Algorithmen, Eros und Agape
In der Welt der technologischen Innovationen gibt es auffallend wenig Frauen. Was ist der tiefere Grund dafür? Und könnte dieser Mangel mit veralteten Vorstellungen von Liebe zu tun haben? Welche Rolle spielen Frauen dabei, der Entmenschlichung durch die Technologie zu widerstehen?
Elizabeth Debold
warum scheint Kreativität ein Zugang zur Liebe zu sein? Ich meine damit alles von Fortpflanzung zu kreativem Ausdruck bis hin zu Ko-Kreativität. Fortpflanzung beginnt mit sexueller Leidenschaft und Intimität und endet bei Mutter- und Vaterliebe. In der Intensität des Schreibens, Malens, Denkens, Tanzens, wenn wir uns mit unserem Verstand, unserer Seele, unserem Körper und mit ganzem Herzen der Kreativität hingeben, verlieren wir uns selbst und werden in eine Ekstase emporgehoben, die unser Bewusstsein erweitert. Liebe hat etwas mit Kreativität zu tun und steht mit Lebendigkeit und dem kosmischen Sinn des Menschseins in Beziehung. Wir Menschen sind hier, um schöpferisch zu sein, und gerade jetzt haben wir die Aufgabe, die Potenziale einer nachhaltigen globalen Kultur zu schaffen.
An diesem außerordentlichen Wendepunkt in der menschlichen Zivilisation, an dem wir der sich abzeichnenden Gefahr einer ökologischen Katastrophe entgegensehen, sind wir Menschen atemlos kreativ. Die rasante Entwicklung von künstlicher Intelligenz und Robotertechnik wird unser tägliches Leben in ungeahntem Maße verändern und wir haben keine Kommissionen, internationale Gremien oder nationale Abstimmungsprozesse, die entscheiden, wie und ob diese Technologien eingeführt werden. Es hängt ausschließlich vom Markt ab. Obwohl ich mir sicher bin, dass der individuelle Unternehmer, Kodierer oder Robotik-Ingenieur die Begeisterung und Dynamik seines oder ihres kreativen Ausdrucks erfährt, frage ich mich: Wo bleibt die Liebe? Diese Art von Kreativität produziert einfach, weil »ich kann«, ohne die Folgen im Blick zu haben. Könnte es sein, dass wir beim Nachdenken über die Wirkung unserer außer Kontrolle geratenen Kreativität auch tiefer über die Liebe nachdenken müssen?
Das bringt mich zu meinem Lieblingsthema: Gender. Liebe ist im Westen und auch in der integralen Theorie durch Gender geprägt. Die Griechen hatten vier verschiedene Wörter für Liebe: Agape, Eros, Philia und Storge. Philia meint die Liebe zu Gleichen oder Freunden. Storge bezieht sich in erster Linie auf die Liebe innerhalb einer Familie, also bei Eltern und Kindern. Eros und Agape stehen, gemäß dem integralen Philosophen Ken Wilber, für aufsteigende und absteigende Impulse von Verbundenheit. Eros ist der selbst-transzendierende Liebesimpuls, der uns als sexuelle Begierde oder als kreativer Drang, Grenzen zu überschreiten und zu durchbrechen, bewegt. Agape ist die Umarmung, die alles umfasst, die Bewegung von Fürsorge und Empathie. In der westlichen Kultur werden Eros und Agape geschlechtsspezifisch konnotiert, also als das weibliche und das männliche Prinzip, und so benutzt auch Ken Wilber diese Begriffe.
Wir wurden kulturell konditioniert zu glauben, dass männliche Identität Eros ausdrücken sollte und dass sie das »natürlicherweise« auch tut. Und weibliche Identität sollte Agape ausdrücken. Könnte diese Trennung unseres tiefsten Empfindens von Liebe und Identität ein Teil des Problems mit dem animierenden Eros sein, der in den Träumen des Silicon Valley zum Ausdruck kommt?
Wo sind die Frauen?
Ich googelte »Frauen und Transhumanismus« und die Ergebnisse zeigten genau das, was ich erwartet hatte. Die ersten Einträge handelten davon, wie es kommt, dass es im Trans-humanismus nur wenige Frauen gibt. Das ist ein beliebtes Thema auf Quora und reddit. Als Nächstes kam eine Referenz zu »Transhumanismus – ein Werkzeug des Patriarchats«. Weiter unten dann »Transhumanismus: Sexbots – dieFrauen der Zukunft«.
¬ Wie passt die Kraft der Mutterliebe in den Größenwahn der Transhumanisten? ¬
Das Bild, das diese Google-Suche zeigt, macht mir große Sorgen. Trotz der jahrzehntelangen Anstrengung, mehr Mädchen für MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) zu interessieren, ist die Zahl der Frauen, die in diesen Bereichen arbeiten wollen, immer noch sehr gering. Während in manchen Ecken des Internets und der Kultur argumentiert wird, dass dies auf ein Defizit im weiblichen Gehirn zurückzuführen sei, weist eine Untersuchung der Carnegie-Mellon-Universität, eine der renommiertesten computerwissenschaftlichen Institutionen in den USA, darauf hin, dass das nicht der Fall ist. In den späten 1990ern arbeitete ich kurz mit den ForscherInnen Jane Margolis und Allan Fisher an ihrer bahnbrechenden Studie über Computerkenntnisse von jungen Frauen an der Carnegie-Mellon mit dem Titel »Unlockingthe Clubhouse«. Computerkenntnisse waren eine Anforderung an alle Studenten und ihre Frage war, warum so wenige Frauen gut in Computerwissenschaften waren. Eine der weniger beachteten Erkenntnisse war, dass die jungen Frauen, die aus verschiedenen asiatischen Ländern kamen, gute Kenntnisse hatten und mit höherer Wahrscheinlichkeit in diesem Bereich arbeiteten. Kulturelle Unterschiede spielten eine sehr große Rolle: Viele dieser jungen Frauen waren von ihren Eltern angehalten worden, Computerwissenschaftlerinnen zu werden. Ihre Familien hielten diesen Arbeitsbereich für wichtig für ihre Zukunft. Die Mädchen gehorchten.
Zur Verteidigung der anderen jungen Frauen konnten Margolis und Fischer anführen, dass sie oft von ihren männlichen Kollegen respektlos behandelt worden waren. Für Mädchen, deren soziales Leben von der universitären Dating-Szene abhing, an der viele der asiatischen Mädchen nicht teilnahmen, war die Tatsache, eines der wenigen Mädchen in den Computerwissenschaften zu sein, ein Stigma. Sie fanden heraus, dass die Computerwelt wie ein Klub war mit einem Schild an der Eingangstür: »Kein Eintritt für Mädchen! «
Angesichts der Tatsache, dass die Computerwissenschaften und die Technologie zu so einem männlich dominierten Bereich geworden sind, ist es ironisch, dass Frauen unter den frühen Pionieren im Bereich Computer und Internet waren. Der Kinofilm »Hidden Figures – Unbekannte Heldinnen« erzählt die Geschichte von afroamerikanischen Mathematikerinnen bei der NASA, die einen entscheidenden Anteil an der ersten Erdumrundung eines US-Astronauten hatten. Aber die Geschichte von Frauen in der Technik wird selten erzählt, und so wird der Eindruck erzeugt, dass sie immer eine Domäne der Männer und Jungen war.
Weil es nur wenige Frauen auf dem Gebiet von MINT gibt, werden die Forschungen zu künstlicher Intelligenz und anderen neuen Technologien vom männlichen Eros angetrieben. Die Ideen und Innovationen kommen aus den Wünschen von Männern und Jungen. Kein Wunder, dass es, wie meine Google-Suche zeigte, den Wunsch gibt, »Sexbots« zu bauen – »sensible« Roboter als Sexualpartner –, der zu Innovationen in der Robotertechnik führt. Was für eine Liebe ist das denn?
Frauen und der Mutterleib
Wie passt die Kraft der Mutterliebe, die alles umfassende Umarmung von Agape, in den Größenwahn der Transhumanisten? Werden Frauen zu einer Kraft des Widerstands gegen die entmenschlichenden Wirkungen einer algorithmischen Welt?
Leider glaube ich nicht daran. Nehmen wir als Beispiel die Forschungen zu einem künstlichen Mutterleib. Es ist eines der beeindruckendsten Projekte der medizinischen Technologie. Aber für mich gehen hier die Alarmglocken an, angesichts des Ausmaßes menschlicher Hybris. Ich kenne einige Frauen, die davon ausgehen, dass der künstliche Mutterleib von Männern dazu genutzt werden könnte, Frauen als nutzlos und überflüssig zu deklarieren. Aber ich nehme auch an, dass die Frauen selbst sich um die Mietplätze für einen falschen Mutterleib streiten werden.
¬ Wir brauchen die visionäre Energie von Eros und die tiefe Umarmung von Agape. ¬
Frauen über 40, die ihrer Karriere gefolgt sind und keine Kinder bekommen haben, geben viele Millionen Dollar für Methoden der künstlichen Befruchtung aus, damit sie Kinder bekommen können – würden diese Frauen nicht diese einfache und komplikationslosere Option wählen? Es lohnt sich, einmal darüber nachzudenken: Schwangere Frauen verlangen immer öfter einen Kaiserschnitt, damit sie die Geburt nach ihren Bedürfnissen planen können. Oder nehmen wir die Anzahl der Frauen, die sich nicht mit den Mühen des Stillens abgeben wollen – und das aus verschiedenen Gründen, wie zum Beispiel einfach deshalb, weil sie weiter schöne Brüste haben wollen.
Es ist einen heikle Angelegenheit. Die Bequemlichkeit der Technologie ist verführerisch. Das trifft auch auf die Vorteile zu. Es ist nicht lange her, da arbeiteten plastische Chirurgen mit Unfallopfern oder Menschen mit einem Geburtsfehler. Heute ist der Geist aus der Flasche. Wer möchte schon alt werden, insbesondere wenn Frauen weitaus kritischer beäugt werden, wenn sie graue Haare oder ein fülligeres Kinn bekommen? Warum sollte man nicht hier und da etwas anheben oder absaugen? Wie eine Frau in einem Forum auf Quora sagt: »Ich hoffe, dass ich den Tod überlisten kann und dabei auch noch gut aussehe. Ist mir doch egal, was andere denken. Auch unnatürliche Schönheit ist schön. Ich hoffe, in der Zukunft bekomme ich eine Ganzkörperprothese wie MotokoKusanagi«, die Protagonistin in dem bekannten japanischen Zeichentrickfilm.
Die schöne neue Welt, die von der Technologie geprägt sein wird, ist schon Wirklichkeit, sie zeigt sich in zahllosen Entscheidungen, wie wir tagtäglich treffen. Entscheidungen, die für sich genommen für uns und die Menschen, die wir lieben, vorteilhaft zu sein scheinen. Wir sind neurologisch nicht darauf programmiert, die riesigen Herausforderungen, die vor uns liegen, zu fürchten oder darauf zu antworten. Geologen brechen vielleicht in Tränen aus, wenn sie sehen, wie die Korallen am Great BarrierReef ausbleichen, aber die meisten von uns werden es einfach als mögliches Urlaubsziel von der Liste streichen. Wir haben Schwierigkeiten damit, die Implikationen und vielschichtigen Folgen unserer Entscheidungen zu verstehen, weshalb der Ökologe und Autor Stewart Brand die Long NowFoundation gründete. Die Long NowFoundation versucht ein langfristiges Denken in Zeiträumen von Jahrzehntausenden zu fördern, weil uns solch ein Denken heute so schwerfällt. Aber nur jeder siebte oder zehnte Sprecher bei diesen Programmen ist weiblich. Für Frauen, denen beigebracht wurde, die Welt im Ausmaß ihrer Umarmung zu sehen, scheint ein langfristiger Blick noch schwerer zu sein als für Männer.
Die traditionelle Identität der Frauen als Fürsorgerinnen führt dazu, dass unser eigentlicher Fokus auf dem Glück der Menschen liegt, die wir lieben. Angesichts dessen, dass unsere Kinder und Enkel die Wucht dieser Veränderungen auffangen müssen, habe ich mich oft gefragt, warum Mütter nicht dringend daran interessiert sind, die Zukunft zu gestalten. Liebe als Agape, die Essenz des Weiblichen, schafft einen fruchtbaren Grund, auf dem Menschen wachsen können, hat aber nicht die Dynamik und visionären Fähigkeiten des Eros, um die Gegenwart zu transzendieren und in die Zukunft zu blicken.
Eine neue Form der Liebe
»Niemand weiß, wie die künstliche Intelligenz aufgrund der Daten, die wir bereitstellen, Entscheidungen trifft«, erklärt die Expertin für Technologie und Soziologie Zeynep Tufekci in ihrem TED-Vortrag »Maschinelle Intelligenz macht menschliche Ethik wichtiger«. Tufekci erzählt, dass sie bei einer Konferenz mit der Leiterin der Personalabteilung eines großen Konzerns sprach. Dieses Unternehmen nutzte ein bekanntes, auf künstlicher Intelligenz basierendes Programm, um Job-Bewerbungen zu prüfen und zu entscheiden, wer eingestellt wird. Sie erklärte der Frau, dass Studien gezeigt haben, dass diese Systeme oft eigene Vorlieben haben – die Vorlieben, die schon im Unternehmen existieren, werden reproduziert und verstärkt. Darauf antwortete ihre Gesprächspartnerin: »Davon will ich nichts mehr hören«, drehte sich um und ging davon.
Künstliche Intelligenz kann keine zukünftige Möglichkeit schaffen, die wir intuitiv erahnen. Wenn wir eine Welt wollen, in der gleiche Möglichkeiten unsere Erwartungen an beide Geschlechter transformieren, dann müssen wir einsehen, dass uns die künstliche Intelligenz nicht dabei helfen wird. Die Daten, die sie nutzt, stammen aus der Vergangenheit. Das Gleiche trifft für unseren Umgang mit Rassen und Klassen zu. Wie wir mit der Erde umgehen, kann ebenfalls nicht durch künstliche Intelligenz verändert werden. Die utopischen Visionen, die uns inspirieren, sind noch keine Daten, mit denen eine Maschinenintelligenz arbeiten kann.
Das ist für uns Menschen das kreative Neuland. Wenn wir moralische Verantwortung für die Zukunft übernehmen wollen, dann müssen wir neue Visionen für unser Zusammenleben schaffen, um sicherzustellen, dass unsere Maschinen und Mechanismen dem folgen, was wir intuitiv erahnen, statt sich auf die Vergangenheit zu beziehen. Wir brauchen die visionäre Energie von Eros und die tiefe Umarmung von Agape.
Wie machen wir das? Um die Liebe des Eros zur Zukunft mit der Ganzheit von Agape zusammenzubringen, ist mehr nötig als uns im Sinne von »Frauen sind Agape und Männer sind Eros« zu verbinden. Ich meine auch kein Ausbalancieren dieser beiden Qualitäten. Ich weise auf ein neues Potenzial hin, in dem die Flügel des Eros weit ausgebreitet sind und aus der Tiefe der Umarmung von Agape kommen. Agape und Eros sind dann nicht getrennt, sondern zwei Aspekte einer lebendigen, fürsorglichen Intelligenz.
Das wird aber weder in der hyperindividualisierten Welt des Innovators noch im geschlossenen Kreis der Intimität möglich sein. Wir müssen uns begegnen, nicht mit dem Frau- oder Mannsein identifiziert, sondern mit dem Menschsein. Wir können die Tiefe der Menschlichkeit teilen, unsere Fähigkeit, die Liebe durch uns wirken zu lassen und uns von ihr verwandeln zu lassen. In diesem Raum der Kommunikation, diesem Wir – und in der Zukunft von uns allen –, eröffnet sich ein neues ko-kreatives Potenzial, das in der Ganzheit wurzelt und sich dem zuwendet, was als Nächstes möglich ist. Vielleicht wird diese ko-kreative Liebe die Tür in eine neue menschliche Zukunft öffnen.