzung, im Gegensatz zu einem festen Objekt, das man von allen Seiten betrachten kann. Der Raum dieser flüchtigen Elemente ist nicht-hierarchisch. Mit „The Weather Project“ habe ich versucht, mich an den Betrachter zu wenden und ihn in eine Position zu bringen, in der er seine subjektive Erfahrung erleben kann und die Person daneben eine andere Erfahrung empfinden kann. So entsteht plötzlich eher eine plurale Zentralisierung als eine De-Zentralisierung, es ist Einzahl und Mehrzahl, singular und plural, individuell und kollektiv gleichzeitig. Ich bin zu dem Verständnis gekommen, dass es in einigen kontemplativen Traditionen eine ähnliche Vorstellung von Singular und Plural gibt, in der wir gleichzeitig in unserem Körper und doch Teil dieser Welt sind. Atmen, Lachen und Gefühle sind einfach Tore, durch die wir uns dem unglaublichen Potential annähern, das unserem Sein in der Welt innewohnt.
Ich sehe keinen Unterschied zwischen dem Künstler, der eine Farbe auswählt, und dem Politiker, der eine Entscheidung trifft.
Als Menschen befinden wir uns in der außergewöhnlichen Situation, uns unserer Gefühle und ihrer Auswirkungen auf uns bewusst zu sein. Das kann in therapeutischen oder psychoanalytischen Methoden angewendet werden, uns aber auch kontemplative oder spirituelle Dimensionen eröffnen. Diese Wirkung des Fühlens hat mich sehr inspiriert und ich nutze sie zum Beispiel mit meinen Studentinnen und Studenten am Institut für Raumexperimente, wobei Bewegungen aus dem Tai Chi, dem Tanz verwandte, körperbetonte Bewegungen genutzt werden, um die Bewusstheit für den Atmen zu erhöhen.
Denn durch den Atem berühren wir die Welt mit unserem Inneren. Ich glaube schon lange, dass die Luft, die wir einatmen, niemals neutral ist. In meiner Generation ist die Luft zu einem kulturellen Phänomen geworden. Wir haben Verschmutzung und Klimawandel verursacht, und wir müssen uns unserer Verantwortung für diesen Planeten stellen. Atmen wurde zum Teil des Vertrages, den wir mit der Welt abgeschlossen haben, und der darüber entscheidet, ob die Welt sauberer oder schmutziger wird.
Atmen hat für mich als Künstler ein unglaubliches Potential, das ich immer noch erforsche. Es gibt auch ein tiefes kollektives Element des Atmens – eine Synchronisation oder Resonanz. Atmen ist für mich ein Kunstwerk, eine Skulptur, die wir in unserer Brust tragen. Bei Vorträgen sage ich gern: Stellen Sie sich vor, dass die Lunge in Ihnen ein Kunstwerk ist. Ich lenke gern die Aufmerksamkeit auf die Qualität des Atems, auf das Einatmen und Ausatmen, auf die Übergänge zwischen Ein- und Ausatmen und auf den Moment dazwischen, in dem man gar nichts tut. In diesem fundamentalen Akt liegt so viel Kreativität!
e: Ihre künstlerischen Werke entstehen aus der Zusammenarbeit vieler Menschen. Können Sie uns etwas mehr über diesen kreativen Prozess sagen?
OE: Dieser Prozess ist eine Verbindung von kollektiver Kreativität und Pragmatismus. Ungefähr 75 Leute arbeiten Vollzeit in meinem Studio und sind in drei Teams unterteilt. Es gibt ein Team von Handwerkern, eines von Forschern und zum dritten Team gehören Architekten, Ingenieure und andere an, die Entwürfe an Computern gestalten. Wir arbeiten gleichzeitig an fünf bis zehn Projekten, wobei jedes etwa zwei Jahre dauert. Das bedeutet, dass ich mich im Laufe eines Jahres etwas 50 bis 100 Mal mit einem Projekt beschäftige. In die Entstehung jedes Projekt bin ich also direkt eingebunden.
„Realitäts-Maschine“ Welt
e: Denken Sie, dass Ihre Kunst die Welt und die Kultur verändern kann?
OE: Ich sehe die Welt als einen Ort, der dynamisch und nicht erstarrt ist. Die Welt verändert und reproduziert sich in jedem Augenblick. Sie verändert sich ständig und ist im Fluss. Wir könnten sie auch als „Realitäts-Maschine“ bezeichnen. Sie ist voller Machstrukturen, Systeme und Institutionen, von denen sich manche ändern und andere weniger an Veränderung interessiert sind. Kunst zu machen oder kreativ zu sein, ist ein wichtiger Teil dieser Maschine. Wenn ich Kunst mache, produziere ich etwas und deshalb schaffe ich Realität. Das ist die Verantwortung, von der ich schon gesprochen habe, und ich nehme sie sehr ernst.
Mir ist bewusst, dass sich die Kunst und die Kultur überall auf der Welt in sehr unterschiedlichen Stadien befinden und dass das Leben in einigen Gesellschaften schwierig und gefährlich ist. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass eine kreative Entscheidung zu treffen genauso wichtig ist, wie eine politische oder geschäftliche Entscheidung. Ich sehe also keinen Unterschied zwischen dem Künstler, der eine Farbe auswählt, und dem Politiker, der eine Entscheidung trifft.
Meiner Ansicht nach gibt es viele Möglichkeiten, um zu sehen wie Kreativität und kreative Entscheidungen die Welt beeinflussen. Ich sitze mit meinem Team oft da und überlege, ob ein Stück verbogenes Metall, das irgendwo an einem Gebäude hängt, stärker gebogen oder andersfarbig sein sollte. Mit dieser Entscheidungsfindung und der Abwägung der richtigen Entscheidung erreiche und beeinflusse ich die Welt. Und wenn ich in die Welt schaue, finde ich oft eine Antwort. Mein Atelier oder Labor liegt irgendwo zwischen einem Mikroskop und einer Reihe von Ferngläsern. Ich schaue etwas sehr genau an, aber die Antwort finde ich, in dem ich in die Welt schaue.
So verstehe ich Kreativität und deshalb denke ich, dass es wichtig ist, Kreativität als eine Kraft zu betrachten. Kreativität ist eine Sprache, durch die wir von der Welt berührt werden können. Es ist wichtig, dass wir Künstler Verantwortung für die Rolle der Kreativität übernehmen, die wir entwickelt und gepflegt haben. Das Wort Kreativität sollte nicht zu etwas werden, das beispielsweise ein Geschäftsführer benutzt, um die Bilanzen seines Unternehmens mit ein paar sozialen Taten zu dekorieren. Für mich ist Kreativität etwas sehr Konkretes und Politisches und deshalb ist es so wichtig, sie zu entwickeln und zu fördern.