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Was möglich wird, wenn wir dem anderen wirklich begegnen
Die Wahl von Donald Trump hat viele von uns erschreckt und auch etwas ratlos gemacht. Was bedeutet es, dass populistisches und rechtes Denken solch einen Einfluss gewinnt, und wie können wir den Menschen, die so ganz anderen Wertvorstellungen und Weltsichten anhängen, in Liebe begegnen?
Love Trumps Hate!« (Liebe triumphiert über Hass!) ist der Slogan auf den Transparenten, die Protestierende hochhalten: auf der Straße vor dem Trump Tower, in den Camps am Standing Rock, wo indigene Aktivisten gegen den Bau einer Erdölpipeline durch heiliges Land kämpfen, und überall sonst, wo fortschrittliche Menschen sich darüber Sorgen machen, dass der neue US-Präsident einem anderen Motto folgen könnte: »Trump loves hate« (Trump liebt den Hass). Donald Trumps aufhetzende Reden haben die Debatten angeheizt und dabei die Normen des öffentlichen Diskurses außer Kraft gesetzt, Gewalt unter seinen Anhängern entzündet und ihm einen Sieg beschert, den auch er selbst nicht erwartet hat. Die meisten progressiven Vordenker hat es kalt erwischt: Nach den Wahlen wachten wir mit der Erkenntnis auf, dass Millionen unserer Mitbürger in einer Wirklichkeit leben, die sich von unserer eigenen radikal unterscheidet.
In dieser anderen Wirklichkeit werden die Werte der Toleranz und des gegenseitigen Respekts als unterdrückende Regeln der politischen Korrektheit gesehen. Interkultureller Austausch und globale Beziehungen erzeugen das Schreckgespenst fremder Menschenmassen, die uns überrollen, und die sozialen und politischen Institutionen des Status quo werden als Spielfeld gleichgültiger, bösartiger und gieriger Eliten erlebt. In beiden Beobachtungen und der Erfahrung dieser Menschen von Vernachlässigung und Spott in den letzten Jahrzehnten liegt leider auch etwas Wahres. Zudem ist für diese neu erstarkte extreme Rechte der Begriff »Gender« nahezu eine Obszönität. Die furchterregende Rhetorik des Rassismus und Ethnozentrismus verschleiert oft die Tatsache, dass im Kern ihrer Zielsetzung auch eine Wiederauferstehung einer dominanten Männlichkeit liegt, in der Frauen alles andere als gleichberechtigt sind. (Übrigens genauso, wie in den 1930er Jahren.)
¬Die erste Erfahrung menschlicher Liebe ist mit Geschlecht und dem Anderssein verbunden.¬
Eine schnelle Reaktion und die tiefere Antwort auf die Krise des Vertrauens und unseres gemeinsamen Menschseins kann man mit diesen Worten zusammenfassen: »Love Trumps Hate!« Wenn dieser einprägsame Spruch nicht nur ein schlaues Wortspiel ist und wirklich etwas bedeutet, zu welchem Handeln fordert er uns dann auf?
Es ist bemerkenswert, wie sich dank der fortschrittlichen Bewegungen in den letzten Jahrzehnten unsere Beziehungs- und Liebesfähigkeit erweitert hat. Wir haben so viel zu geben im Angesicht derer, die so ziemlich das Gegenteil von dem verfolgen, was uns am Herzen liegt.
Verliebte Frauen
»In Wirklichkeit wünschen sich Frauen einen starken Mann«, sagte Richard Spencer, der Anführer der rechtsextremen Bewegung vom National Policy Institute in Washington, D. C. Er trägt einen gepflegten Dreiteiler und einen akkuraten Kurzhaarschnitt.Spencer sagte kürzlich bei einer Konferenz, bei der das Publikum zu 90 Prozent aus Männern bestand, dass er viele Liebesromane gelesen habe, wodurch diese »Tatsache«, die er aus der Evolutionsbiologie gelernt habe, bestätigt würde. Er fügte hinzu, dass die »wahre Selbstverwirklichung« der Frauen in der Mutterschaft liege.
Für mich ist es faszinierend, dass Spencer Liebesromane zu Rate zieht, um die unerkannten Wünsche der Frauen und die evolutionäre Systematik des menschlichen Lebens zu verstehen. Der romantische Liebesroman entstand in der frühen Moderne als Narrativ für das Leben der Frauen. Es passte zum Beginn des Kapitalismus, dem Aufstieg der Mittelklasse und der Trennung der männlichen und weiblichen Lebenssphären von Arbeit und Familie. Der Liebesroman beschrieb den Weg, den ein junges Mädchen mit Charakter und Tugend beschreiten konnte, um seine Zukunft zu sichern, indem es sich einen starken Mann sicherte. Das markiert den revolutionären Siegeszug der »Liebesheirat«, einer radikalen Abweichung von den arrangierten Ehen, die zuvor auch im Westen die Norm waren. »Liebe« wurde in der Moderne für die Frauen der Mittelklasse eine Frage des Überlebens. Angst – vor dem sozialen Scheitern, vor dem Ungeliebtsein, vor Einsamkeit, vor dem Verlust der Lebensgrundlage, vor Vergewaltigung und Verstoßung, vor Schwangerschaft – brodelt unter den dramatischen Höhepunkten dieser Geschichten, die oft genug den Schauer der Gewalt mit Leidenschaft verwechseln. Die Männer bekommen Anerkennung dafür, dass sie in der Öffentlichkeit oder im Krieg Risiken eingehen; aber Frauen gestehen weder sich selbst noch einander Anerkennung für die täglichen Herausforderungen zu, denen sie sich permanent stellen müssen.
Trotz des wachsenden Einflusses, den Frauen in den letzten 50 Jahren in der Arbeitswelt und in der Öffentlichkeit errungen haben, hat das alte Klischee die Herzen und das Denken der Frauen (und Männer) weiterhin fest im Griff: Es ist »normal«. »Normal« für Menschen, muss man dazusagen. Der Mensch ist die einzige Spezies, in der Mütter keinen unmittelbaren Zugang zu Nahrung für ihren Nachwuchs haben. Solange in der westlichen Kultur Lohnarbeit höher geschätzt wird als Liebe, werden Männer und Frauen von der Geschichte und unseren Gewohnheiten durch gegensätzliche Prioritäten gelähmt und in die zwanghafte Wiederholung kultureller Klischees gepresst, auch wenn sie uns heute als Evolutionswissenschaft verkauft werden.
Eingefrorene Entwicklung
Spencer glaubt, ewige, historische Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu erkennen und bringt sie in eine Hierarchie, in der Männer an der Spitze stehen. Das Gleiche tut er mit den Rassen – dabei sagt er, dass die kulturelle Dominanz der Weißen in der Moderne der Beweis für ihre evolutionäre oder genetische Überlegenheit sei. Als er gefragt wurde, wie es dazu kommen konnte, dass er zu einem Rechtsextremen wurde, wo doch seine Eltern von seinen Ansichten schockiert sind, antwortete Spencer vielsagend: »Ich habe schon immer so gedacht.« Warum ist das vielsagend? Weil Spencers Denken das eines typischen vorpubertären Teenagers ist: Er nutzt die Entweder/Oder-Logik, ordnet die Dinge hierarchisch an, bringt einfache lineare Argumente, vertritt einen wissenschaftlichen Materialismus, schätzt Dominanz und Unabhängigkeit und bedient sich einer instrumentellen Logik, nach der es akzeptabel ist, einen anderen Menschen für eigene Zwecke zu benutzen. Diese lineare Denkweise ist auch der Umriss des »modernen Selbst«. Sie entwickelt sich bei Menschen im Westen etwa im Alter von zehn bis zwölf Jahren. Für viele endet dort die kognitive Entwicklung. So wird es unmöglich, sich mit einer multidimensionalen Komplexität auseinanderzusetzen, psychologische Dynamiken zu verstehen, verschiedene Perspektiven einzunehmen oder tiefe Empathie und wechselseitige Verbundenheit zu erfahren. Status und Dominanz sind real; es gibt nichts, was sie transzendiert. Liebe und Sex existieren dann in diesem Rahmen.
¬ Es ist bemerkenswert, wie sich dank der fortschrittlichen Bewegungen in den letzten Jahrzehnten unsere Beziehungs- und Liebesfähigkeit erweitert hat. ¬
Die entwicklungsmäßige Begrenztheit des konventionellen, modernen Selbst kann in unserer pluralistischen Welt leicht zu Gefühlen der Überlegenheit (oder Minderwertigkeit) und zu einem Wunsch nach Dominanz führen. Besser oben als unten, nicht wahr? Wenn man die materialistischen Werte der westlichen Kultur verinnerlicht hat, dann erscheint es natürlich, Menschen danach zu bewerten, wie viel Geld und Macht sie haben – und für sich »das Beste« herauszuholen. Aus dieser Sicht der Wirklichkeit ist der postmoderne Egalitarismus der politischen Korrektheit nur eine Lüge, ein Schwindel und ein Deckmantel. Spencers Ansichten sind sicher extrem, aber sie folgen auch einer Logik – einer Logik, die die meisten ambitionierten Teenager verstehen können. So, wie es ein Interviewpartner nach dem anderen in die Kamera spricht: Die extreme Rechte sagt nur, was die Leute wirklich denken. Wahrscheinlich hängen die meisten keiner Ideologie an und nehmen keinen durchdachten Standpunkt gegenüber Gender oder rassischer Überlegenheit ein, aber sie hören Dinge, die sie verstehen können. Wenn man dazu die verzweifelte Erkenntnis hinzunimmt, dass das eigene Leben in unserer schnelllebigen Welt kaum einen oder gar keinen Sinn hat oder dass die eigene Lebensführung und die Familie bedroht sind, dann erhält man eine explosive Mischung aus Wut, Angst und Hass.
Mütter und Andere
Spencer und auch weniger radikale Modernisten ziehen eine deutliche Grenze zwischen sich selbst und anderen. Wie ausgeprägt diese Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen ist, lernen wir buchstäblich an der Mutterbrust. Die erste Dynamik der Trennung ist durch das Geschlecht geprägt: Mutter und Kind. Ob wir über einen kleinen homogenen Stamm in Afrika sprechen oder eine der Großstädte in Asien oder im Westen, die erste Erfahrung menschlicher Liebe ist mit Geschlecht und dem Anderssein verbunden. Die Mutter ist unsere erste Erfahrung eines »Anderen«. Ob es unsere biologische Mutter oder eine andere weibliche Bezugsperson oder gar der Vater ist, das erste Muster für das, was in der Liebe möglich ist und ob wir dem »Anderen« vertrauen können, wird geboren, wenn wir geboren und an die Mutterbrust gehalten werden.
Ein großer Teil der Tiefenpsychologie beschäftigt sich mit der Umwandlung der Muster, die wir in dieser ersten Erfahrung von Liebe, Geschlecht und Anderssein gelernt haben. Unsere Identität ist zutiefst mit diesem Prozess verbunden. Aber auch unsere Fähigkeit zur Liebe. Ein Mädchen, um das sich die Mutter kümmert, wächst so heran, dass es Liebe und Selbstsein in Resonanz mit »jemandem, der gleich ist, wie ich« versteht. Ein Junge dagegen lernt im Laufe der Zeit, dass er die Liebe und Einheit mit jemandem erfahren hat, »der nicht ist wie er«. Die Jungen ziehen sich von der Mutter zurück, um eine männliche Identität zu entwickeln, die sich von allem, was wie die Mutter war, unterscheidet: Fürsorge, Verbundenheit, Umarmen, Ernähren und der Umgang mit der Unberechenbarkeit des Körpers.
Viele von uns, die das Streben nach einer lebendigen pluralistischen Kultur als Wert sehen, haben Jahre oder Jahrzehnte damit verbracht, sich in intimen Beziehungen mit diesem Anderssein auseinanderzusetzen. Unsere momentane politische und soziale Situation prüft unsere Verwurzelung in Fürsorge, Empathie und dem Interesse am Anderen. Aber viele von uns haben viele Jahre mit Therapie (allein, als Paare und in Gruppen) verbracht, hunderte Wochenenden in Selbsterfahrungsworkshops investiert und so viel Energie und Leidenschaft für unsere intimen Beziehungen aufgewendet, um herauszufinden, wie wir die Liebe entdecken und uns ihr öffnen können. Durch die Arbeit mit unseren Schatten und Projektionen, mit denen wir unsere Partner belegt haben, haben wir ein Ausmaß an intimer Tiefe und Verbundenheit entwickelt, die ins Spirituelle reicht. Diese Schattenarbeit wirft Licht auf die dunklen Ränder der Begrenzungen zwischen mir und den Anderen.
Liebe im Schatten Trumps
Können wir in diesen Zeiten von Trump diese tiefe Beziehungsarbeit auch in anderer Absicht nutzen? So viele Aspekte unserer sozialen Identität – unsere Identifikation mit Nationalität oder Kultur, mit Geschlecht, Rasse, Religion – werden psychologisch in den Kategorien »das ist wie ich« oder »das ist nicht wie ich« wahrgenommen. Mein Weißsein hat nur »Bedeutung« in Beziehung zu den Praktiken, die meine Kultur mit den Menschen mit dunkler Hautfarbe, die »nicht wie ich« sind, verbindet.
¬Unsere momentane politische und soziale Situation prüft unsere Verwurzelung in Fürsorge, Empathie und dem Interesse am Anderen.¬
Auf gleiche Weise konstruieren auch die männliche und weibliche Identität einander – das meinte C. G. Jung, als er davon sprach, dass in jedem Mann eine Anima und in jeder Frau ein Animus lebt. Das Weibliche, wenn es traditionell mit Empfänglichkeit, Fürsorge und Aufmerksamkeit in Beziehungen definiert wird, ist der Schatten des Männlichen, insofern Letzteres als Durchsetzungskraft, intellektuelle Analyse und Unabhängigkeit definiert wird. Wenn man traditionell und »wirklich« weiblich sein will, dann sind die männlichen Eigenschaften tabu. Deshalb verzerrt der weibliche Schatten das menschliche Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Tatkraft zu Unklarheit und Manipulation – man möchte aktiv sein und gleichzeitig die Absicht zu handeln verbergen. Der männliche Schatten versteckt Abhängigkeit und Verletzlichkeit hinter übermäßiger Rationalität und Trennung. Trump selbst ist nicht nur ein beispielhafter Ausdruck des materialistischen, durch die Medien bestimmten Amerikas, sondern auch der Schattenaspekt einer brüchigen Männlichkeit, die sich vor allem Weiblichen fürchtet.
Nur wenn Liebe die Grenzen der persönlichen Besitzansprüche durchbricht und den Anderen ganz an sich heranlässt, können wir in den Zeiten von Trump Handelnde der Liebe sein. Die tiefe Arbeit, die so viele von uns persönlich, psychologisch getan haben, um uns für Beziehungen zu öffnen, ist ein wirkungsvoller Ausgangspunkt für unsere Begegnung mit denjenigen, die wir als anders als uns selbst erleben. Je tiefer wir das Konstrukt der eigenen Identitäten erforschen, desto mehr erkennen wir, dass wir Anteile des Anderen in uns tragen und dass unser Wesen ein nicht entschlüsselbares Mysterium ist. Dann ist der oder das Andere keine Bedrohung mehr, sondern wird zum Tor zu einer tieferen Begegnung mit unserem geteilten und vielfältigen Menschsein. Was wir auf unserer Suche nach Liebe gelernt haben, trägt so viel Potenzial in sich. Nutzen wir diese Fähigkeiten, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, damit wirklich die Liebe über den Hass triumphiert.
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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