Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
August 1, 2014
Es ist noch nicht sehr lange her, dass in unseren Breiten spirituelle Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen in Verbindungen gebracht wurden. Wenn man heute wissenschaftliche Beiträge zum Thema Spiritualität betrachtet, hat sich die Situation um 180 Grad gedreht. Kaum ein Neurobiologe versäumt es, auf die heilsame Wirkung spiritueller und meditativer Praktiken zu verweisen: der Röhre sei Dank.
Seitdem sich in den letzten 20 Jahren die bildgebenden Verfahren der medizinischen Diagnostik wesentlich verbessert haben und sich meditationserprobte Mönche in den Kernspin legen oder ihre Hirnströme messen lassen, kann man nun Vorgänge im Gehirn verfolgen, die vorher nicht zu greifen waren. So haben meditationserfahrene Menschen mehr graue Substanz, d.h. Nervenzellen, im Gehirn als Nicht-Meditierer. Sogar Mitgefühl lässt sich durch Meditation steigern. Als amerikanische Wissenschaftler die Hirnströme tibetischer Mönche maßen, die über Mitgefühl meditierten, dachten sie, die Meßgeräte seien kaputt, so stark war der Ausschlag im Bereich der Gammawellen. Durch Meditation können Aufmerksamkeitsressourcen verbessert und tiefe Entspannungszustände erzeugt werden. Die positiven Resultate meditativer Praktiken sind nun offensichtlich und nicht mehr zu leugnen.
Meditation gilt als etwas Positives, weil sie einen verwertbaren Nutzen hat.
Dieser Ritterschlag durch die Wissenschaft hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass Meditation heute ihren exotischen und oftmals esoterischen Habitus verloren hat und mitten in der Gesellschaft angekommen ist. Kein Bildungshaus, ob in kirchlicher oder weltlicher Trägerschaft, kann es sich leisten, auf Yoga-, Kontemplations- oder Zen-Kurse zu verzichten. Und Meditationskurse fürs Management gehören heute ja schon fast zum guten Ton. Eigentlich ist dies ein durchaus begrüßenswerter Zustand. Denn vielleicht verändert sich auf diese Weise im Bewusstsein der Menschheit kollektiv etwas in einer kürzeren Zeit als auf dem klassisch evolutionären Weg.
Und dennoch beschleicht mich ein gewisses Unbehagen angesichts der Art und Weise wie meditative Prozesse in das bestehende gesellschaftliche und wirtschaftliche System integriert werden. Das, was Jahrhunderte und Jahrtausende zur inneren Transformation des Menschen diente, wird heute nicht selten dazu verwendet um ihn stressresistenter zu machen. Ich gehöre sicherlich nicht zu denjenigen, die die alten Systeme verklären und die Moderne für eine Verirrung halten. Die Vorstellung der meisten traditionellen Spiritualsysteme, dass der Mensch in seiner Gesamtheit allein durch Meditation besser würde, halte ich für einen der größten spirituellen Irrtümer, der sich an vielen Beispielen zeigen lässt. Ken Wilber hat sehr deutlich die Gründe für diesen Irrtum aufgezeigt. Allerdings halte ich die Verzweckung von Spiritualität im Sinne einer geistig-psychischen Stressprofilaxe, als was sie heute besonders gerne propagiert wird, auch für eine Verirrung. Meditation gilt nun als etwas Positives, weil sie einen verwertbaren Nutzen hat. Wer meditiert, kann in der als immer hektischer empfundenen Zeit besser mithalten. Meditation wird in die Riege der zu erwerbenden Güter eingereiht, die das Leben besser machen sollen.
Der eigentliche Wert der Spiritualität liegt aber nicht darin, fitter und belastbarer für den mörderischen Alltag zu werden, auch wenn das durchaus ein positiver Nebeneffekt sein kann, sondern wacher und präsenter in der Welt zu sein. Diese Wachheit und Offenheit sollte nicht nur auf den eigenen Innenraum, sondern auch die Welt da draußen gerichtet sein, in all ihren mannigfaltigen Ausprägungen. Und diese geistige Offenheit sollte helfen, ein Bewusstsein für das zu entwickeln, was schief läuft, um humanere gesellschaftliche und ökonomische Strukturen zu etablieren, von denen alle profitieren: Meditierer und Nicht-Meditierer.