Menschsein und Technik

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Kolumne
Published On:

August 1, 2014

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Ausgabe 03 / 2014
|
August 2014
Maschinen meditieren nicht
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Angesichts der rasanten Fortschritte der Technik wird die Frage, was uns als Menschen wirklich ausmacht, zunehmend zum Thema werden. Wir haben Menschen, die sich in verschiedenen Kontexten mit der Tiefendimension unseres Wesens beschäftigen, gefragt:


Wie entwickeln wir eine tiefere Menschlichkeit?

Christoph Quarch

In Delphi, der Wiege der westlichen Zivilisation, grüßte Apollon die ihn um Rat ersuchenden Pilger mit den an seinem Tempel eingravierten Worten: Erkenne dich selbst! Dieser Satz des Gottes verwies den Pilger auf seine Sterblichkeit, seine Begrenztheit und Fragilität. Damit sollte der Mensch freilich nicht herabgewürdigt werden. Im Gegenteil: Der hellenische Geist verstand die Endlichkeit des Menschen als eigentlichen Grund seiner Würde. Im Gegenüber zum Unsterblichen, Ewigen sollte der Mensch seine Menschlichkeit entfalten – im Wissen um seine Sterblichkeit und das ihm gesetzte Maß sollte er zu seiner Größe und Schönheit erblühen. Denn erst der Horizont des unausweichlichen Endes gibt dem menschlichen Dasein Gewicht und Wert. Tiefe Menschlichkeit – das lässt sich von den Griechen lernen – speist sich vom Wissen um die Sterblichkeit. Diese anzuerkennen, liebend zu umfassen und das Leben im Wissen um sein unausweichliches Ende in allen seinen Facetten wie ein Spiel zu feiern – das dürfte auch heute noch das Programm einer bewussten Humanität sein: Einfach Mensch sein – was auch heißt: Nicht Gott sein zu müssen, nicht unsterblich, grenzenlos. Die Ausweitung der dem Menschen gesetzten Grenzen, wie sie von zeitgenössischen Transhumanisten und Human-Enhancement-Aposteln wie Ray Kurzweil propagiert wird, ist griechisch gedacht nichts anderes als Hybris: ein Angriff auf die Menschlichkeit. Bei Lichte besehen markiert der Transhumanismus das Ende der Humanität. Nicht durch technische Optimierung des Menschen entsteht tiefere Menschlichkeit, sondern durch das Fest unserer Sterblichkeit.  

Dr. Christoph Quarch, Philosoph, Theologe und Publizist.


Sylvia Kéré Wellensiek

Jeder Moment, jede Begegnung, jedes Gespräch, Debatte, Auseinandersetzung, jede Handlung, jeder Arbeitsprozess gewinnen eine andere Qualität, wenn wir ihn in Achtsamkeit durchführen. An dieser Stelle besitzen wir Menschen, jeder für sich, die größte Macht und Kraft auf sich selbst und das Leben in Menschlichkeit einzuwirken: Immer wieder neu, die eigene Präsenz, das eigene Reden und Handeln bewusst auszurichten und mit gesundem Menschenverstand und mit  Geist, Herz und Seele zu durchdringen.
Wie immer gilt es viele Ebenen gleichzeitig zu betrachten. Es ist beeindruckend, auf wie vielen Gebieten der Mensch sich im Äußeren weiterentwickelt hat. Mit größter Kreativität, Akribie, Mut und Innovationsgeist werden täglich neue Erkenntnisse gesammelt, die das Zusammenleben von uns Menschen in die eine oder andere Richtung beeinflussen. Was würde sich wohl für ein Bewusstseinssprung ereignen, wenn wir einen Teil dieser gewaltigen Ressourcen in die gezielte Erforschung unserer Innenwelt investieren würden. Und wie würden diese Erkenntnisse auch wieder missbraucht werden …
Am Ende bleibt immer mein eigener Spiegel: Wie lief der Tag heute? War ich aufmerksam, dem Leben dankbar gegenüber, menschlich zu mir selbst und anderen Personen und Geschöpfen? Und was heißt menschlich? Ich schaue in die wunderschönen Augen unserer Weymaranerhündin und sehe: wir sind uns so nah.
Ich bin eine Übende im Thema Menschlichkeit, und weiß, dass ich nicht weiß.

Sylvia Kéré Wellensiek, Coach, Trainerin, Therapeutin und Autorin mit dem Schwerpunkt Resilienz.

Sylvester Walch

Wer in einer menschlicheren Welt leben möchte, muss bei sich selbst beginnen. Nur wer sich auf einen lebenslangen Weg der Transformation einlässt, wird offener, achtsamer und mitfühlender mit sich selbst und seinen Mitmenschen umgehen. Das ist aber nur möglich, wenn wir destruktive Lebensmuster überwinden, Egoismen auflösen und unsere inneren Räume weiten. Sowohl psychische als auch spirituelle Bewusstseinsprozesse sind dafür nötig. Am Anfang ist dafür eine klare Entscheidung oder ein tief empfundenes „Ja“ zur Selbstfindung wichtig, um sich von zwischenzeitlichen Widerständen nicht behindern zu lassen. Dann geht es zunächst darum, herauszufinden, wer wir wirklich sind. Dabei werden schrittweise Schattenaspekte und andere dissoziierte seelische Aspekte integriert, denn nur auf guten personalen Fundamenten können verantwortungsvolle Wahrhaftigkeit, konstruktive Konfliktfähigkeit und echtes Mitgefühl entstehen. Darüber hinaus bringt die psychische Erneuerung einen fruchtbaren Boden für die segensreiche Wirkung von Meditation, die Königsübung jeder spirituellen Tradition, hervor. Dabei ist zu beachten, dass sich der Meditierende keine zu hohen Ziele steckt, eine gute körperliche Position einnimmt, den Atem frei fließen lässt und eine regelmäßige Praxis aufbaut. Niemand sollte sich dabei jedoch von anfänglichen Schwierigkeiten beirren lassen. Wenn nämlich ein seiner selbst bewusst gewordener Mensch regelmäßig meditiert, werden bald neue Qualitäten des Seins im Sinne tieferer Menschlichkeit sichtbar werden, nicht nur in ihm selbst sondern auch in der Welt.    

Dr. Sylvester Walch, Ausbilder für Transpersonale Psychotherapie und Holotropes Atmen.


Sabine Lichtenfels

Um eine tiefere Menschlichkeit zu entwickeln brauchen wir Formen des Zusammenlebens, der Kommunikation, der Gemeinschaft, in denen Wahrheit und Vertrauen unter Menschen wieder möglich wird. Gewalt entsteht aus Angst. Wer gegen den Krieg ist, braucht eine Vision für den Frieden. Deshalb ist es wichtig, auf der einen Seite mit ökologischen, ökonomischen, technologischen Siedlungsmodellen zu zeigen, dass eine andere, gerechte und friedliche Lebensweise möglich ist. Auf der anderen Seite gehört dazu die soziale Forschung, ein Gemeinschaftsaufbau, in dem Kooperation und Ergänzung, Anteilnahme und Humanität ein echtes Fundament haben. Menschen brauchen für die Entwicklung echter Menschlichkeit ein Zusammenleben, in dem sie Transparenz wagen können. Das sind nicht nur Schlagwörter, sondern echte Forschungsbegriffe: Wie sehen soziale Verhältnisse aus, unter denen Wahrheit untereinander möglich wird?
In dem Zusammenhang muss die Menschheit verstehen, welche große Bedeutung die Sexualität hat. In diesem Bereich wird am meisten geschwiegen und gelogen. Unendlich viel Gewalt auf dieser Erde geschieht aufgrund von unerlöster sexueller Sehnsucht und unterdrückter Sexualität.  Nicht die Sexualität selbst ist gewalttätig, erst die gestaute und unterdrückte Sexualität führt zur Gewalt.  Deshalb arbeiten wir daran, soziale Formen zu entwickeln, in denen frei gelebter Eros und Wahrheit in der Liebe keine Gegensätze mehr sind. Partnerschaft und freie Liebe schließen sich nicht aus, sie bedingen einander.

Sabine Lichtenfels, Theologin, Autorin und Mitgründerin des „Heilungsbiotop 1 Tamera“ in Portugal.

Michael Zimmerman

Gleichzeitig zum zunehmenden Interesse an technologischem Selbst-Enhancement wie im Transhumanismus wächst auch das Interesse an der Übung der Achtsamkeit. Smartphones und andere Geräte konfrontieren uns mit weitaus mehr unmittelbar zugänglichen Ablenkungen als jemals zuvor. Wer kann mit dem Informationsfluss mithalten, der unsere Aufmerksamkeit gefangen nimmt? In der Achtsamkeitspraxis können wir uns von der digitalen Technik lang genug lösen, um uns wieder mit der eigenen Erfahrung und der Präsenz im Hier und Jetzt zu verbinden.
Achtsamkeitsmeditation ist kein Gegensatz zu High-Tech. In der Tat ist die Meditationspraxis selbst eine Form von Technik: das „Know-how“, das notwendig ist, um Aufmerksamkeit zu kultivieren, den eigenen Atem zu beobachten und die Gedanken und Gefühle aufsteigen und weiterziehen zu lassen.
Die Einsichten, die wir in der Meditation gewinnen, können uns daran erinnern, dass der komplexe menschliche Organismus einen innerlichen Bereich umfasst, eine Erfahrung der ersten Person von Dingen und Wesen in der Welt und den Emotionen, Erinnerungen, Gedanken und Plänen. Künstliche Intelligenz, die diese Erfahrung der ersten Person nicht hat, wird umfassende Berechnungen durchführen können, wird aber nicht in einer Weise bewusst sein, die wir als Menschen verstehen können.
Einige High-Tech-Gurus im Silicon Valley üben schon Meditation, um das Gewahrsein der ersten Person zu erforschen. Möge sich diese Praxis noch weiter verbreiten!

Prof. Michael Zimmerman, Professor für Philosophie an der University of Colorado in Boulder.

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Dr. Christoph Quarch
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Sylvia Kéré Wellensiek
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