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Kolumne
Published On:

November 2, 2021

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Ausgabe 32 / 2021:
|
November 2021
Der Markt
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Der Druck auf unser politisches System wächst. Warum? Weil wir uns als Gesellschaft in einem rasanten Tempo verändern, ohne dass unsere Strukturen, die unser Zusammenleben regeln, sich weiterentwickeln. Unsere Anforderungen an das politische System wachsen mit den Herausforderungen und wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden, wächst die Enttäuschung. Viele fragen sich zu Recht: Was nützt uns eine grüne Partei im Bundestag, wenn es ihr in 40 Jahren nicht gelungen ist, das Artensterben aufzuhalten oder den Klimawandel abzufedern? Was nützen Sozialdemokraten im Parlament oder in der Regierung, wenn dennoch die Schere zwischen Arm und Reich unaufhaltsam wächst? Wem hilft eine CDU/CSU 16 Jahre an der Regierung, wenn am Ende doch unsere Wirtschaft strauchelt und China unsere technischen Erfindungen aufkauft, um Kapital daraus zu schlagen? 

Ja, der Blick in die Politik frustriert. Und zwar beide Seiten: Bürgerschaft wie Politikerinnen und Politiker! Für die Bürgerschaft setzt die Politik viel zu wenig um und die einzelnen Politikerinnen und Politiker würden gerne mehr umsetzen, sind jedoch der Macht des Systems unterworfen. 

Unsere Gesellschaft differenziert sich immer mehr aus, wir werden – evolutionsbedingt – immer individueller. Das kann einerseits in die Isolierung führen, andererseits aber auch in die Kooperation. Die Tatsache, dass sich immer mehr neue Parteien gründen, drückt unsere immer individuelleren Haltungen aus. Diesmal versuchten es 54 Parteien zur Wahl. Jede Partei versucht, möglichst alle Themenfelder abzudecken, um die Konkurrenz auszuschalten und möglichst alleine die Regierungsbildung bestimmen zu können. 

Eine Logik des Trennenden führt in die Selektion und lässt uns die Welt in Freund und Feind, in Gute und Böse, in oben und unten, rechts oder links fragmentieren. Wie sehr atmen wir alle nur die Luft unserer eigenen Meinungsblase? Wie viele Menschen habe ich in meinem Freundeskreis, die nicht meiner Meinung sind? Wie oft polarisiere ich und grenze Andersdenkende aus? Wie sehr behindert Abgrenzungsdenken im Parlament das Finden gemeinsamer Lösungen?

Google ist in einer Studie der Frage nachgegangen, welche Gruppen und Teams am effektivsten und am erfolgreichsten sind. Sie fanden heraus, dass der Erfolg einer Gruppe nicht von der Einstellung ihrer Teilnehmer abhängt, sondern von der Art, wie sie zusammen interagieren. Der Erfolg ist also nicht davon abhängig, wer im Parlament sitzt, sondern davon, wie die Zusammenarbeit aussieht. Die psychologische Sicherheit der Mitglieder ist ausschlaggebend für gute Leistung. Nur wer keine Bloßstellung und Abwertung fürchten muss, entfaltet seine volle Kompetenz. Wenn Menschen zugehört wird und die Redeanteile aller ausgeglichen sind, erleben sich alle als vollwertige Mitglieder der ganzen Gruppe.  

Wir müssen gemeinsame Prozesse organisieren, die umfassendere Lösungen hervorbringen.

Wir brauchen die Umkehr des bisherigen Systems, die Überwindung jeglicher Gegnerschaft, jeglichen Konkurrenzdenkens. Stattdessen brauchen wir Kooperationsformen und Konsensbildungen, in denen alle Blickwinkel in die Entscheidungsfindung mit einfließen. Wir brauchen die Vielfalt, die sich den zu lösenden Problemen stellt.

Denn natürlich brauchen wir dringend ein Klimaschutzgesetz, aber in der Gesetzgebung sollen eben nicht nur die Umweltaspekte der Grünen berücksichtigt werden, sondern auch die sozialen Komponenten der SPD einfließen, die Digitalisierungs-Perspektiven der FDP oder die Entwicklung neuer Technologien, wie sie die CDU/CSU einfordert. Das heißt, wir brauchen im Grunde keine Fortführung eines fragmentierten Regierungssystems, bei dem jeder versucht, sich gegen jeden durchzusetzen. Wir müssen gemeinsame Prozesse organisieren, die deshalb umfassendere Lösungen hervorbringen, weil sie alle Perspektiven, die in der Gesellschaft leben, einbeziehen. Denn je diverser die Gruppe ist, desto besser werden ihre Entscheidungen.

Was spricht eigentlich dagegen, alle gewählten Parteien an einen Tisch zu setzen und sie das Gemeinsame statt des Trennenden herausfinden zu lassen? Was spricht gegen ein Parlament, in dem wirklich alle Fraktionen Einfluss nehmen auf die Gesetzgebung und nicht nur die zwei oder maximal drei stärksten Regierungsparteien? Und was wäre, wenn alle gemeinsam ins Kanzleramt und in die Regierung zögen? Alles Utopie? Nein, lasst uns – wie schon mit den Bürgerräten geschehen – Modelle kreieren, um sie dann zu etablieren. Nehmen wir also die Wahl zum Anlass, um über unser demokratisches System grundsätzlich konstruktiv nachzudenken!  

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