Künstler des Unsichtbaren

Our Emotional Participation in the World
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Interview
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April 17, 2019

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Ausgabe 22 / 2019:
|
April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Wandel durch Beobachten

Wie kann man die unsichtbaren Dynamiken, Prozesse und Lebensimpulse sozialer Felder sichtbar machen und gestalten? Diese Frage bewegt Allan Kaplan und Sue Davidoff in ihrer Arbeit, die sich der Erforschung und Vermittlung einer tieferen Präsenz und Beobachtungsfähigkeit in lebendigen Prozessen widmet.

evolve: Ihr nennt euch Künstler des Unsichtbaren. Was ist damit gemeint? Wie drückt sich das in eurer Arbeit aus?

Allan Kaplan: Wir arbeiten stark nach einer Methodik und einem Verständnis, das auf Goethe zurückgeht. Teil dieser Goetheanistischen Methodik ist es, mit unserer Beobachtung, unserem Denken, mit unserem ganzen Sein in Lebensprozesse einzutreten, um zu verstehen, wie sie entstehen, wie sie sich entwickeln, wie das Leben Prozesse des Werdens ermöglicht. Davon ausgehend können wir mit jeder sozialen Situation, die wir vorfinden, umgehen und sie führen.

Jede soziale Gruppe bildet im Laufe ihres Wachstums einen Organismus. Das ist etwas Lebendiges, man könnte sagen, dass ein einheitliches Feld entsteht, in dem etwas Verbundenes oder Zusammenhängendes zugänglich wird. Es gibt ein Feld, das man sehen kann, und einen Prozess, der sich zeigt. Teil unserer Arbeit ist es, den Menschen dabei zu helfen, dieses Feld zu beobachten, um es so sichtbar zu machen. Doch es geht nicht nur darum, die unterschiedlichen Individuen innerhalb der Gruppe sichtbar zu machen und die Prozesse, die sie durchlaufen. Und es geht auch nicht nur um die Beziehungen zwischen den Individuen, sondern es geht auch um die Erkenntnis, dass die Gruppe als Ganzes bereits ein individuelles Wesen ist. Es hat seine eigene Geschichte, seine eigene Biografie, seine eigenen Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Wenn wir das erkennen, können wir vorausahnen, wie sich dieses Ganze weiterentwickeln kann und können konstruktiv mit dem arbeiten, was wir sehen.

Jede soziale Gruppe bildet im Laufe ihres Wachstums einen Organismus. 

Allan Kaplan

Sue Davidoff: Dabei gibt es nichts Absolutes. Wir arbeiten bewusst in einem kontinuierlichen Prozess, in dem Verständnis, dass jede soziale Gruppierung ein lebendiger Organismus ist, und wir, indem wir die Disziplin der inneren und äußeren Beobachtung lernen, erkennen und begreifen können, was diesen lebendigen Organismus ausmacht. Doch wenn wir davon sprechen, »es sichtbar zu machen«, geht es nicht um physische Sichtbarkeit. Wir meinen damit, es sichtbar zu machen für unser Verständnis davon, was dieser Organismus ist. Und dieses Verständnis basiert auf unserer Beobachtung.

Diese Ebene der Beobachtung, von der aus wir der sozialen Welt oder der Natur tatsächlich so begegnen, wie sie aus sich selbst heraus existiert, erfordert eine große Disziplin. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir nicht in unseren eigenen Vermutungen, Annahmen und Schlussfolgerungen bleiben, sondern in der Lage sind, offen und aufmerksam für das zu sein, was ist. Je mehr wir beobachten, desto mehr sehen wir, und je mehr wir sehen, desto mehr können wir auf eine Weise in der Welt sein, die das Leben unterstützt, anstatt es einzuschränken.

Body Space Nave Mind, 2004, Collection: 21st Century Museum of Contemporary Art, Kanazawa, © Ernesto Neto, Foto: Fukunaga Kazuo

AK: Goethe sagte: »Es gibt eine Art des Denkens, die auch eine Art der Anschauung ist und es gibt eine Art der Anschauung, die auch ein Denken ist.« Hier kommt der Ausdruck »Künstler des Unsichtbaren« ins Spiel. Wir sehen nicht etwas tatsächlich Physisches, nicht das Ding selbst. Sondern da gibt es einen Prozess, etwas, das in Bewegung ist, das sich im Zwischenraum ereignet, und wir sehen diesen Prozess durch unsere Vorstellungskraft. Denn erst wenn wir unsere Vorstellungskraft auf der Grundlage dessen entwickeln, was wir physisch sehen, haben wir Zugang zu dieser Bewegung.

SD: Und wir sind nicht getrennt von dem, was wir sehen. So ist also das Ausmaß, in dem wir sehen können, selbst auch Teil des Organismus, der sichtbar wird.

AK: Wir werden Teil des Organismus, und dieser kann sich seiner selbst bewusst werden, wenn ich ihn sehen kann und wenn ich anderen in der Gruppe dabei helfe, ihn zu sehen. So wird er sich langsam seiner selbst immer mehr bewusst.

Ein wachsender Prozess des Werdens

e: Wenn ihr von Vorstellungskraft sprecht, dann meint ihr keine Fantasien, sondern eine subtile Wahrnehmung; etwas das erfahrbar ist, aber nicht in einem konzeptuellen Sinn. Wir werden uns gemeinsam darüber bewusst und wenn wir über das sprechen, was es ist, dann vertieft deine Erfahrung davon die meinige.

SD: Ja, und die Vorstellungskraft bleibt der Beobachtung treu, bleibt in ihr verwurzelt. Das unterscheidet sie von einer Fantasie. Je mehr wir in der Lage sind, uns beim Beobachten zu beobachten, desto näher kommen wir dem Inneren dieses Organismus und können ihm durch unsere aktive innere Vorstellungskraft Ausdruck verleihen.

AK: Diese aktive innere Vorstellungskraft entsteht durch Beobachtung. Es gibt starke Anzeichen dafür, dass alles, was lebt, sich in einem Prozess befindet, in einem Prozess der Bewegung, in einem wachsenden Prozess des Werdens. Aber wir sehen die Dinge in einzelnen Augenblicken, wie in einem Film, wie gerahmte Einzelbilder. Wenn wir diese Einzelaufnahmen in unseren Gedanken in eine Abfolge bringen, und in unserem Gedächtnis von einer zur anderen gehen, können wir damit beginnen, unsere Beobachtung und unser Denken so zu trainieren, dass wir diese Bewegung sehen. Das nennen wir Vorstellungskraft. Es ist der Versuch eines disziplinierten und präzisen Sehens einer Bewegung, von der wir wissen, dass sie stattfindet, die wir aber oft nicht unmittelbar vor uns sehen können.

e: Wie sieht eure Arbeit mit Menschen in der Praxis aus?

AK: In der Gruppe, die diese Methode lernt, treffen wir uns regelmäßig und zwischen den einzelnen Treffen gibt es Beobachtungsübungen anhand von Pflanzen oder des Wetters. In einer Übung geht es um eine Konfliktsituation. Kein schwerer Konflikt, z. B. etwas, das dich an einer Person stört, mit der du oft Kontakt hast. Du hast schon versucht, die Beziehung und das Feld zu verändern, aber ohne Erfolg. Die Aufgabe besteht darin, damit aufzuhören etwas verändern zu wollen, und stattdessen ganz genau zu beobachten, was du tust, wenn du diese Person triffst und was zwischen euch und in der Beziehung geschieht.

Du sollst nur beobachten und dir Notizen machen. Das ist alles, kein Versuch mehr, etwas zu verändern, wenn du in die Begegnung gehst. Wenn die Leute dann nach ein paar Monaten wiederkommen, sind sie völlig erstaunt über das, was geschehen ist. Durch diesen Prozess haben nicht nur sie etwas über sich und die Situation gelernt, auch die anderen Beteiligten haben gelernt. Und nicht nur sie veränderten ihre Beziehung zu dem Konflikt, sondern auch die Menschen, die sie beobachteten, veränderten sich. Der Konflikt löste sich auf, einfach dadurch, dass sie ihn auf nicht-instrumentelle Art beobachteten, ohne etwas verändern zu wollen. Mit anderen Worten: Das Ziel ihrer Achtsamkeit war nicht, etwas zu tun – das einzige Ziel war, achtsam zu sein.

Beobachten, um zu verstehen

e: Es berührt mich sehr, wenn ich daran denke, wie sehr wir einander »einfrieren«. Das geschieht in persönlichen Beziehungen, aber auch kulturell und sozial. Es ist dieses »Ich weiß, wer du bist«, bei dem wir keinen Gedanken daran verschwenden, dass dies nur die eigenen Vermutungen sind.

AK: Im Kern dieser Übung liegt etwas sehr Rätselhaftes, Mysteriöses und Wunderbares. Goethe drückte es sinngemäß so aus: Es gibt unterschiedliche Wege der Beobachtung. Es gibt manche Beobachtungen, bei denen wir die Welt betrachten, um etwas in ihr zu tun, und es gibt andere Beobachtungen, bei denen wir betrachten, um zu verstehen.

Wir arbeiten damit, zu beobachten, um zu verstehen und nicht zu versuchen, etwas zu verändern. Veränderung geschieht vermutlich viel eher durch Beobachtung, um zu verstehen, als durch Beobachtung, bei der man denkt: Wie kann ich das ändern?

SD: Durch die zuletzt genannte Übung können wir unsere Vermutungen und Urteile erkennen. Es ist eine Übung, durch die das Unsichtbare sichtbar wird. Die Menschen leben in diesem unsichtbaren und unbewussten Bereich, und wenn er sichtbar und bewusst wird, verändert sich alles.

e: Was lernt ihr durch diese Praxis? Auf gewisse Weise demontiert ihr unsere Vorstellungen davon, wie die Welt funktioniert. Wie ist es, wenn man herausfindet, dass die Welt nicht so instrumentell funktioniert, wie wir oft annehmen?

SD: Wir lernen die ganze Zeit, und jeden Moment taucht eine neue Einsicht und ein neues Verständ - nis auf. Wichtig ist, dass wir nie das gleiche Programm oder den gleichen Prozess wiederholen. Natürlich greifen wir auf einige grundlegende Übungen zurück, die entworfen wurden, um die Fähigkeiten auszubilden, die für diese Arbeit erforderlich sind. Aber wir haben keine festen Programme, und dadurch öffnet sich unser eigener Raum dafür, kontinuierlich zu lernen.

Im Moment ist die stärkste Einsicht für mich, unseren Platz in der natürlichen Welt zu erkennen. Durch den Einfluss der Moderne und der Postmoderne haben wir uns von der Natur abgetrennt. Das Wichtigste ist jetzt, es dem Menschen zu ermöglichen, seine Verbindung mit der natürlichen Welt wahrzunehmen, denn daraus folgt alles andere. Das Gefühl der Trennung und Entfremdung, aus dem heraus wir im Namen des Fortschritts destruktiv handeln, kann nicht bestehen bleiben, wenn wir diese Verbundenheit spüren und Lebensprozesse aus sich selbst heraus sehen, erfahren und verstehen. Es wird mir immer wichtiger, Menschen den Raum und die Möglichkeit zu bieten, wirklich zu erfahren, wo ihr Platz in Beziehung zur Natur ist.

AK: Durch diese Übung lernen wir auch, dass Zukunft das ist, was wir jetzt tun. Oft haben wir die Tendenz, irgendwelche Dinge, die Situation, in der wir uns befinden, oder uns selbst ändern zu wollen. Wir glauben, auf diese Veränderung hinarbeiten und die Zukunft planen zu müssen. Aber da gibt es nichts, auf das wir hinarbeiten können, damit sich die Zukunft verändert. Die Zukunft entsteht aus unseren jetzigen Handlungen, aus unserem jetzigen Denken. Früher hatten wir als Berater für Organisationsentwicklung mit strategischer Planung zu tun, bei der wir unsere Strategie auf eine veränderte Zukunft hin festlegten. Heute interessiert mich dieses instrumentelle, kausale, mechanische Verständnis von Veränderung nicht mehr. Veränderung geschieht auf andere Weise: Die Zukunft hängt von dem ab, was ich jetzt tue, nicht von dem, was ich glaube, dass ich es in der Zukunft tun werde.

Die andere Erkenntnis, die ich aus dieser Arbeit gewonnen habe, ist, dass du immer genau durch das hindurchgehen musst, was du vermeidest oder leugnest oder vor dem du Angst hast. Denn du kommst nicht darüber hinweg, indem du etwas umgehst oder dir wünschst, es wäre nicht mehr da, sondern indem du wirklich vollkommen hineingehst. Das ist der Weg, um diese Blockade zu durchbrechen.

Wir können so offen sein, dass wir uns durch die Situation verändern lassen.

Sue Davidoff

SD: Ja, anstatt aus der Haltung und dem Willen zu handeln, etwas zu ändern, geht es darum, offen genug zu sein, um sich durch die Situation verändern zu lassen. Durch diese Hingabe geschieht wirkliche Veränderung: Wenn ich anders werde durch meine Offenheit für das, was ich in der Welt um mich herum erfahre.

AK: Je mehr ich mich der Veränderung öffne, desto mehr verändert sich die Welt. Ansonsten bleibt alles beim Alten.

Der Körper als Organ der Wahrnehmung

e: Was du sagst, ist schwer fassbar, man kann es nur selbst erfahren.

SD: Definitiv. Es ist eine Erfahrung des ganzen Körpers, es ist nicht nur ein Gedanke im Kopf. Wenn es geschieht, kannst du sehen, wie es den ganzen Körper durchströmt.

AK: Mir fällt ein Beispiel dazu ein: Vor einigen Jahren hielt ich in Südafrika einen Workshop bei einer Organisation, in der es eine große Kluft zwischen Schwarzen und Weißen gab. Das Management-Team war weiß, die Arbeiter schwarz. Ich unterstützte den Gesprächsprozess zwischen ihnen. Aber das weiße Management konnte nicht zuhören. Sie wollten es, es waren gute Leute in einer Non-Profit-Organisation für sozialen Wandel. Bis zu einem bestimmten Grad wussten alle, worum es ging, aber sie konnten sich nicht verändern. Dann trafen eines Tages ein weißer Manager und ein Schwarzer in einem Konflikt aufeinander und zwischen ihnen geschah etwas. An dem Abend ging der weiße Manager sehr verspannt und mit verdrängten Problemen schlafen und als er am nächsten Morgen hereinkam, war sein ganzer Körper locker und gelöst. Anstatt in einer autoritären Haltung daherzukommen, war er ungezwungen und es war, als ob er fließen würde. Seine Beziehungen innerhalb der gesamten Organisation wandelten sich. In seinem Körper war er ein anderer Mensch, denn auf einmal hatte er anderen erlaubt, an ihn heranzukommen, ihn zu berühren.

e: Wie arbeitet ihr, wenn ihr die Beobachtung der Natur als einen Weg in soziale Prozesse nutzt?

SD: Wir helfen Menschen, die verschiedenen Arten wahrzunehmen, auf die wir uns beobachten und uns einstimmen. Wir gehen of über die faktischen Aspekte einer Naturerscheinung hinweg und springen in alle möglichen Vermutungen über ihren Ursprung, ihren Zweck, ihre Schönheit, ihre Hässlichkeit, ihre Struktur oder in ein abstraktes Wissen darüber. Wir lehren Menschen, aus einer faktischen Perspektive präzise zu beobachten und dabei nicht nur die Augen zu benutzen, sondern auch den Tast-, Geruchs- und Gehörsinn; all diese Sinne werden mit einbezogen, damit wir so viel wie möglich über dieses natürliche Phänomen entdecken.

Dieser Prozess hat kein Ende, er bildet die Grundlage, um die Fähigkeiten zu entwickeln, mit denen wir eine Erscheinung auf immer tieferen Ebenen erforschen und uns vom Sichtbaren zum Unsichtbaren bewegen. Indem wir uns auf die eher unsichtbaren Aspekte eines Phänomens zubewegen, nehmen wir alles mit uns, was wir bis zu diesem Punkt getan haben. Zur Beobachtung gehört auch, Menschen zu lehren, jedes Phänomen als lebendig zu sehen, als einen Prozess, in Bewegung – und sie zu lehren, wie sie diese Bewegung sehen können. Das sind zwei sehr große Bereiche, und wir verbringen viel Zeit mit verschiedenen Übungen, die dabei helfen, diese Fähigkeiten aufzubauen.

AK: Das ist wohl das, was wir am meisten mit Menschen tun. Wir können uns dahin entwickeln, soziale Situationen durch präzise Übungen innerhalb der Natur zu sehen. Wir selbst werden immer aus der Natur geboren, also wird auch unsere Beobachtung daraus geboren.

SD: Die Natur befähigt Menschen auch dazu, diese Verbundenheit wahrzunehmen. Und das hat nichts mit Sentimentalität zu tun. Es entsteht wirklich aus der Erfahrung, dass mit immer tieferer Beobachtungsfähigkeit unsere Liebe wächst.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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