January 21, 2016
Zum 20-jährigen Jubiläum der Bearing Witness Retreats in Auschwitz
Noch immer sehe ich ihn vor meinem inneren Auge, wie er am Rand einer zerstörten Gaskammer steht und zwei denkwürdige Sätze spricht, die mich seither begleiten, immer wieder aufrütteln, im Wahrnehmen von täglichen Schreckensnachrichten zornig machen, zum Weinen bringen, bis sich endlich das große JA des Lebens wieder einstellt.
Es ist November 1996. Bernie Glassman und seine inzwischen verstorbene Frau Jishu Holmes haben zu einem einzigartigen Retreat in Auschwitz eingeladen. Über 150 Personen sind angereist, aus den verschiedensten Ländern und verschiedensten religiösen Traditionen, alle mit der Absicht, sich und diesen schrecklichen Ort tiefer zu befrieden. Die Idee dazu ist an einem anderen Ort entstanden, nämlich auf den Stufen des Kapitols in Washington. Bernie Glassman hatte zu seinem 55. Geburtstag zu einer besonderen Party eingeladen. Inmitten seiner Gäste legte er das Gelöbnis ab, fortan aus dem Geist des Nichtwissens für den Frieden auf unserem Planeten zu arbeiten. Da, wo die meisten lieber wegschauen, an den Rändern der Gesellschaft, würden wir diese Aufgabe am besten meistern lernen. In der Folge organisierte er Retreats in den Straßenschluchten von New York und in anderen großen, von Gewalt, Prostitution und Drogen betroffenen Städten. Und schließlich dieses Retreat in Auschwitz, das in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum begeht.
Man stelle sich vor: In den beiden Gaskammern von Auschwitz-Birkenau fanden je 1000 Menschen innerhalb von wenigen Minuten den grausamen Tod im Gas. Die Nazis hatten, als die Befreiung des Lagers im Frühjahr 1945 abzusehen war, viele Zeugnisse ihrer Schreckensherrschaft im Lager zerstört, so auch die großen Gaskammern. Da standen wir nun, vor uns die riesigen Gruben, gefüllt mit den eingestürzten Decken, der Ort so belassen wie am Ende des Krieges. Wir waren gekommen, um der Opfer aber auch ihrer Henker zu gedenken. Bernie Glassman jedoch wollte mehr. Wieder einmal zeigte er sich in seiner charismatischen, Grenzen sprengenden Stärke, indem er sprach: »Wer nicht erkennt, dass Auschwitz auch in uns täglich geschieht, hat vom Leben im Grunde nichts verstanden.« Auschwitz, nicht länger allein eine Gedenkstätte für Juden und Deutsche, sondern auch für mich, eine Schweizerin, die mit den Gräueltaten Nazi-Deutschlands bisher nichts zu tun haben wollte! Bernie Glassman mahnte uns an, Bosheit, Grausamkeit, Opfer, Täter, Vernichtung, Liebe, Hoffnung, Lüge, Verachtung ... all diese Anteile in uns zu erkennen und anzunehmen. Angesichts der Ungeheuerlichkeit von Auschwitz kann in uns nichts übrig bleiben, was an einen Gutmenschen erinnert. So sollte das Konzentrationslager nicht nur eine Gedenkstätte für uns sein, sondern eine Lehrmeisterin für ein volles, ganzes Leben.
¬ ES GIBT EINE DIMENSION IN UNSEREM HERZEN, IN DER DIE KRAFT ZUR HEILUNG UND GANZWERDUNG LEBENDIG BLEIBT. ¬
An einem anderen Tag waren wir wieder an demselben Ort versammelt. Bernie Glassman richtete einen Gruss eines befreundeten Rabbis aus, der wegen seines hohen Alters nicht mehr reisen konnte. Im Herzen wäre er mit uns. In seiner Botschaft erinnerte er an folgende alte jüdische Weisheit: »Nur ein gebrochenes Herz ist ein ganzes Herz.« Nochmals einer dieser unmöglichen Sätze, ausgesprochen an einem Ort, wo über eine Million Herzen gewaltsam zerbrachen und in der Folge das kollektive Trauma über Generationen bis in die heutige Zeit hinein wirkt. Nur ein Jude, ein Nachkomme der Schoa durfte einen solchen Satz in Birkenau in den Mund nehmen. Welch ein Trost: Es gibt eine Dimension in unserem Herzen, in der trotz aller Todesangst, Verzweiflung, Dunkelheit und Schmerz die Kraft zur Heilung und Ganzwerdung lebendig bleibt. Denn im Herzensgrund ist alle Gebrochenheit geheilt. Wo sonst als an Orten wie Auschwitz kann dieses Weisheitswissen erfahrbar werden? An dem Ort, wo über eine Million Herzen gewaltsam zerbrachen und in der Folge das kollektive Trauma über Generationen bis in die heutige Zeit hinein wirkt?
Zeugnisse von Teilnehmern der Retreats in Auschwitz finden sich in dem gerade erschienen Buch »AschePerlen«. Bernie Glassman selbst lädt inzwischen auch zu Retreats an andere Orte ein, wo Menschen schreckliches Leid erfahren haben, wie beispielsweise nach Ruanda oder im Frühjahr 2016 nach Srebrenica in Bosnien. Andere sind seinem Beispiel gefolgt und veranstalten Retreats an den Orten, die wie Wunden im Körper der Menschheit sind. Sie zeigen damit, dass Spiritualität, die sich der Welt zuwendet, die Kraft hat, Wege zu Heilung und Frieden zu eröffnen.